| # taz.de -- Stellenabbau beim „Guardian“: Gnadenloser britischer Pragmatism… | |
| > Die Tageszeitung „The Guardian“ streicht wegen pandemiebedingter | |
| > Anzeigenverluste 180 Stellen. Dennoch bleibt die Chefredaktion | |
| > optimistisch. | |
| Bild: Muss sparen und entlassen und bleibt optimistisch: Guardian-Chefredakteur… | |
| „Gemeinsam können wir einen Weg durch die Krise finden – indem wir eine | |
| genaue Berichterstattung liefern und euch, unseren Leser*innen, zuhören“. | |
| Das hatte Guardian-Chefredakteurin Katherine Viner am 20. März 2020 in | |
| einem [1][viel gelobten, persönlich gehaltenen Text] zum Thema Corona | |
| geschrieben. | |
| „Das Versprechen des Guardian an unsere Leser*innen“ lautete der | |
| vollmundige Titel des Beitrags. Dass die jetzt angekündigte | |
| Entlassungswelle bei der großen liberalen Londoner Tageszeitung bei den | |
| Leser*innen ähnlich heruntergehen wird wie Öl, darf bezweifelt werden. | |
| 180 Stellen sollen beim Guardian und dem sonntags erscheinenden | |
| Schwesterblatt Observer gestrichen werden. 70 davon fallen in den | |
| Redaktionen weg. Die anderen verteilen sich auf die Anzeigenabteilung, den | |
| Stellenmarkt, das Marketing und den Veranstaltungs- und Eventbereich | |
| „Guardian Live“. Bei vielen deutschen Zeitungsredaktionen und -verlagen | |
| kämen solche Zahlen einer Geschäftsaufgabe gleich. | |
| Ganz so heftig ist es hier nicht: „Guardian News and Media“ (GNM), das | |
| Unternehmen hinter den beiden Blättern, hat nach eigenen Angaben aktuell | |
| 1.495 Mitarbeiter*innen, davon 869 in den Bereichen Zeitungsredaktion und | |
| -produktion. Insgesamt ist aber mehr als jeder 10. Arbeitsplatz betroffen. | |
| ## Harte Einschnitte | |
| Guardian-Mitarbeiter*innen, die namentlich nicht genannt werden möchten, | |
| schwanken zwischen resignierendem Verständnis und Empörung. „Die | |
| Geschäftsführung hatte ja schon Mitte April davor gewarnt, dass wegen | |
| Corona in diesem Jahr voraussichtlich 20 Millionen Pfund fehlen und massiv | |
| gespart werden muss“, sagt eine Redakteurin. | |
| Rund 100 Kolleg*innen aus nicht-redaktionellen Bereichen sind schon länger | |
| im „Furlough“, der britischen [2][Version der Kurzarbeit.] Sie erhalten 80 | |
| Prozent ihres Geldes vom Staat, GNM stockt die Löhne freiwillig auf die | |
| volle Höhe auf. Das Top-Management muss je nach Gehalt bis Jahresende | |
| Kürzungen von 20 oder 30 Prozent in Kauf nehmen. Alle anstehenden | |
| Gehaltserhöhungen liegen auf Eis. | |
| „Die Einschläge sind massiv und machen mir Angst“, sagt ein anderer Kollege | |
| und [3][verweist auf die BBC], die ebenfalls massiven Stellenabbau in ihren | |
| Redaktionen angekündigt hat: „Da gerät der Journalismus als Ganzes ins | |
| Wanken. Ausgerechnet in einer Zeit, in der unsere Nutzungszahlen durch die | |
| Decke gehen und wir uns vor Themen und Geschichten kaum retten können.“ | |
| Nach der jetzt veröffentlichten Jahresbilanz droht GNM im Geschäftsjahr | |
| 2020/21 – wie bei vielen britischen Unternehmen geht das Geschäftsjahr von | |
| Juli bis Juni – ein Finanzloch in Höhe von mindestens 25 Millionen Pfund | |
| (rund 27,55 Mio. Euro). In der Corona-Krise ist das Anzeigengeschäft fast | |
| zum Erliegen gekommen. Es macht jedoch immer noch rund 40 Prozent des | |
| Gesamtumsatzes von zuletzt rund 224 Millionen Pfund ( 247 Mio. Euro) aus. | |
| ## Enge Leser*innen-Bindung | |
| Bislang hatte der Scott-Trust, die Stiftung der GNM, solche Lücken | |
| überbrücken können. Doch in Zeiten von Niedrigzinsen wird es auch für | |
| Stiftungsmodelle immer schwieriger. Zugute kommt dem Guardian, dass er | |
| ähnlich wie die taz eine besonders enge Bindung zu seinen Leser*innen hat. | |
| Diese können als „Members“ eine Art Mitgliedschaft bei ihrer Zeitung | |
| erwerben und erhalten wie taz-Genoss*innen Vorteile. In der britischen | |
| Presselandschaft, in der Zeitungen normalerweise nicht per Abo bezogen, | |
| sondern immer noch überwiegend im Einzelverkauf abgesetzt werden, ist das | |
| einzigartig. Die etwas verwirrend als „Readers“ bezeichneten Abonnent*innen | |
| und Members sorgen aktuell für 36 Prozent der Einnahmen, der Verkauf am | |
| Kiosk nur noch für 22 Prozent. | |
| Außerdem hat der Guardian früh und konsequent [4][auf den digitalen Umbau | |
| gesetzt]. Auch wenn die gedruckte Auflage nur noch bei 128.000 Exemplaren | |
| am Tag liegt, bleibt er mit über 16,4 Milliarden Seitenaufrufen 2019/20 die | |
| reichweitenstärkste britische Qualitätszeitung. | |
| Das Digitalgeschäft sorgt mittlerweile für 57 Prozent des Umsatzes. Das ist | |
| umso beachtlicher, weil der Guardian – auch hier anders als das Gros der | |
| britischen Presse – eine Paywall strikt ablehnt und seine Inhalte weiter | |
| frei ins Netz stellt. Ähnlich wie die taz wirbt er offensiv um | |
| Unterstützer*innen. Aktuell zahlen 790.000 Menschen monatlich einen Obolus. | |
| Mit seinen digitalen Ausgaben für die USA und Australien ist die Zeitung | |
| auch auf diesen Medienmärkten ein wichtiger Player. | |
| ## Britischer Pragmatismus | |
| Trotzdem kommt sie an massiven Einschnitten nicht vorbei. „Wir haben schon | |
| in den vergangenen Monaten millionenschwere Sparmaßnahmen eingeleitet“, | |
| schrieben [5][Chefredakteurin Katherine Viner] und Geschäftsführerin | |
| Annette Thomas am 15. Juli in einer Email an alle Mitarbeiter*innen. | |
| „Uns würden in den kommenden Jahren nicht verkraftbare Verluste | |
| bevorstehen, wenn wir nicht handeln. Wir müssen die Art und Weise, wie wir | |
| arbeiten, ändern und es tut uns leid, euch sagen zu müssen, dass dies | |
| Stellenstreichungen in den nächsten Monaten bedeutet.“ | |
| Grundsätzlich steht der Guardian besser da als viele seiner Konkurrenten. | |
| Und außerdem gibt es ja noch den gnadenlosen britischen Pragmatismus. In | |
| ihrem Beitrag im März hatte Katherine Viner das nüchtern in einen Satz | |
| gegossen: „Der Guardian und der Observer sind über den ganzen Zeitraum der | |
| Influenza 1918 und während beider Weltkriege erschienen und wir werden | |
| unser Bestes geben, um es während der Corona-Pandemie wieder so zu halten.“ | |
| Falls das bis hierhin überlesen worden sein sollte: Mit zwei Frauen an der | |
| Spitze. | |
| 17 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.theguardian.com/world/2020/mar/20/coronavirus-the-guardians-pro… | |
| [2] /Produktionseinbruch-in-Coronazeit/!5695981 | |
| [3] /BBC-in-Coronakrise/!5672739 | |
| [4] /Digitaler-Gewinn-beim-Guardian/!5523463 | |
| [5] /Chefredaktion-des-Guardian/!5017888 | |
| ## AUTOREN | |
| Steffen Grimberg | |
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