Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kampf gegen den Klimawandel: Zwischen Verrat und Verantwortung
> Fridays for Future debattieren, ob Aktivist:innen bei Wahlen kandidieren
> sollen. Viele „Seitenwechsler“ von früher raten ihnen dazu.
Bild: Jakob Blasel von Fridays for Future will für die Grünen in den Bundestag
„Ich habe da ein Déjà-vu-Erlebnis“, sagt Jo Leinen, wenn man ihn nach der
Kandidatur von Fridays-for-Future-Aktivist:innen für den Bundestag fragt.
„Bei uns gab es damals die gleichen herzzerreißenden Debatten, ob es Verrat
sei, in die Politik zu gehen, oder ob es ins Leere geht, nur zu
demonstrieren.“
Leinen entschied sich 1985 für den Seitenwechsel: Als [1][Wortführer der
Friedens- und Anti-AKW-Bewegung] beim Bundesverband Bürgerinitiativen
Umweltschutz (BBU) wurde er im Saarland für die SPD Umweltminister und saß
danach 20 Jahre im Europaparlament. „Man schaut im Amt mit Wehmut auf die
Freiheit, die man vorher hatte“, sagt Leinen heute. „Aber wer etwas
verändern will, der kann nicht immer nur dagegen sein. Das werden auch die
Fridays merken.“
Ein gutes Jahr vor der nächsten Bundestagswahl steht nun auch die jüngste
Umweltbewegung in Deutschland vor dieser Debatte: weiter Druck für
Klimaschutz von der Straße machen oder im Parlament Mehrheiten suchen? Oder
beides?
Vergangene Woche jedenfalls erklärte Jakob Blasel, Ex-Bundessprecher von
Fridays for Future (FFF), er wolle bei den Grünen in Schleswig-Holstein
kandidieren.
## Luisa Neubauer zögert noch
Die Debatte ist eröffnet. Auch aus Magdeburg drängt ein FFF-Aktivist in den
Bundestag: Urs Liebau. Der 25-Jährige tritt „als Kandidat meiner Partei
an“, sagt [2][Liebau, der bei den Grünen ist], der taz. „Fridays for Future
stellt keine Kandidaten auf.“ Andere Aktivist:innen reden ebenfalls über
Kandidaturen. Jüngstes Beispiel: Luca Samlidis von FFF Bonn verhandelt mit
der SPD. Das bekannteste Gesicht der Proteste, [3][Luisa Neubauer], dagegen
will sich „noch nicht zu einer etwaigen Bundestagskandidatur“ für die
Grünen äußern.
Urs Liebau jedenfalls glaubt, dass es für die junge Klimabewegung eine
Chance sein könnte, wenn einige der Aktivist:innen parlamentarische
Verantwortung tragen. „Schließlich muss es darum gehen, möglichst viel
Klimaschutz in den politischen Prozess einzubringen“, findet der
Magdeburger. Als Mitglied im Stadrat habe er die Erfahrung gemacht, dass
junge Menschen einen Unterschied machen könnten. „Der Stadtrat hat auf
unseren Druck hin beschlossen, Magdeburg bis 2035 klimaneutral zu machen.“
Dass das über einen Sitz im Bundestag am besten geht, bezweifeln viele
seiner Mitstreiter:innen. Sie befürchten Karrierismus und Ausverkauf der
Ideale. Wer im Parlament sitzt, muss schließlich Kompromisse machen –
wahrscheinlich auch solche, die dann hinter wissenschaftlich begründeten
Notwendigkeiten beim Klimaschutz zurückbleiben. Das gilt erst recht, wenn
man sich wie Liebau oder Blasel möglicherweise bald in einer schwarz-grünen
Regierungsfraktion wiederfindet.
Für die Grünen findet ihr Bundesgeschäftsführer Michael Kellner den Ansturm
der jungen Klimaschützer „super“. „Für uns als Bewegungspartei ist das …
große Bereicherung, gerade weil es bei vielen jungen Leuten so eine
Politisierung gibt.“ Eine Reihe von FFF-Aktiven sind Grünen-Mitglieder und
engagieren sich in der Grünen Jugend oder kommunal. Auch deshalb hielt sich
die Fraktion anders als etwa die Linke demonstrativ mit offiziellen
hochrangigen Gesprächen zurück: FFF sollten nicht als Tarnorganisation der
Grünen erscheinen.
## Die Angst vor Kompromissen
Aber wie schwierig wäre eine Fraktion zu führen, in der von den jungen
Leuten radikale Ökoforderungen erhoben werden? Als Greta Thunberg und Luisa
Neubauer am 20. August [4][bei Bundeskanzlerin Merkel zum Gespräch] waren,
forderten sie das sofortige Ende von Investitionen in fossile Energien.
Kann so etwas in Regierungsverantwortung gutgehen? Kellner ist
zuversichtlich: „Kompromissfähig muss jeder sein, nicht nur die jungen
Leute. Und Divestment fordern wir bereits seit Langem. Wer für seine
Positionen wirbt, muss sie parteiintern aber auch durchsetzen können, ehe
sie Wirkung entfalten.“
Fragt man Quereinsteiger aus der Umweltbewegung nach ihren Erfahrungen,
sind sie zumeist positiv – allerdings finden sich auch kaum Öko-Kämpfer,
die eine solche konkrete Einladung abgelehnt hätten, weil ihnen die Straße
erfolgreicher erschien als das Parlament.
„Man kann in Parteien und Parlamenten bei den konkreten Schritten viel mehr
verändern als beim Protest auf der Straße“, sagt [5][Sven Giegold], der
2009 von der globalisierungskritischen Organisation Attac für die Grünen
ins Europaparlament wechselte. „Draußen“ könne man neue Gedanken wie dama…
die Kritik an der Globalisierung oder jetzt radikalen Klimaschutz besser
groß machen, „drinnen“ könne man die kleinteiligen Schritte zur Umsetzung
beeinflussen. „Es gibt kein Patentrezept und schon gar nicht eines für
alle“, ist Giegolds Erfahrung, „man braucht den Druck von draußen und von
drinnen.“
## Zwang zum Gespräch mit Andersdenkenden
„Ich habe im Amt einfach weitergemacht“, sagt Monika Griefahn. Die
Mitbegründerin von Greenpeace Deutschland wurde als Parteilose 1990 unter
Gerhard Schröder in Niedersachsen Umweltministerin. „Für mich war das kein
Seitenwechsel. Ich habe Dinge umgesetzt, die ich vorher gefordert hatte,
etwa bei der Müllvermeidung oder den erneuerbaren Energien.“
Griefahn saß später für die SPD im Bundestag. Am 13.September will sie für
die Sozialdemokraten Oberbürgermeisterin von Mülheim an der Ruhr werden.
„Dinge zu bewegen, das beginnt mit einzelnen Leuten im Parlament, die sich
Mehrheiten suchen, wie damals beim EEG durch Hermann Scheer.“ Die Fridays
im Bundestag „müssten lernen, dass nicht nur ihre Meinung allein zählt, da
muss man kämpfen“.
Ähnlich klingt das von [6][Sarah Wiener], der prominenten Köchin und
Ernährungsaktivistin, die seit 2019 für die Grünen im Europaparlament
sitzt: „Du lernst wahnsinnig viel und bist permanent am Rotieren“, sagt
sie. „Als Aktivistin kannst du gegen alles sein, aber als Politikerin musst
du mit denen kommunizieren, die anders denken.“ Manche Politiker:innen
seien besser beim Kommunizieren, andere schrieben gute Gesetze oder machten
die Arbeit im Hintergrund. „Es ist wie auf dem Acker: je mehr Vielfalt,
desto besser“, so Wiener.
Auch Hermann Ott würde sich über FFF im Bundestag freuen: „Mehr Wut und
Leidenschaft in den Klimadebatten können nicht schaden“, sagt der Jurist,
der von 2009 bis 2013 vom Wuppertal-Institut für die Grünen ins Parlament
wechselte. Das sei zwar eine „Knochenmühle“, sagt er, aber man lerne dort
sehr viel. Allerdings brauche man mindestens zwei Legislaturperioden, um
etwas zu bewirken: „Die ersten zwei Jahre orientiert man sich, das letzte
ist Wahlkampf.“
## „Kandidiert – auch bei CDU, CSU, SPD und FDP“
Ott selbst verpasste den Wiedereinzug 2013, weil sein Listenplatz nicht
ausreichte – und ging zur außerparlamentarischen Klimalobby. Mit seiner
Organisation ClientEarth treibt er Prozesse gegen Klimasünder voran und
macht Öko-Lobbyismus bei Gesetzen. FFF-Aktivisten im Parlament? „Je mehr,
desto besser!“, sagt Ott. Und dann sollten sie Koalitionen bilden, „vor
zehn Jahren waren wir Klimaschützer im Bundestag ja noch Einzelkämpfer“.
Das findet auch [7][Heinrich Stößenreuther]. Der Initiator von German Zero,
einer Kampagne für Klimaneutralität bis 2035, twitterte zur Debatte über
die Klima-Aktivist:innen im Bundestag: „Kandidiert, was das Zeug hält, aber
nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei CSU, CDU, SPD und FDP!“
Die Volksfront zum Klima lässt allerdings noch auf sich warten. Von
FFF-Kandidaturen bei Union und FDP ist bisher noch nichts bekannt.
Mitarbeit: Katharina Schipkowski
30 Aug 2020
## LINKS
[1] /Essay-Parlamentarisches-Weltgremium/!5587030
[2] https://gruene-fraktion-magdeburg.de/ueber-uns/fraktionsmitglieder/expand/7…
[3] /Thunberg-und-Neubauer-im-Kanzleramt/!5708566
[4] /Thunberg-und-Neubauer-im-Kanzleramt/!5708566
[5] /EU-Gruener-ueber-Wende-in-der-Finanzpolitik/!5686474
[6] /Gutes-aus-dem-Garten/!5598945
[7] /Kampagne-fuer-Klimaneutralitaet-bis-2035/!5671596
## AUTOREN
Bernhard Pötter
Susanne Schwarz
## TAGS
Schwerpunkt Fridays For Future
Schwerpunkt Klimawandel
klimataz
Aktivismus
Parlament
Bündnis 90/Die Grünen
Schwerpunkt Fridays For Future
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Fridays For Future
Bündnis 90/Die Grünen
Schule
Schwerpunkt Fridays For Future
Greta Thunberg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sven Giegold zum Grundsatzprogramm: „Linker und anschlussfähiger“
Mit dem neuen Grundsatzprogramm der Grünen ist Sven Giegold insgesamt
zufrieden. Die Kritik aus Reihen der Klimabewegung weist er zurück.
AktivistInnen gründen Politplattform: Wie einst die Grünen
Junge Klimapolitiker*innen vernetzen sich, um leichter in die
Parlamente einziehen zu können. Enttäuscht sind einige von die Grünen.
Klimaschutz und Fridays for Future: Gefährliche Fixierung auf 1,5 Grad
Die Klimabewegung sollte nicht ein unerreichbares Ziel zum einzigen
Entscheidungsmaßstab machen. Sonst wird sie sich nie über Erfolge freuen
können.
Strategien gegen Klimawandel: Breite Bewegung wird gebraucht
Die Klimakrise unterscheidet nicht zwischen Bundestagsrede oder
Baggerbesetzung. Wer sich für eine klimagerechte Welt einsetzt, ist Teil
der Bewegung.
FFF-Aktivistin über Zusammenarbeit: „Mehr Aussicht auf Erfolg“
Fridays for Future (FFF) Oldenburg hat zusammen mit der Stadt einen
Leitantrag erarbeitet, der Oldenburg klimaneutral machen soll. Klappt das?
Annalena Baerbocks Autopläne: Das grüne Dilemma
Ausgerechnet die Grünen wollen die Zulieferer der Autoindustrie retten. Das
hat wenig mit ihren Grundsätzen zu tun, ist aber trotzdem richtig.
Umweltschutz an Schulen in Deutschland: Eine Honigsemmel vom Imker
Auch dank Fridays For Future sind Umweltschulen sehr beliebt. Bei den
Labels für nachhaltige Bildungsstätten gibt es aber große Unterschiede.
Aktivisten treten zur Wahl an: Fridays for Bundestag
Mehrere Aktivist*innen der Klima-Bewegung Fridays for Future treten zur
Bundestagswahl an. In einigen Basisgruppen kommt das nicht gut an.
Greta Thunberg bei der Kanzlerin: Zwei Frauen, die sich ähneln
Sowohl Kanzlerin Merkel als auch Aktivistin Thunberg wollen den
Klimakollaps verhindern. Wie das konkret klappen kann, können aber beide
nicht sagen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.