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# taz.de -- Prozess wegen Polizeigewalt in Hameln: Tritte in alle Richtungen
> Sechs Polizisten standen vor Gericht, weil ein Video sie bei einer
> heftigen Verhaftung zeigt. Doch von den Vorwürfen bleibt nicht viel
> übrig.
Bild: Das Video wurde auf Youtube hochgeladen. Doch zeigt es wirklich exzessive…
Hameln taz | Zwei Videos, sieben Zeugenaussagen und am Ende mehr Fragen als
Antworten – das ist die Bilanz eines Gerichtsprozesses in Hameln, bei dem
sechs Polizisten vor Gericht standen. Einer von ihnen wurde am Ende zu
einer Geldstrafe verurteilt: wegen Körperverletzung im Amt in einem minder
schweren Fall. Fünf wurden freigesprochen. Sauer, dass es überhaupt so weit
kommen musste, sind sie trotzdem.
„Schuld“ daran ist das Video aus der Überwachungskamera einer
Autowerkstatt. Die zeichnet am 5. März 2018, nachmittags gegen halb vier,
die Verhaftung von Aliu A. auf. Jemand lädt es bei Youtube hoch. Auf dem
Video ist zu sehen, wie ein weißer Transporter, ein Sprinter, auf der
Straße unmittelbar vor dem Gelände der Werkstatt stoppt.
Ein Mann springt heraus und beginnt zu rennen. Neben und hinter dem
Sprinter stoppen weitere Fahrzeuge, Polizeibeamte springen heraus und
setzen dem flüchtenden Mann nach. Einer der Beamten packt den Flüchtenden
und ringt mit ihm. Sofort sind sechs, sieben Kollegen bei ihm und bringen
den Mann zu Boden.
Auf dem Schotterplatz vor der Werkstatt stehen etliche Fahrzeuge, zum
Verkauf bestimmte Gebrauchtwagen, die das Geschehen am Boden nun teilweise
verdecken. Zudem ist die Qualität der Aufnahme nicht sehr hoch und sie
zerfällt beim Heranzoomen der dunkel uniformierten Gestalten in körnige
Pixel, die es unmöglich machen, zu identifizieren, wer hier mit seinen
Füßen oder Fäusten was macht.
## Der junge Polizist räumt ein falsch gehandelt zu haben
Was zu erkennen ist: Die meisten knien oder hocken bei dem am Boden
liegenden Mann. Nur ein Mann steht aufrecht, zeitweise ist noch ein Kollege
neben ihm. Der führt Trittbewegungen aus, bewegt sich dann um den am Boden
Liegenden herum, scheint noch einmal auf der anderen Seite zuzutreten.
Dieser Mann ist Tarik S. und er räumt im Prozess ein, hier falsch gehandelt
zu haben. Tarik S. ist schon länger nicht mehr im Polizeidienst. Er war es
auch nur für anderthalb Jahre, weshalb er jetzt noch rund 21.000 Euro
Ausbildungskosten abstottern muss. Er habe einsehen müssen, dass dies wohl
nicht der richtige Job für ihn ist, und sei gegangen, bevor man ihm
kündigte, sagt sein Verteidiger.
Im Prozess kommt auch zur Sprache, warum: Er leidet unter der
Borderline-Störung, so steht es in den Arztberichten, die im Gerichtssaal
verlesen werden. Die war zum Zeitpunkt des Vorfalls noch nicht
diagnostiziert, aber sehr wohl vorhanden. Die ständige Anspannung, die
damit verbunden ist, versuchte Tarik S. mit Cannabis und anderen Drogen in
den Griff zu bekommen.
Dass er bei dieser Verhaftung ausrastete, habe sehr wahrscheinlich auch
etwas mit seiner emotional instabilen Persönlichkeit und seiner
Unerfahrenheit zu tun, sagt sein Verteidiger. Dem folgt auch der Richter in
seiner Urteilsbegründung.
Dass Tarik S. hier ausrastet, hat allerdings auch etwas mit der
Vorgeschichte zu tun. Und mit der Persönlichkeit von Aliu A. Auch zu dieser
Vorgeschichte gibt es ein Video. Es wird zu Beginn des zweiten Prozesstages
im Gerichtssaal abgespielt und sorgt für einiges Geraune im Publikum.
Der Verhaftung vor der KfZ-Werkstatt ging nämlich eine dreiviertelstündige
Verfolgungsjagd voraus. Aliu A. versuchte, sich seiner Verhaftung in einer
anderen Strafsache zu entziehen, raste mit dem weißen Sprinter kreuz und
quer durch Hameln.
## Vor der Verhaftung gab es eine lange Verfolgungsjagd
Teile dieser Verfolgungsjagd hat einer der Polizisten mit seinem Smartphone
gefilmt. Zu sehen ist auf dem Video unter anderem, wie A. halsbrecherische
Fahrmanöver ausführt, auf der Bundesstraße in den Gegenverkehr rast, durch
eine enge Wohnstraße in einer Tempo-30-Zone und durch die Fußgängerzone.
Mindestens zweimal rammt er dabei Streifenwagen aus dem Weg. Neben einem
von ihnen stand Tarik S., schussbereit, die Waffe im Anschlag. Aliu A.
raste trotzdem frontal auf ihn zu, der junge Polizist rettete sich knapp
mit einem Sprung über die Leitplanke.
Es war also nicht wenig Adrenalin im Spiel, als die aus ganz verschiedenen
Abteilungen zusammengewürfelten Beamten Aliu A. vor der Autowerkstatt
endlich zu fassen bekamen.
## Welche Rolle spielten die Männer bei der Werkstatt?
Strittig ist nun, wie viel Gewalt sie hier legitimerweise angewendet haben
– und wie viel drüber war, über diesem schmalen Grat zwischen
verhältnismäßig und brutal.
Es werden im Prozess sehr viele, sehr widersprüchliche Darstellungen dazu
gehört: Wann hat Aliu A. aufgegeben? Wie heftig und wie lange hat er sich
noch gewehrt? Ab wann war er „fixiert“? Ab wann gefesselt? Und womit? Waren
die Beamten tatsächlich so damit beschäftigt, den sich windenden Mann unten
zu halten, dass sie nicht einmal bemerkt haben, wie der junge Kollege
zugetreten hat?
Die Zeugen auf dem Gelände der Werkstatt haben den Zugriff als übertrieben
und brutal empfunden und geschildert. Allerdings widersprechen sich ihre
Darstellungen im Gerichtssaal zum Teil erheblich. Und: Ihre eigene Rolle
wird im Prozess immer wieder infrage gestellt.
Klar ist, dass Aliu A. mit mehr als einem der Männer, die da auf dem
Werkstattgelände herumschlendern und mit dem Blick zur Straße auf
irgendetwas warten, bekannt war. Einen der Zeugen hat er während seiner
halsbrecherischen Fahrt angerufen. Seine Flucht führte ihn gleich zweimal
an dem Gelände vorbei.
## Aliu A. bekommt ein Schmerzensgeld
Standen die Männer dort bereit, um ihm bei der Flucht zu helfen, wie einer
der Verteidiger mutmaßt? Vielleicht, um den Weg der Verfolger zu
blockieren? War das Verbreiten der Aufnahmen aus der Überwachungskamera ein
Racheakt, um den Polizisten wenigstens so doch noch einen reinwürgen zu
können?
Nichts davon wird sich im Gericht abschließend klären lassen. Deshalb kommt
der Richter zu seinem milden Urteil und den Freisprüchen. Einige der
Beamten äußern sich im und am Rande des Prozesses trotzdem erbittert.
Zweieinhalb Jahre bedrückte sie dieses Verfahren. Zweieinhalb Jahre, in
denen sie keine Beurteilungen bekamen und keine Beförderungen. „Da bleibt
immer etwas kleben“, sagt einer der Polizisten. „Das setzt doch auch alles
ein total falsches Signal“, sagt sein Kollege.
Aliu A., der hier als Nebenkläger aufgetreten ist, grinst schief und zuckt
die Achseln. Auf 750 Euro Schmerzensgeld hat er sich mit dem
Hauptangeklagten geeinigt. Bleibende Schäden konnte er nicht belegen.
9 Sep 2020
## AUTOREN
Nadine Conti
## TAGS
Polizei Niedersachsen
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Polizeigewalt
Hameln
Polizeigewalt
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
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