# taz.de -- Polizeiskandal in Belgien: Kabelbinder und Hitlergruß | |
> Ein renitenter Fluggast kommt in Gewahrsam. Die Polizei stellt ihn mit | |
> brutalen Mitteln ruhig. Vier Tage später wird Jozef Chovanec für tot | |
> erklärt. | |
Bild: Brüssel, Ende August: Menschen protestieren gegen die Polizeigewalt im F… | |
BRÜSSEL taz | Als [1][David Sassoli], der italienische Vorsitzende des | |
Europäischen Parlaments, am vergangenen Montag in Brüssel die Sitzungswoche | |
eröffnet, geschieht dies mit einem eindringlichen Appell: „Die Wahrheit | |
muss ans Licht kommen“, fordert Sassoli. Und berichtet, viele Menschen | |
hätten ihn auf „den Fall des slowakischen Bürgers Jozef Chovanec“ | |
hingewiesen. Er bekundet dessen Hinterbliebenen seine Anteilnahme, bekennt | |
sich zu den Menschenrechten als „Schlüsselwert“ der EU und verspricht, die | |
Justiz-Kommission des Parlaments werde den Fall Chovanec auf die Agenda | |
setzen. | |
Nicht alle EU-Parlamentarier werden den Fall kennen. In Belgien allerdings | |
schlägt der ungeklärte Tod von Jozef Chovanec hohe Wellen. | |
Am 23. Februar 2018 liegt der slowakische Bürger auf dem kalten Asphalt des | |
Flughafens von Charleroi. Fünf Polizisten fixieren ihn, weitere stehen | |
bereit. Es ist früher Abend, Videoaufnahmen zeigen noch einen Streifen | |
Dämmerung am Horizont. Chovanec ist 38 Jahre alt, verheiratet, hat eine | |
kleine Tochter und besitzt eine Firma, die Leiharbeiter aus seinem | |
Herkunftsland auf belgische Baustellen vermittelt. Eigentlich soll Chovanec | |
gleich abheben, in Richtung der slowakischen Hauptstadt Bratislava, wohin | |
er regelmäßig pendelt. Doch man holte ihn aus dem Flugzeug, kaum dass er | |
sich hingesetzt hatte. Ein Mitreisender wird später sagen, Chovanec habe | |
aggressiv gewirkt. | |
## Mit dem Kopf gegen die Wand | |
Andere beschreiben sein Verhalten am Flughafen als verwirrt. Ann Van de | |
Steen, die Anwältin seiner Frau Henrieta, berichtet, Jozef Chovanec habe | |
an psychischen Problemen gelitten und Medikamente wegen einer | |
Schilddrüsenfehlfunktion benötigt. In angespanntem, gestresstem Zustand | |
habe er seine Jacke mit Bordkarte und Pass versehentlich im Wartebereich | |
hängen lassen. Man habe ihn auf dem Flughafen von Beginn an als Randalierer | |
behandelt und nicht wie jemanden, der Hilfe brauche, beklagt sie. | |
Hilfe bekommt Jozef Chovanec in dieser Nacht nicht. Er verbringt sie in | |
einer Polizeizelle, wo sich sein Zustand offenbar verschlechtert. Aufnahmen | |
aus einer Überwachungskamera in Schwarz-Weiß zeigen, dass er um 4:24 Uhr | |
damit beginnt, mit dem Kopf gegen die Wand seiner Zelle zu schlagen. Er | |
sinkt auf den Boden, steht wieder auf und tänzelt neben seiner Pritsche | |
nervös auf der Stelle. Als das Licht angeht, sitzt er auf der Pritsche. Man | |
sieht nun, dass Chovanec’ weißes T- Shirt von Blut verschmiert ist. Erneut | |
schlägt er den Kopf gegen die Wand, sein Gesicht ist jetzt blutüberströmt. | |
Um kurz nach halb fünf betreten Polizisten seine Zelle. Auch mit ihrem | |
Plastikschild kostet es offenbar einige Mühe, den sich wehrenden kräftigen | |
Mann unter Kontrolle zu bekommen. Sie fixieren seine Hände und Füße mit | |
Kabelbindern und drücken ihn auf die Liege. Jozef Chovanec wirkt den | |
Bildern der Überwachungskamera zufolge zu diesem Zeitpunkt ruhig. Als man | |
seinen Körper über die Liege schiebt, erscheint dieser fast steif. Um | |
viertel vor fünf Uhr morgens ziehen die Polizisten eine schäbige blaue | |
Decke über Chovanec und wickeln sie stramm um seinen Kopf und Oberkörper. | |
Dann setzt sich einer der Beamten mit seinem vollem Gewicht auf ihn, vier | |
andere stützen ihn und pressen Jozef Chovanec auf die Liege. Erst jetzt | |
beginnt sich Chovanec unter der Decke zu winden. Zwei weitere Beamte kommen | |
als Verstärkung hinzu. | |
## Gewalt in der Zelle, Spaß der Beamten | |
Während die einen Polizisten Chovanec fixieren, scheinen sich andere Beamte | |
bestens zu amüsieren. Auf dem Video ist zu sehen, wie einer grinsend mit | |
Zeige- und kleinem Finger ein Teufelszeichen macht. Der Kollege, der zuvor | |
auf Chovanec kniete, lacht breit. Eine Beamtin mit blondem Pferdeschwanz | |
nimmt Haltung an, reckt den Arm zum Hitlergruß und deutet dabei mit zwei | |
Fingern über der Lippe einen Stummelbart an. Ein Polizeibeamter begründet | |
diese Geste später damit, dass Chovanec Deutsch „oder eine Sprache, die dem | |
ähnelt“ gesprochen habe, und die Polizisten damit an Deutsche in | |
Louis-de-Funès- Filmen erinnert habe. | |
Um 5.06 Uhr sieht man gelb gekleidete Sanitäter in der Zelle. Der Griff | |
wird gelockert, Jozef Chovanec bekommt ein Beruhigungsmittel gespritzt. Als | |
sich kurz danach herausstellt, dass er keinen Herzschlag mehr hat, dreht | |
man ihn auf den Rücken, zieht sein blutiges T- Shirt hoch und reanimiert | |
ihn. Chovanec wird in ein Krankenhaus in Charleroi gebracht. Dort wird vier | |
Tage später, am 27. Februar 2018, sein Tod festgestellt. | |
Seine Witwe, Henrieta Chovanec, vermutet, dass ihr Mann schon in der Zelle | |
am Flughafen gestorben ist. Mehr als zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, | |
Ende August 2020, beschließt die Witwe, die Aufzeichnungen aus der | |
Überwachungskamera, die ihr von den Behörden zugänglich gemacht worden | |
waren, an die Öffentlichkeit zu bringen. Zu lange hat sie auf eine | |
Rekonstruktion des Falls gedrängt, zu groß sind die Fragezeichen hinter | |
dem, was sie umtreibt: Warum dauerte es nach der Festnahme beinahe vier | |
Stunden, bis ein Arzt bei Jozef Chovanec erschien? Warum stellte dieser | |
ohne eingehende Untersuchung ihres Mannes ein Attest aus, das den Arrest | |
ermöglichte? Warum kamen die Sanitäter so spät, und wie konnte eine von | |
ihnen sagen, man werde Chovanec eine Dosis verabreichen, und wenn man ihn | |
verlöre, wäre das „kein großer Verlust“? | |
## Schockwellen in Belgien | |
Die Videobilder lösen Schockwellen in Belgien aus. Täglich warten Medien | |
mit neuen Details auf, die neben den gewaltsamen Umständen von Jozef | |
Chovanec’ Tod auch dessen Behandlung seitens der belgischen Justiz und | |
Politik betreffen. | |
Der Polizeibericht etwa geht präzise darauf ein, wie der Mann sich am | |
Flughafen heftig gegen seine Festnahme wehrte. Die Vorgänge in der Zelle | |
aber werden weit weniger detailliert beschrieben. Kein Wort davon, dass | |
Chovanec’ Kopf in eine Decke gewickelt war und dass ein Beamter 16 Minuten | |
lang auf seiner Brust saß. Ein zweiter Bericht taucht auf, der mehr ins | |
Detail geht. | |
Die öffentliche Empörung führt zu zwei Rücktritten: Zuerst muss [2][André | |
Desenfants], Vize-Chef der Föderalen Polizei, seinen Hut nehmen. Er hatte | |
sich darüber beklagt, dass er nicht über das Auftreten der Beamten | |
informiert worden sei. Es folgt der Direktor der Flughafenpolizei, Danny | |
Elst. Auch [3][Jan Jambon], heute Ministerpräsident der Region Flandern und | |
im Jahr 2018 Innenminister, gerät unter Druck. Ende August lässt er wissen, | |
man habe ihn „nie, mit keinem Wort“ über den Fall Chovanec unterrichtet – | |
um wenig später zuzugeben, schon im Jahr 2018 deshalb den slowakischen | |
Botschafter Stanislav Vallo getroffen zu haben. Weil er sehr beschäftigt | |
gewesen sei, habe er sich aber nicht an das Gespräch erinnern können, | |
verteidigt sich Jambon. | |
Henrieta Chovanec’ Anwältin Ann Van de Steen berichtet am Telefon von dem | |
„Horror“, den sie empfand, als sie erstmals die Videoaufnahmen sah. Dass | |
diese sie an Zustände in einem Kriegsgebiet denken ließen, dass sie | |
Belgiens unwürdig seien und ihrem Glauben an den Rechtsstaat einen Dämpfer | |
versetzt hätten. | |
Für die zuständige Staatsanwaltschaft in Mons ist es bis heute nicht | |
erwiesen, dass der gewaltsame Polizeieinsatz die Ursache für Chovanec’ Tod | |
ist. „Wahnsinn“, kommentiert Ann Van de Steen. Auch dass die gerichtliche | |
Untersuchung zu Jahresbeginn schon abgeschlossen werden sollte, empört sie. | |
„Dank der großen Aufmerksamkeit hoffe ich nun, dass wir Anfang 2021 wissen, | |
was die Todesursache war“, sagt Van de Steen. | |
An den Ermittlungen beteiligt wird künftig auch ein medizinischer | |
Sachverständiger aus Chovanec’ Heimatland – auf Initiative der slowakischen | |
Präsidentin Zuzana Čaputová. Um das Ansehen Belgiens ist es in der Slowakei | |
ziemlich schlecht bestellt. | |
Aus diesem Grund hat der hohe Justizrat, der das Funktionieren der | |
belgischen Justizorgane sicherstellt, eigene Ermittlungen angekündigt. Noch | |
nie ist dies in einem noch nicht abgeschlossenen Fall angeordnet worden – | |
ein Indiz für die Sprengkraft, die die Angelegenheit inzwischen hat. | |
Christian Denoyelle, der Vorsitzende, begründete das Vorgehen mit | |
„Spekulationen“ über ein organisiertes Vertuschen der Details. Die | |
internationale Reputation Belgiens, von Justizskandalen ohnehin befleckt, | |
steht auf dem Spiel. | |
Unter Druck steht in diesen Wochen freilich auch die slowakische Regierung. | |
Anfang September hatte ein slowakisches Gericht den Angeklagten im Mordfall | |
des Investigativjounalisten [4][Jan Kuciak] freigesprochen. Einen Tag zuvor | |
forderte das Parlament in Bratislava, dass die EU sich der Sache annehme. | |
Zuständig wäre dafür ein Belgier: Justizkommissar Didier Reynders, der im | |
Februar 2018 zufälligerweise Außenminister war. | |
16 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190627IPR55410/david-sa… | |
[2] https://newseu.cgtn.com/news/2020-08-21/Belgian-police-chief-steps-down-aft… | |
[3] https://www.vrt.be/vrtnws/de/2020/08/29/mp-jan-jambon-klaert-was-nach-dem-t… | |
[4] /Mord-an-Journalist-Jan-Kuciak/!5706962/ | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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