Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Bodenseefischer in Not: Nicht sauber, sondern rein
> Wilhelm Böhler ist Bodenseefischer. Wenn er die Netze einholt, zappeln
> immer weniger der begehrten Felchen darin. Denn das Wasser ist viel zu
> klar.
Bild: Bodenseefelchen werden immer seltener und magerer
Die Zahlen sind brisant und im Detail noch nicht veröffentlicht. Doch die
bayerischen Bodenseefischer sind schon mal vorgeprescht und haben die
entscheidende Ziffer auf ihre Internetseite gepackt. Jetzt ist sie raus:
204 Tonnen.
So viel haben alle Bodenseefischer zusammen im vergangenen Jahr am großen
Obersee gefangen. So wenig müsste es eigentlich heißen. 204 Tonnen Fisch,
das ist nicht nur mickrig, das ist historischer Tiefststand. Auch am
kleineren Untersee werden die Zahlen nicht besser ausfallen. Damit steht
fest: 2019 war für die 70 verbliebenen Fischer am größten deutschen See das
schlechteste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen, also seit 110 Jahren.
Davor hatten die Jahre 2015 und 2018 die Negativstatistik angeführt. Es
geht immer noch weiter bergab für Blaufelchen, Barsch, Seeforelle und Co.
Und für die Fischer, die letzten ihrer Art.
Zwei von ihnen, Wilhelm Böhler aus Hemmenhofen am Untersee und Stefan
Riebel von der Insel Reichenau, stehen in Böhlers Fischerei und machen
ihrer Wut und Verzweiflung Luft. Hinter ihnen hängen ein Dutzend
feingewirkter Netze und, nicht ohne Symbolkraft, zwei Rettungsringe. Böhler
ringt um Worte, die Stimme vibriert, die Botschaften sind kurz und heftig.
Es geht – natürlich – vor allem um die Felchen, die berühmten, großartig…
Vorzeigefische des Bodensees. Der Bestand schrumpft in rasantem Tempo. Die
jetzt im Sommer gefangenen Fische müssten eigentlich kugelrund und fett
sein, doch sie sind mager und ausgezehrt. „Dia hont nix zom Fressa!“,
platzt es aus Böhler heraus. Die Fische hungern, der See bietet zu wenig
Nahrung, vor allem kaum noch Plankton. Deshalb wachsen sie langsamer,
bleiben kleiner, vermehren sich schlecht. Beim Ausnehmen wird die Hungerkur
sichtbar: Magen und Därme der Fische sind meistens leer, so leer wie oft
die Netze der Fischer.
Das Jahr 2019 war gleich in doppelter Hinsicht ein historisches Jahr. Die
stark zurückgegangenen Fänge sind nicht nur Negativrekord. In der Statistik
wurden die Felchen erstmals vom Barsch (Egli) überholt, der jetzt im
Ranking die Nummer eins am See ist. Und noch ein Novum: Im Jahr 2018 war
die jährliche Laichfischerei der Felchen komplett ins Wasser gefallen, das
Wetter war zu stürmisch. Beim Laichfischen werden im Winter die mit Laich
vollgestopften Weibchen gefangen und „abgestreift“, um ihre Eier zu
gewinnen. Es ist eine Art Fischmassage, bei der man mit den Händen den
Laich aus dem Bauch herausdrückt. Die Eier werden in großen Bottichen
gesammelt – rötlich glänzend wie kostbare Perlen. Sie werden befruchtet und
bleiben in den Brutanstalten, wo Larven und Jungfische, fern von allen
Räubern, geschützt heranwachsen, bis sie als „Besatzmaßnahme“ zurück in…
See kommen.
Schon im 19. Jahrhundert wurden am Bodensee die ersten Felchen besetzt.
Damals konnte man die Jungfische buchstäblich mit Seewasser füttern.
Lichtquellen am Ufer lockten Plankton an, man musste das Wasser nur noch
abpumpen und an die Fischbrut verteilen. Heute müssen selbst Jungfische in
der Brutanstalt mit zugekauftem Futter versorgt werden.
## Die Fischer: zu alt und nicht systemrelevant
Was die Fischer am meisten trifft, ist das Gefühl des Ausgeliefertseins.
Stefan Riebel schüttelt immer wieder den Kopf: „Ich hab’s aufgegeben“, s…
er, es sei sinnlos, die Politik, Behörden oder Öffentlichkeit überzeugen zu
wollen. Jedes Jahr hätten die Fischer weniger im Netz, jedes Jahr geben
mehr den Beruf auf. Der Altersdurchschnitt liegt inzwischen bei über 60
Jahren – zu alt, um in der digitalen Informationswelt der neuen sozialen
Medien Remmidemmi zu machen. Außerdem ist die Fischerei am Bodensee weder
systemrelevant noch stellt sie eine wichtige Wählergruppe dar. Hart
formuliert: ein Auslaufmodell. Ohnmächtig müssen die Fischer zusehen, wie
die wunderschöne Seenlandschaft ihre wichtigsten Bewohner verliert: die
Fische. Vor allem die Felchen.
Dabei gehören sie zum Bodensee wie die Kuh zur Alm, der Schlapphut zu Udo
Lindenberg. Blaufelchen sind eine von vier Felchenarten, emsige Schwimmer
mit richtig muskulösem Fleisch. Anders als Sand- und Silberfelchen leben
Blaufelchen nur in wenigen europäischen Seen in größeren Beständen. Hier am
Bodensee hatten sie bisher ihr Wohnzimmer, ihr größtes Verbreitungsgebiet,
ein Alleinstellungsmerkmal auch für den Tourismus.
Feriengäste, die jetzt im Sommer am Seeufer in der Sonne sitzen, wollen vor
allem eines: Bodensee gucken und Fisch essen. Das können sie auch. Doch
drei von vier Bodenseefischen kommen inzwischen aus Finnland und
Kasachstan, aus Island, Russland oder vom Gardasee. Fischhändler verteilen
die per Flugzeug und Lkw importierten Fische an die Gastronomie. Auftauen,
braten, rauf auf den Teller, fertig ist der Bodenseefisch. Manchmal steht
verschämt „nach Bodenseeart“ auf der Speisekarte. Doch die meisten
Restaurants lassen die Touristen in dem Glauben, der verspeiste Bissen sei
vor Kurzem noch vergnügt im Bodensee geschwommen. Zander wird jetzt überall
angeboten, ein im See ausgesprochen seltener Fisch.
„Früher“, sagt Wilhelm Böhler, „haben wir allein am Untersee in guten
Jahren mehr als 200 Tonnen Felchen gefangen, jetzt sind wir bei maximal 40
Tonnen.“ Die Geschichte, die Böhler und Riebel erzählen, erinnert ein wenig
an die biblischen Plagen, es ist die Geschichte vom Untergang eines
jahrhundertealten Berufs. Die Plagen: viel zu sauberes Wasser, der
Kormoran, der Stichling, die Quaggamuschel, die Erdüberhitzung, die
Klärwerke, die Politik. Wobei Wasser, Klärwerke und Politik meist in einem
Atemzug als gemeinsames Übel benannt werden.
Auch Kormoran, Stichling und Quaggamuschel könnte man in einen Topf werfen
– die neue natürliche Pest. Kurz gesagt: Alle drei haben sich heftig
vermehrt und bedrohen die Fischbestände. Die Kormoranschwärme fressen
inzwischen fast genau so viel Fisch, wie die Berufsfischer fangen, während
die Invasion der Quaggamuscheln die wenigen Algen aus dem Wasser filtert.
Und die Stichlinge, die als Speisefisch nicht infrage kommen, fressen junge
Felchen. Alle drei sind, genau wie die Klimaveränderung, zusätzliche Übel
zur eigentlichen Hauptplage: die fast sterile Wasserqualität.
## Übertriebene Sauberkeit?
Der Kampf für sauberes Seewasser hatte vor 50 Jahren Fahrt aufgenommen.
Damals war der Bodensee zwar keine Kloake, aber alles andere als sauber.
Der See drohte umzukippen. Zu viel Dünger, zu viel Arznei, zu viel
Waschpulver, zu viel Dreck. Der Östrogengehalt soll so hoch gewesen sein,
dass die Fischbestände verweiblichten. Nur noch zwei von fünf Fischen waren
Männer. Der Phosphatgehalt lag bei fast 90 Mikrogramm je Kubikmeter Wasser.
Die Fische fanden zwar reichlich Nahrung, doch das Wachstum der Algen war
so heftig, dass sie auf den Grund sanken und den Fischlaich erdrückten. Das
alles im größten Trinkwasserspeicher Europas für fünf Millionen Menschen.
Also wurde der Gewässerschutz verschärft, Kläranlagen im Einzugsgebiet
wurden ausgebaut, Reinigungsstufen zur Phosphatfällung installiert. Als
Folge ging der Eintrag von Nährstoffen, insbesondere von Phosphaten, immer
weiter zurück. Ein Ende der Reinigungswut ist nicht in Sicht. „Heute werden
die Kläranlagen erneut aufgerüstet“, heißt es auf der Homepage der
Bodensee-Wasserversorgung.
Rückstände aus der Industrie und aus Arzneimitteln sollen noch besser
entfernt werden, aber auch der Phosphatgehalt könnte weiter schwinden und
damit auch das Nährstoffangebot. „Die hören einfach nicht auf, es geht
immer so weiter“, sagt Böhler und blickt hilfesuchend zur Decke. Warum kann
der Bodensee nicht auf 10 Mikrogramm eingestellt werden, heißt es in einem
Positionspapier der Fischer. Das würde für die Fische reichen und der See
wäre trotzdem sauber.
Inzwischen ist der Phosphatgehalt, je nach Gebiet, auf 5 bis 7 Mikrogramm
gesunken. Der See, klagen die Fischer, sei fast klinisch rein. „Die
Menschheit übertreibt es immer, zuerst mit der Verschmutzung, dann mit der
Reinigung.“ Das beinahe sterile Wasser bringe keine Vorteile mehr, gesunder
Menschenverstand sei jetzt gefragt. Wilhelm Böhler formuliert es so: „Mit
Riesenaufwand wird immer mehr Phosphat ausgefällt, das wird dann teuer
entsorgt, um gleichzeitig mit Flugzeugen aus immer größeren Entfernungen
Fische einzufliegen, die als Bodenseefisch verkauft werden.“ Das sei nicht
nur Betrug. Das sei auch für Umwelt und Klima blanker Irrsinn.
Eine Besuchergruppe ist zum See gelaufen, die Sonne ist herausgekommen.
Sanft wiegt sich das Schilf, das Wasser kräuselt sich im Sommerwind, zwei
Enten stecken den Kopf ins Wasser. Am Ufer im feinen Sand liegt Böhlers
Boot. „Das ist kein Boot, das ist eine Gondel“, spottet der Kollege von der
Insel Reichenau. Es ist ein kleines Boot, aber ausreichend für die ohnehin
schrumpfende Beute. Böhler fängt seine Fische nach alttestamentarischem
Vorbild. Er fährt raus, wirft seine Kiemennetze ins Wasser und holt sie
etliche Stunden später wieder rein. Einzige Technik ist der Außenborder.
Böhler besitzt weder Handy noch Unterwasserdrohne noch sonstiges Gerät zum
Orten der Fische. Dafür hat er Erfahrung und Leidenschaft für seinen Beruf,
man könnte mit etwas Pathos von Liebe reden. Vier Gastronomiebetriebe hat
er früher beliefert, jetzt nur noch einen: den Grünen Baum in Moos.
Dort regiert Patron Hubert Neidhart, noch so ein Bodenseeverrückter, der
jeden Fisch mit Vornamen kennt. Neidhart, Mitglied der Köchevereinigung von
Slow Food und engagiert bis in die grauen Haarspitzen, ist einer der
wenigen, der den Fischern auch die Weißfische abkauft, jene unbeliebten
grätenreichen Flossentiere. Man muss mit diesen Fischen in der Küche
umgehen können. Neidhart kann es. Er kocht Fischklößchen, Fischcremes und
seine berühmte Fischsuppe nur aus Weißfischen. Jetzt steht das Süppchen vor
uns und attackiert den Gaumen mit markanter Schärfe. Es wird begleitet von
klassischer Knoblauchcreme und angerösteten Weißbrotcroutons. Und es macht
mit dem intensiv feinen Fischgeschmack seinem Ruf alle Ehre. Die Gäste
löffeln im Takt, Neidhart strahlt und zippelt an seiner Baskenmütze.
Weißfische als Ersatz fürs Felchen? Die Antwort liefert das Preisschild.
Für das Kilo Weißfische werden von der Gastronomie nur 2,50 Euro bezahlt,
für Blaufelchen sind es 20 bis 25 Euro. Der Grüne Baum hat auch Karpfen und
vor allem Welse im Angebot, die hier bis zu 20 Kilo auf die Waage bringen.
Festes Fleisch, gut gebraten, eine wohlschmeckende Alternative zum
Flugzander aus Osteuropa. Neidhart will dem Bodensee unbedingt die Treue
halten und keine anonymen Importfische braten. Er unterstützt die
Initiative der Schutzgemeinschaft Bodenseefisch. Die will künftig echten
Seefisch als original Bodensee-Wildfang deklarieren und so von den meist in
Aquakultur aufgezogenen Importfischen absetzen. Gute Idee. Noch ist aber
unklar, ob die Initiative bei den Fischern genügend Unterstützung findet.
Viele haben resigniert, sehen das Ende ihres beruflichen Wegs vor sich.
## Es droht die Fischfarm
Die Alternative rückt immer näher, am Horizont droht die Fischfarm. Werden
die Bodenseefische bald in den Netzkäfigen der Aquakultur schwimmen?
Zuchtfische brauchen kein Plankton im Wasser, ihnen ist auch die
Erdüberhitzung egal. Sie werden gefüttert wie Schweine und Hühner. Ihre
Futterpellets enthalten Soja, Raps und Fischmehl. Das Blaufelchen ist fürs
Netzgehege zwar ungeeignet, aber das Sandfelchen, heißt es, habe sich in
Finnland bewährt. Die Pläne für 12 Netzgehege an zwei Standorten liegen
schon in den Schubladen.
Die Befürworter haben im Jahr 2017 eine Genossenschaft gegründet, die
Fischereiforschungsstelle Langenargen hat eine Studie vorgelegt.
Flächenbedarf und „Einbringtiefe“ der Netzkäfige sowie der Fischertrag von
bis zu 600 Tonnen – alles ist berechnet. Aber noch sind die Netzkäfige am
Bodensee verboten.
Für den Fischer Böhler wären sie die „absolute Katastrophe“. Seine
Kollegin, Berufsfischerin Elke Dilger, hat die Argumente gegen die
Zuchtfische zusammengestellt. Aquakultur, sagt sie, funktioniere nicht ohne
Chemie und Arzneimitteleinsatz. Die Krankheiten der Zuchtfische würden auf
die Wildpopulationen übertragen, Futtermittelreste und Exkremente würden
das Wasser verunreinigen. Und wo bleibe die Qualität des natürlichen
Nahrungsmittels Fisch, wo bleibe das Tierwohl? Zudem seien die Zuchtfische
genetisch degeneriert und könnten bei Fluchten ihr Genmaterial in die
Wildbestände einbringen. Die Fischer am See sind ohne Ausnahme gegen das
Fischfarming, ebenso mehr als 30 Umwelt-, Naturschutz- und Anglervereine.
Dass die Wildfänge dann als Premiumprodukt weiterverkauft werden könnten,
überzeugt niemanden.
Es ist spät geworden. Der beliebteste See der Deutschen schimmert silbern
und ruhig im Abendlicht. Wilhelm Böhler ist rausgetuckert und hat sein Netz
ausgeworfen. Morgen früh um 4.30 Uhr wird er es einholen. In aller Stille.
Und ganz archaisch. Nur der Fischer in seinem Boot, das Netz und die
zappelnde Beute. Die letzten Tage hatte Böhler sogar Glück mit den Felchen.
Ob es so bleibt? Ein bisschen Hoffnung fährt immer noch mit in der Gondel.
25 Aug 2020
## AUTOREN
Manfred Kriener
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Fischerei
Bodensee
Petition der Woche
Schwerpunkt Landtagswahl in Baden-Württemberg
Lesestück Recherche und Reportage
Wir retten die Welt
Fischsterben
Elbe
Mittelmeer
## ARTIKEL ZUM THEMA
Petition für Rettungshelikopter: Mit 660 PS zur Unfallstelle
Der am Klinikum Friedrichshafen stationierte Rettungshubschrauber
„Christoph 45“ soll verlegt werden. Eine Petition will das verhindern.
Abschied vom Bodensee: Warten auf das Geröll
Ganz unten in Baden-Württemberg liegt der Bodensee. Noch. Warum es gut ist,
dass Deutschlands größter See verschwindet.
Naturschutzkonzept „Rewilding“: Zurück in die Wildnis
Wölfe, Elche, Robben, Seeadler: sie fühlen sich im Oderdelta wohl. Wie
Peter Torkler dafür kämpft, dass sich die Natur eine Landschaft
zurücknimmt.
Im Dschungelbiotop an der Neiße: Wie tief kann man sinken?
Das Naturbewusstsein in Deutschland steigt. Unser taz-Redakteur macht beim
Feldversuch durchwachsene Erfahrungen.
Fischsterben im Norden: Tödliche Gewässer
Hitze und Trockenheit führen zu einem Sauerstoffmangel im Wasser, an dem
Fische sterben. Zudem gibt es weitere Todesursachen, zum Beispiel
Elbbagger.
Elbfischer über Stinte und die Elbe: „Es kann nicht so weitergehen“
Lothar Buckow wurde in einem Leuchtturm geboren und ist einer der letzten
Elbfischer. Ein Gespräch über das Sterben der Stinte und die Elbvertiefung.
Tiere sterben in Europas größter Lagune: Fische und Krebse ersticken
Das Mar Menor ist umgekippt, im „Kleinen Meer“ in Südwestspanien fehlt
Sauerstoff. Provinzregierung und Umweltschützer streiten über Gründe.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.