| # taz.de -- Antisemitismus-Diskussion: Felix Klein hat verstanden | |
| > Statt Antisemitismus zu bekämpfen, wird diskutiert, was genau ihn | |
| > ausmacht. Doch am Ende aller theoretischen Debatten stehen immer echte | |
| > Menschen. | |
| Einen Monat nachdem ich zur israelischen Armee eingezogen worden war, brach | |
| die erste Intifada aus. Statt Soldat zu sein, machte ich Polizeiarbeit, | |
| sagte den Menschen, wann sie zur Arbeit gehen konnten und wann sie ihre | |
| Läden schließen mussten, wann sie die Grenze passieren und wann sie | |
| schlafen konnten. Einen Monat nachdem ich aus der Armee entlassen worden | |
| war, ging ich auf Reisen. (In Israel sagen wir: Wir dienen drei Jahre und | |
| versuchen den Rest unseres Lebens, diese drei Jahre zu vergessen.) Auf | |
| meiner Reise begann ich Briefe an meine Freundin zu schreiben, die ich in | |
| Israel zurückgelassen hatte. | |
| Ich schrieb ihr, wie schrecklich depressiv ich war und dass diese drei | |
| Jahre des Anweisungenbellens und Anderen-Menschen-Sagens, was sie zu tun | |
| haben, mich für immer verfolgen würden. Dass sie ein Teil dessen geworden | |
| waren, was ich bin. Ich erinnere mich, dass ich ihr schrieb, dass wir da | |
| rausmüssen – nicht nur für die Palästinenser, sondern wegen der furchtbaren | |
| und brutalen Auswirkungen, die all das auf uns, auf die israelische | |
| Gesellschaft haben würde. Sie schrieb zurück: „Du hast recht. Ich habe | |
| einen neuen Freund.“ | |
| [1][Felix Klein wurde als Beauftragter der Bundesregierung berufen], um die | |
| Auswirkungen des zunehmenden Antisemitismus in unserer Gesellschaft, in | |
| Deutschland, zu bekämpfen. Was nicht in seiner Jobbeschreibung steht, ist, | |
| dass er dabei unsere Gesellschaft heilen muss, jene Gesellschaft, die diese | |
| Form des Hasses reproduziert und schützt. Klein hat das begriffen. | |
| Er versteht, dass man Krebs nicht mit einem Pflaster verarztet, er weiß, | |
| dass er das Bewusstsein der Deutschen schärfen und Diskussionen anstoßen | |
| muss. Er hat begriffen, dass das Problem nicht nur an den Rändern der | |
| Gesellschaft (bei den Rechten) liegt, sondern auch in ihrer Mitte. Dort, wo | |
| gebildete Menschen nicht einmal bemerken, dass das, was sie sagen und tun, | |
| antisemitisch ist. So wie sie es auch nicht merken, wenn sie rassistisch | |
| handeln. Er hat all das verstanden, und genau deshalb wollen einige, dass | |
| er seinen Posten räumt. | |
| Mehr als 60 deutsche und israelische Intellektuelle haben letzte Woche | |
| [2][in einem Brief an Kanzlerin Merkel] darüber geklagt, dass der aktuelle | |
| „Gebrauch des Antisemitismusbegriffs“ darauf abziele, „legitime Kritik an | |
| der israelischen Regierungspolitik zu unterdrücken“, und Klein vorgeworfen, | |
| rechtspopulistische israelische Stimmen zu fördern. | |
| Faszinierend an diesem offenen Brief ist, dass viele der Unterzeichneten | |
| keine Deutschen sind und auch nicht in Deutschland leben. Ich weiß nicht, | |
| woher sie – die meisten von ihnen sind Israelis – die Chuzpe haben, sich in | |
| eine innerdeutsche Angelegenheit einzumischen und zu fordern, eine Person | |
| zu entlassen, die von der Bundesregierung eingesetzt wurde. Die Hälfte der | |
| Unterzeichneten lebt nicht hier, von der anderen Hälfte sind viele keine | |
| Juden – somit sind die allermeisten von ihnen nicht direkt vom | |
| Antisemitismus in Deutschland betroffen. Wie also können sie diesen Brief | |
| unterschreiben? Und warum eigentlich haben so wenige Deutsche | |
| unterschrieben? Dazu komme ich gleich. | |
| ## Debatte um Achille Mbembe | |
| Hintergrund des Briefs war, dass Felix Klein gefordert hatte, den | |
| [3][Philosophen Achille Mbembe] nicht die Eröffnungsrede der Ruhrtriennale | |
| halten zu lassen. Als mit öffentlichen Mitteln gefördertes Event solle die | |
| Ruhrtriennale Mbembe wegen seiner Haltung zu Israels Existenzrecht, seiner | |
| Haltung zu BDS und der Art, wie er in einem seiner Werke den Holocaust | |
| relativiert, nicht einladen. | |
| Mbembes Unterstützer sagen, keine dieser Anschuldigungen sei wahr. Fürs | |
| Protokoll: In meinen Augen [4][unterstützt Mbembe sehr wohl BDS], er | |
| schrieb unter anderem das Vorwort zu „Apartheid Israel“ und fordert die | |
| komplette Isolation Israels. Ich glaube auch, wenn Mbembe schreibt, die | |
| israelische Besetzung sei der „größte moralische Skandal unserer Zeit“, | |
| zeigt das, dass sein moralischer und geografischer Kompass etwas schief | |
| ist. | |
| Doch warum treibt die Debatte so viele Menschen um? Nun, zunächst gibt | |
| niemand gern auf, was ihm oder ihr selbstverständlich scheint. Über den | |
| gesamten politischen, sozialen, kulturellen, medialen und akademischen | |
| Sektor hinweg sind Menschen daran gewöhnt, so schlecht über Israel sprechen | |
| zu können, wie auch immer sie wollen. | |
| Der Spiegel hat – vielleicht in Anlehnung an seine Relotius-Standards, | |
| Israel erst kürzlich eine Corona-Diktatur genannt. Fakten und Belege für | |
| diese Behauptung gab es nicht. Doch Millionen Deutsche haben es gelesen, | |
| und es wird natürlich haften bleiben. Faktenlage hin oder her. Der Spiegel | |
| und andere Medien haben dieses Spiel perfektioniert: Titel so zu drehen, | |
| dass sie Israel indirekt anklagen, die Idee zu streuen, der Mossad | |
| kontrolliere die deutsche Außenpolitik im Nahen Osten, und so fort. Doch | |
| sie stehen allesamt sofort auf den Hinterbeinen, wenn jemand es wagt, das | |
| Spiel beim Namen zu nennen: moderner Antisemitismus. | |
| Klein will dem entgegenwirken. Er versteht, dass antisemitische Attacken in | |
| Deutschland die Früchte solch falsch gezeichneter Bilder und | |
| eindimensionaler Narrative über Israel sind. Wenn er und andere versuchen, | |
| ein anderes Narrativ aufzuzeigen, wirft man ihnen Zensur vor: Wie können | |
| sie es wagen, das Geschäft der Anti-Israel-Propaganda zu stören? | |
| Liebe Deutsche, wenn ihr reden wollt, lasst uns gern reden: über die | |
| Besetzung, über Bibi und alles, was schiefläuft. Aber dann lasst uns bitte | |
| auch darüber reden, wie deutsche Steuergelder Terrortunnel finanzieren. | |
| Erst vergangene Woche räumte die niederländische Regierung ein, dass Gelder | |
| an eine Landwirtschaftsorganisation in Ramallah geflossen seien, die damit | |
| teilweise die Gehälter zweier des Mordes an der 17-jährigen Israelin Rina | |
| Shnerb Verdächtiger gezahlt haben. Auch die Bundesregierung unterstützt | |
| diese Organisation, obwohl Kritiker schon lange vor Verbindungen zu | |
| Terroristen warnen. | |
| Wir können uns also gerne unterhalten – aber im Dialog, nicht in Monologen. | |
| Denn Reden unter Menschen, die sich einig sind, ist nichts anderes als | |
| Impotenz. | |
| ## Israelkritik als Eintrittskarte | |
| Die Israelis, die die Petition unterzeichnet haben, haben übrigens | |
| ebenfalls etwas verstanden. Seit Jahren wissen sie: Es ist ihre | |
| Eintrittskarte in die Mitte der deutschen (und europäischen) Gesellschaft. | |
| Man hört nicht oft von Akademikern mit proisraelischen Ansichten. Weder in | |
| den Philharmonie-Orchestern noch in der Kunstszene. Die Eintrittskarte | |
| dafür ist ein antiisraelischer Standpunkt. | |
| Der mutmaßliche Grund, warum kaum Deutsche die Petition unterzeichnet | |
| haben: Sie mussten es nicht. Ihre Lieblingsjuden haben es für sie getan. | |
| Jetzt können sie sagen: „Schau, ich bin das ja nicht, meine jüdischen | |
| Freunde sagen es.“ Ich selbst war einige Jahre lang mit einem Paar hier in | |
| Berlin befreundet, bis ich herausfand, dass ich ihr Lieblingsjude war. Ja, | |
| selbst das jüdische Museum wurde so genutzt. | |
| Weil Attacken gegen Juden ein absolutes Tabu sind, wurden Umwege gefunden, | |
| um den Antisemitismus auf kleiner Flamme köcheln zu lassen: die | |
| unfundierte, unbegründete Kritik an Israel. | |
| Diese Art der Kritik ist gefährlich. Sie schwächt jede begründete und | |
| notwendige Kritik am Verhalten Israels. Und das Interessante ist: Trotz all | |
| der heftigen, pauschalisierenden Anklagen, all der offenen Briefe driftet | |
| Israel politisch immer weiter nach rechts. Doch statt mal einen anderen | |
| Ansatz zu versuchen, werden die antiisraelischen Stimmen nur lauter. | |
| Dasselbe versuchen und andere Ergebnisse davon erwarten – das ist die | |
| Definition von Wahnsinn. | |
| Kurz bevor der Prozess gegen den wegen des [5][Attentats von Halle] | |
| Angeklagten begann – des seit Kriegsende schlimmsten Akts von | |
| Antisemitismus in Deutschland –, lud eine Lokalzeitung den früheren | |
| Botschafter Shimon Stein und den Historiker Moshe Zimmermann ein, darüber | |
| zu schreiben, was Antisemitismus ist. Natürlich wendeten auch sie sich | |
| gegen Felix Kleins Ansatz. Sie zitieren die Kontroverse um die Umbenennung | |
| der U-Bahn-Station Mohrenstraße in Glinkastraße, die sich darum drehte, | |
| dass der russische Komponist Michael Glinka Antisemit gewesen sein soll. | |
| Stein und Zimmermann halten die Debatte für überzogen, Glinka sei nur ein | |
| Kind seiner Zeit gewesen. Folgt man ihrer Logik, können wir dann also in 20 | |
| oder 30 Jahren U-Bahn-Stationen nach den Kindern der 1930er Jahre benennen? | |
| ## Der Antisemit als Tierfreund | |
| Ich wünschte, die Sache hätte mit dem Artikel, mit der Petition geendet. | |
| Doch dann erschien ein Artikel, der den Leser auf einen Waldspaziergang mit | |
| einem veganen Koch und Antisemiten mitnahm. Darin setzt der Tierfreund erst | |
| behutsam einen Käfer wieder auf seine Beinchen und erklärt dann, dass die | |
| Todesstrafe in Deutschland wieder eingeführt werden solle, um einen | |
| gewissen Politiker (der zufällig pro Israel ist) an seinen Hoden aufhängen | |
| zu können. Dieser Koch hat Hunderttausende Follower, er sagt all solche | |
| Dinge am helllichten Tag in Berlin. Und in den Medien. | |
| Fälle wie dieser handeln bereits von Gewalt – und sie enden nicht bei den | |
| Juden. Der [6][Hass richtet sich gegen Frauen], Muslime, Geflüchtete, | |
| LBTQI. Am Ende aller theoretischen Debatten stehen immer echte Menschen. | |
| Am Ende jeder Konferenz darüber, was Antisemitismus ausmacht, steht ein | |
| potenzielles jüdisches Opfer. Angesichts einer Welle von Antisemitismus | |
| über die Definition von Antisemitismus zu streiten ist, wie eine 10 Meter | |
| hohe Welle heranrollen zu sehen und darüber zu streiten, was einen Tsunami | |
| ausmacht. | |
| Felix Klein versteht, wie absurd es ist, zu sagen: Es sind nur die Rechten. | |
| Die Rechten sind Deutsche, so wie die Nazis Deutsche waren. Klein versteht, | |
| dass die Deutschen nicht aufgehört haben, Juden zu ermorden, weil sie | |
| irgendeine Art von Erleuchtung hatten. Sondern schlicht, weil sie den Krieg | |
| verloren haben. Um den Antisemitismus zu bekämpfen, bevor er die | |
| Gesellschaft frisst, in der er und wir leben, muss Deutschland seinen | |
| moralischen Kompass korrigieren. | |
| Immerhin: Mehr und mehr Deutsche fahren nach Israel, sie wollen ein anderes | |
| Narrativ hören. Mehr und mehr Deutsche verstehen, dass Antisemitismus | |
| Schockwellen auslöst, die die gesamte Gesellschaft betreffen. In einem | |
| normalen Universum würde Klein befördert werden für seine Leistung. In | |
| einer verdrehten Gesellschaft fordern Menschen seine Entlassung. Um es mit | |
| Mbembe zu sagen: Das ist Nano-Nonsens. | |
| Übersetzung: Ariane Lemme | |
| 2 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Umstrittener-Antisemitismusbeauftragter/!5693483 | |
| [2] https://www.tagesspiegel.de/downloads/26044046/1/offener-brief-an-angela-me… | |
| [3] /Debatte-ueber-Antisemitismus/!5679768 | |
| [4] /Club-Voltaire-und-BDS-Unterstuetzung/!5645456 | |
| [5] /Prozess-gegen-Halle-Attentaeter/!5700684 | |
| [6] /Expertin-ueber-Frauenhass-und-Rassismus/!5695487 | |
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