# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Arbeit, Familie, WLAN | |
> Frankreich bereitet sich auf eine totale Digitalisierung vor. Die | |
> Coronapandemie bildet den Praxistest für ein Leben, das ohne Smartphone | |
> nicht möglich ist. | |
Bild: Während der Ausgangssperre arbeitete ein Viertel der Berufstätigen in F… | |
Erfreuliche Meldung in den 20-Uhr-Nachrichten am 6. Mai: Am 50. Tag der | |
Ausgangssperre, als Schutzausrüstung Mangelware war, kündigte die Pariser | |
Stadtregierung die kostenlose Ausgabe von Masken in den 906 Apotheken der | |
Hauptstadt an. Allerdings unter einer Bedingung: Die Pariser müssten sich | |
„im Internet anmelden“, einen Gutschein herunterladen und in der Apotheke | |
vorzeigen – als Ausdruck oder direkt auf dem Handy. Dann bekämen sie eine | |
Maske, deren Tragen in den öffentlichen Verkehrsmitteln verpflichtend ist. | |
Willkommen im „totalen Internet“! Was vor der [1][Coronapandemie] bereits | |
eine galoppierende Entwicklung war, geht nun mit der Rasanz eines Taifuns | |
voran: Es ist der Praxistest für eine Welt ohne Kontakt. Gestern betraf es | |
den Antrag auf Arbeitslosengeld, den Personalausweis, eine | |
Aufenthaltsgenehmigung oder Fahrzeugpapiere; heute geht es um ein basales | |
Hygieneprodukt, aber auch um das Recht auf Arbeit, Gesundheit, Freizeit, | |
Bildung – und Familie. | |
Nach Angaben des Instituts Médiamétrie betrug die Zeit, die die Franzosen | |
zwischen dem 17. und 31. März 2020 täglich im Internet verbrachten, 2 | |
Stunden und 50 Minuten, eine Erhöhung um 36 Prozent gegenüber März 2019 | |
(beim Fernsehkonsum waren es zwischen dem 17. März und dem 26. April | |
durchschnittlich 4 Stunden und 41 Minuten, ein Zuwachs von mehr als einem | |
Drittel). | |
Lehrer, die am Bildschirm unterrichten, Ärztinnen, die Online-Sprechstunden | |
abhalten, Manager, die sich in Pantoffeln von zu Hause in ihre Arbeit | |
stürzen (oder auch nicht), und Dozentinnen, die Examina aus der Ferne | |
überwachen – die Digitalisierung hat im Alltag ein solches Ausmaß | |
angenommen, dass der Besitz eines internetfähigen Geräts lebensnotwendig | |
ist. Ohne Internet keine Maske, keine ärztliche Behandlung, kein Homeoffice | |
(während der Ausgangssperre arbeitete ein Viertel der Berufstätigen in | |
Frankreich von zu Hause), aber auch kein Zugang zu den | |
Sozialversicherungskonten und zur Bank. | |
## Jeder Fünfte ein „digitaler Analphabet“ | |
Nach der Quarantäne Zug fahren? Unmöglich ohne Internet. Mit dem 11. Mai | |
hat die staatliche Eisenbahngesellschaft (SNCF) in der Region | |
Hauts-de-France ein Couponsystem eingeführt. Wer mit dem Regionalzug von | |
oder nach Lille fahren möchte, muss sich seinen Platz online sichern – nach | |
dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Am Bahnhof selbst werden | |
keine Coupons verkauft. Die SNCF hat innerhalb von zehn Jahren 5000 Stellen | |
im Service abgebaut (1000 allein 2019).1 Wer über kein Smartphone verfügt, | |
mit dem Internet nicht vertraut ist oder einfach nicht ständig online sein | |
und potenziell überwacht werden will, wird künftig außen vor bleiben. | |
Die Zahl der Nichtvernetzten ist indes hoch. 2019 hatte laut dem nationalen | |
Statistikamt (Insee) jeder fünfte Franzose über 18 Jahren Schwierigkeiten, | |
im Netz zu navigieren, das sind Millionen von Menschen, die mit dem | |
barbarischen Begriff „digitale Analphabeten“ bezeichnet werden. Für die 15 | |
Prozent der über 15-Jährigen, die 2019 das Internet gar nicht genutzt | |
haben, oder die 38 Prozent der Nutzer, die angeben, nicht einmal über | |
basale Computerkenntnisse zu verfügen, verschließt sich gerade eine Welt.2 | |
Die französische Regierung hält daran fest, bis 2022 ihre Bürger-Dienste | |
vollständig zu digitalisieren. Am 30. März empfahl sie allen Franzosen, die | |
nicht mit dem Internet umgehen können, eine Website. Zum Glück findet man | |
auf der Seite solidarité-numérique.fr auch eine Telefonnummer – ein letztes | |
Zugeständnis vor der endgültigen Aufgabe ganzer Bevölkerungsteile. | |
Für Thibaud Zaninotto war das Gespenst des totalen Internets bereits vor | |
Beginn der Ausgangssperre Alltag. Ende 2019 arbeitete der Arzt noch „an der | |
Front“, wie er sich ausdrückt: in der Notaufnahme eines großen Pariser | |
Krankenhauses. Was er dort erlebte, habe ihn komplett demoralisiert: | |
„70-jährige Patienten wurden 48, sogar 72 Stunden auf einer Liege im Flur | |
sich selbst überlassen. Es war schon ein Wunder, wenn sie ein Glas Wasser | |
bekamen, um das sie gebeten hatten.“ Statt sich um die Patienten zu | |
kümmern, verbrachte Zaninotto „jeden Tag fast zehn Stunden vor dem | |
Bildschirm, weil jeder durchgeführte Handgriff digital registriert werden | |
musste“. Im Dezember 2019 entschied sich der 30-Jährige, die Notfallstation | |
zu verlassen und in eine Praxis zu gehen. | |
## 60 bis 70 Prozent der Sprechstunden per Video | |
Vier Monate später ist über Zaninotto die Welt zusammengebrochen: Die | |
Computer haben ihn eingeholt – und das Virus. „Ich habe mich mit Covid-19 | |
angesteckt“, berichtet er Anfang April in einem Videointerview. Man sah ihm | |
die zwei Wochen Krankheit noch an. | |
Als er wieder auf den Beinen war, übernahm er die Vertretung eines Kollegen | |
im 18. Pariser Arrondissement. 60 bis 70 Prozent seiner Sprechstunden | |
fanden per Video über Doctolib statt, dem französischen Marktführer für | |
Online-Terminvergabe und -Behandlung. „Ich hatte nie vor, das zu nutzen. Es | |
fehlt die Wärme, der menschliche Kontakt, aber in der jetzigen Situation | |
ist es nicht schlecht, denn in einer Gemeinschaftspraxis ist es unmöglich, | |
sich vollständig vor einer Ansteckung zu schützen.“ | |
Über eine Sache jedoch begann sich Zaninotto zu wundern: „Nach ein paar | |
Tagen habe ich mich gefragt, wo eigentlich die Patienten über 50 sind. Auf | |
meinem Bildschirm sehe ich sie nicht. Das Durchschnittsalter meiner | |
Patienten liegt zurzeit zwischen 25 und 30 Jahren. Es sind Leute, die | |
wissen, wie man eine App mit Video nutzt.“ Der Arzt sieht hier eine | |
„soziale Auslese“ und einen Zusammenhang zwischen dem Erfolg von Doctolib | |
und den „unendlichen Warteschlangen“ vor den Praxen in seinem Viertel, die | |
noch Sprechstunden ohne Termin anbieten. | |
Eine Mittelohrentzündung erkennen, eine Erkältung behandeln: „Wie wollen | |
Sie auf einem Bildschirm die tatsächliche Farbe eines Rachens erkennen oder | |
die eines entzündeten Ohrs? Ich versuche, so viele Fragen wie möglich zu | |
stellen, um zu einer Diagnose zu kommen. Die Leute werden sich daran | |
gewöhnen, nehme ich an. Das ist ein Testlauf für die Medizin von morgen, | |
denn im Moment haben wir keine Wahl.“ Technisch funktioniere es ganz gut, | |
gibt Zaninotto zu, „viel besser als die gammeligen Gerätschaften in den | |
öffentlichen Pariser Krankenhäusern“. | |
## Goldmine für viele | |
Die gesetzliche Krankenversicherung (Assurance Maladie) berichtet, dass | |
französische Ärzte allein in der letzten Märzwoche 2020 fast eine halbe | |
Million Videokonsultationen durchgeführt haben. Zum Vergleich: Im gesamten | |
Jahr 2019 waren es nur 60 000. In den folgenden Wochen schossen die Zahlen | |
noch einmal in die Höhe. Allein über die Plattform Doctolib wurden in den | |
ersten fünf Wochen der Ausgangssperre (die am 17. März begann) 2,5 | |
Millionen Videosprechstunden durchgeführt. | |
Doctolib, ein mit staatlicher Förderung und mit Hilfe des | |
Business-Inkubators Agoranov gegründetes Start-up, das mittlerweile mehr | |
als 1 Milliarden Dollar wert ist, finanziert sich durch eine monatliche | |
Gebühr von 129 Euro, die registrierte Ärzte entrichten müssen. Ende 2017 | |
verzeichnete die Website 30 000 Mediziner und 12 Millionen Besucher. Zwei | |
Jahre später, im Mai 2019, waren es 80 000 Mediziner und 30 Millionen | |
Besucher. Im Januar 2019 führte Doctolib Online-Sprechstunden ein, gegen | |
eine Gebühr von 79 Euro pro Termin, die in der Coronakrise aber entfiel. | |
Anfang April stieg die Zahl der täglichen Videotermine von 1000 auf 100 | |
000. „Und sie steigt stündlich“, verkündete Doctolib-Mitbegründer und CEO | |
Stanislas Niox-Château. Er schätzt, dass auch nach der Pandemie in | |
Frankreich 15 bis 20 Prozent der Arzttermine per Video stattfinden werden.3 | |
Kein Zweifel, Doctolib wird angesichts der medizinischen Wüste Teil der | |
Lösung werden. Das Bankkonto des Gründers dürfte bereits jetzt eine sehr | |
gesunde Bilanz aufweisen: 2018 wurde der „megahart arbeitende“ ehemalige | |
Tennisprofi mit seinen Partnern erstmals in der Rangliste der 500 größten | |
Vermögen Frankreichs gelistet, die das Wirtschaftsmagazin Challenges | |
veröffentlicht. Die Daten, die Millionen Franzosen hinterlassen, die über | |
Doctolib Ärzte konsultieren, sind außerdem eine wahre Goldmine für | |
Versicherungen, Werbeagenturen, Polizei und Onlinehändler. | |
Am 21. April 2020 gestattete die Regierung per Erlass, dass die | |
Krankenkassen und die von [2][Präsident Macron] initiierte | |
Gesundheitsplattform Health Data Hub, die mit Hilfe von KI arbeitet, | |
während des Ausnahmezustands in großem Umfang Informationen über Nutzer | |
sammeln dürfen. Angeblich „ausschließlich zu dem Zweck, Gesundheitsdaten | |
für das medizinischen Notfallmanagement und die Erweiterung des Wissens | |
über das Covid-19-Virus zu erheben“.4 | |
## Neusprech, den alle intuitiv verstehen sollen | |
Kleines Detail: Die Daten dieser Plattform, die Versicherungsakten, | |
Krankenhausrechnungen, Todesursachen, sozialmedizinische Daten von | |
Behinderten und Abrechnungen von Kostenerstattungen umfassen, befinden sich | |
in der Cloud des US-Giganten Microsoft, der seit Ende 2018 in Frankreich | |
als zertifizierter Host fungiert. Auf der Grundlage des US-amerikanischen | |
Cloud Act können Polizeibehörden und Geheimdienste der USA auf | |
Informationen zugreifen, die auf diesem Server liegen. Die französische | |
Datenschutzbehörde CNIL äußerte am 23. April ihre Bedenken, doch die | |
Regierung teilt ihre Sorge nicht. | |
Öffentlicher Dienst, Gesundheitssystem, Unterhaltungsbranche: Es gibt kaum | |
einen Bereich, der während der Coronapandemie nicht vom Sturm der | |
Digitalisierung erfasst worden wäre. Besonders im Bildungsbereich erweist | |
sich die Ausgangssperre als geeignet für den Testlauf einer kontaktlosen | |
Gesellschaft. Bereits vor Corona nutzten die französischen Lehrerinnen mit | |
ihren Schülern „virtuelle Klassenzimmer“. Seit einigen Jahren können Elte… | |
die Zeugnisse und Mitteilungshefte ihrer Sprösslinge online einsehen. Doch | |
mit der Pandemie haben sich die Herausforderungen vervielfacht. Zahllose | |
neue Begriffe bilden ein Neusprech, das alle intuitiv verstehen sollen. | |
„Im März 2020“, erzählt Yasmina B., Dozentin an einer französischen | |
Architekturhochschule, „hat die Leitung in Windeseile eine völlig | |
unverständliche Erklärung zu den neuen technischen Hilfsmitteln | |
zusammengeschrieben. Darin ist die Rede von ‚Pädagothek‘, neuen Softwares | |
wie Moodle, die über BigBlueButton zugänglich sind. Für die Konferenzen in | |
kleinen Gruppen sollen wir ‚den Bildschirm teilen‘, unsere Videos ‚offline | |
depublizieren‘ und PDFs an die Schüler ‚forwarden‘. Allein um die Schrei… | |
zu verstehen, die wir von der Schulleitung bekommen, bräuchten wir eine | |
Ausbildung.“ | |
Nicht nur sind die Lehrer von der Qualität der Informationstechnologie | |
abhängig, sie verlieren beim Onlineunterricht auch die einzelnen Schüler | |
aus den Augen. „Die ganze Technik macht es unmöglich, sich auf das | |
Wichtigste zu konzentrieren, den Stoff und die Schüler“, schimpft eine | |
Lehrerin, die ernsthaft darüber nachdenkt, ihren Job mitsamt den ganzen | |
Apps hinzuschmeißen. „Wir sind nun gezwungen, unser Leben vor dem | |
Bildschirm zu verbringen, das ist eine Katastrophe. Es ist ja faktisch so, | |
dass wir es mit Digital Natives zu tun haben, die wir niemals einholen | |
können.“ | |
## Start-ups und Digitalkonzerne als Gewinner | |
Weltweit verschärft der Online-Unterricht die Bildungsungleichheit. Im | |
April warnte die Unesco, dass „die Hälfte aller Lernenden weltweit – etwa | |
826 Millionen Schüler –, die aufgrund der Covid-19-Pandemie gerade nicht | |
zur Schule gehen können, zu Hause keinen Computer haben. 43 Prozent (706 | |
Millionen) haben keinen Zugang zum Internet.“ Trotzdem findet in den | |
meisten Ländern Unterricht durch digitales Homeschooling statt. | |
Insee zufolge fehlt es 19,2 Prozent der Franzosen zwischen 15 und 29 Jahren | |
in mindestens einem Teilereich der IT an den nötigen Kompetenzen. Es gibt | |
wohl keinen Lehrer, der nicht eine Anekdote beisteuern könnte: Schüler, die | |
die komplette Mail ins Betreff-Feld tippen; solche, die für jede Antwort | |
einen neuen Thread öffnen; und wieder andere, die zwar wissen, wie man auf | |
Facebook etwas „likt“, aber nicht, wie man eine Mail mit Anhang verschickt. | |
Die Gewinner dieser Generalprobe sind die Start-ups und die großen | |
Digitalkonzerne. „Die Software, mit der wir arbeiten sollen, rangiert | |
irgendwo zwischen Minitel und Windows 95“, spottet Florian Petit, | |
Philosophielehrer an einem Gymnasium in Senlis (Oise). „Man verlangt von | |
uns, virtuelle Klassenzimmer einzurichten und Apps wie I-Prof zu verwenden, | |
um mit der Schulleitung zu kommunizieren. Ab Tag eins der Ausgangssperre | |
hat nichts funktioniert, alles war überlastet. Ich habe es gemacht wie | |
viele meiner Kollegen, ich habe meine Schüler aufgefordert, die App Slack | |
zu nutzen.“ | |
Die Nutzerzahlen des US-amerikanische Messengerdienst Slack stiegen | |
zwischen Februar und März um 350 Prozent. Lehrer Petit gibt das zu denken: | |
„Wir haben keine Ahnung, was mit den gesammelten Daten geschieht. Aber wir | |
haben keine Wahl, im Namen einer fragwürdigen pädagogischen Kontinuität | |
sind wir angehalten, mit unseren Schülern im täglichen digitalen Kontakt zu | |
stehen.“ | |
## 2019 fast ein Viertel ohne Smartphone | |
Die Totalisierung des Internets betrifft auch den Bankensektor, der gerade | |
einen Liberalisierungsschub erlebt, der an die 1980er Jahre erinnern lässt. | |
Ende Dezember 2019 wurde der selbständige Architekt Hugo Bricout, der sein | |
Büro in Dunkerque (Département Nord) hat, zu seiner Bank bestellt. Zwei | |
Monate zuvor hatte die Bank dem 28-Jährigen eine E-Mail geschickt: „Ihm | |
Rahmen der europäischen Richtlinie zum Zahlungsverkehr (DSP2) wird das | |
Sicherheitsniveau beim Zugang zu Ihrem Kundenkonto erhöht. Bitte denken Sie | |
daran, Ihr Smartphone zur Hand haben, um die Anmeldung auf Ihrem | |
Kundenkonto zu bestätigen.“ | |
Hugo Bricout gehörte allerdings zu den rund 23 Prozent Franzosen, die 2019 | |
kein Smartphone besaßen.5 Er konnte sich die App also nicht herunterladen | |
und sich nicht authentifizieren. Am Tag seiner Einbestellung musste er sich | |
eine Standpauke anhören. | |
„In der Bankfiliale sah ich die Vitrine mit Smartphones, die zum Verkauf | |
angeboten wurden. Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, das Ding kaufst du | |
nicht“, erzählt Bricout, der sich trotz der Ausgangssperre immer noch keins | |
angeschafft hat. Seine Kontoauszüge bekommt er weiterhin per Post, aber | |
kann er weder eine Überweisung vornehmen noch online einkaufen. | |
So kommt er auch nicht in den digitalen Genuss, ständig einen Zugangscode | |
eintippen zu müssen und sein eigenes Stresslevel dem Ladestatus seines | |
Akkus anzugleichen. Tatsächlich unterscheidet sich laut einer Studie der | |
Cass Business School der City University of London die Wahrnehmung unserer | |
Umwelt je nachdem, ob der Akkustand unseres Handys bei 5 oder bei 95 | |
Prozent liegt. | |
## Ohne Smartphone kein Kontozugang | |
„Ich bin niemand, der viel im Netz ist. Ich verbringe ohnehin schon viel | |
Zeit am Computer, um zu arbeiten, mich abzulenken oder Mails zu | |
verschicken. Ich habe dadurch Rückenprobleme. Ich habe keine Lust, ständig | |
das Internet in der Tasche zu haben. Ich hasse das. Es ist unglaublich, | |
dass der Besitz eines Smartphones mittlerweile die Voraussetzung ist, um an | |
sein eigenes Geld zu kommen!“, schimpft Bricout. | |
Die DSP2-Richtlinie zum Zahlungsverkehr, die offiziell seit September 2019 | |
gilt, war für die kleinen wie großen Online-Händler und Kunden ohne | |
Smartphone derart beängstigend, dass die Pflicht zur „starken | |
Authentizifierung“, die einem potenziellen Smartphone-Zwang für alle | |
gleichkommt, von der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde auf Ende 2020 | |
verschoben wurde. Doch die Aussicht bleibt dieselbe: Alles soll über das | |
Smartphone laufen – es sei denn, die Banken entscheiden sich für ein | |
alternatives Verfahren zur „starken Authentifizierung“, was derzeit jedoch | |
wenig wahrscheinlich erscheint. | |
Bricout, der auf dem Bauernhof seiner Familie in Brouckerque wohnt, lebt | |
wie 18 Prozent der Franzosen in einem dünn besiedelten Gebiet, ohne | |
schnelles Breitband-Internet: So sieht die Realität für 22 500 ländliche | |
Gemeinden und 63 Prozent des französischen Territoriums aus.6 Die einzige | |
Möglichkeit ist, 30 Euro monatlich für eine 4G-Router zu zahlen, der das | |
Mobilfunknetz für den Computer nutzbar macht. Hugo Bricouts Eltern Jacky | |
und Annie wohnen gleich nebenan. Sie haben auf ihrem Hof einen | |
Lernbauernhof, La ferme des ânes („Eselhof“), gegründet. „Für sie ist … | |
noch schlimmer“, sagt Bricout. Sie haben überhaupt keinen Zugriff mehr auf | |
ihr Bankkonto.“ | |
Anfang des Jahres standen die beiden vor vollendeten Tatsachen: Sie kamen | |
nicht mehr an das Bankkonto ihres Vereins bei der Crédit Mutuel. Wie ihr | |
Sohn besitzen sie weder ein Smartphone noch die App zur Authentifizierung. | |
Da sie einen Angestellten beschäftigen und auf ihrem Konto regelmäßig | |
Geldbewegungen stattfinden, haben sie nun ein ernsthaftes Problem. | |
In der Bankfiliale im zehn Kilometer entfernten Bourbourg habe man Jacky | |
Bricout geraten, sich von seinem Verein ein Smartphone finanzieren zu | |
lassen. Die postalische Zusendung der Kontoauszüge habe man | |
glücklicherweise noch nicht eingestellt, sagt er. „Die einzige Möglichkeit, | |
bei der Bank einen echten Menschen zu erwischen, ist die Zeit abzupassen, | |
in der unser Sachbearbeiter arbeitet. Es war wie vor 40 Jahren, als alles | |
noch von Menschen erledigt wurde.“ Aber die Filiale von Crédit Mutuel in | |
Bourbourg wird, wie viele andere in Frankreich, dieses Jahr geschlossen | |
werden. „Machen Sie schnell noch einen Termin, bevor es nicht mehr möglich | |
ist“, hatte sie der Bankangestellte vor der Ausgangssperre gewarnt. | |
## „Vorstellung von der Hölle“ | |
Zwischen 2009 und 2016 sind dem Französischen Bankenverband FBF zufolge | |
14,9 Prozent der Bankfilialen im Land verschwunden (Le Figaro, 15. März | |
2019). „All diese Dinge, die uns auf autoritäre Weise einfach übergestülpt | |
werden: Video-Sprechstunden beim Arzt, Steuererklärung online, Unterricht | |
online, QR-Codes auf Bescheinigungen. Die Behörden wissen alles über uns: | |
was wir arbeiten, was wir verdienen, welche Sozialleistungen wir beziehen, | |
wie viel Geld wir auf dem Bank haben, wo wir uns gerade aufhalten … Und | |
ohne Smartphone werden wir bald zu nichts mehr Zugang haben. Das ist | |
wirklich die Vorstellung von der Hölle“, schimpft Jacky Bricout. | |
Er denkt auch an den Gesundheitscheck, den ihm seine Versicherung 2019 | |
empfohlen hat. „Um ihn in Anspruch zu nehmen, musste man sich bei Doctolib | |
anmelden. Der öffentliche Dienst nutzt diese Apps, um Verwaltungskosten | |
einzusparen und so viel wie möglich auszulagern.“ | |
Er macht eine Pause, dann sagt er: „Aus dem Spiel ist Zwang geworden. | |
Unsere Generation hat noch von den guten Seiten des Internets profitiert – | |
die Filme, die Blogs, das Austauschen von Wissen –, aber was wird aus der | |
nächsten?“ In seiner Suada kommt er ebenfalls auf das von Israel während | |
der Ausgangssperre praktizierte Tracking seiner Bürger mittels GPS-Daten | |
und auf das chinesische Sozialkreditsystem zu sprechen.7 | |
Julien Maldonato, Mitarbeiter beim Wirtschaftsprüfungs- und | |
Beratungsunternehmen Deloitte, weiß, dass die DSP2-Richtlinie auch „von der | |
Welt der Finanzdienstleister nicht gerade wohlwollend aufgenommen wurde“. | |
Doch er ist optimistisch, dass die Geldinstitute von diesem „ersten Schritt | |
in Richtung Open Banking“8 profitieren werden – mit diesem Begriff wird die | |
Öffnung von Banken gegenüber Drittanbietern bezeichnet. | |
## Zugriff auf Kontos, um das Leben zu verbessern | |
Denn nicht nur Autos, Lkws und Saugroboter, auch die Banken werden | |
„autonom“. Die DSP2, die zum Kampf gegen Computerpiraterie und -betrug | |
eingeführt wurde, wird die Digitalisierung beschleunigen und eine wahre | |
Goldgrube erschließen: die der Bankdaten. Mit der 2015 verabschiedeten und | |
2018 in Kraft getretenen Liberalisierung können sogenannte | |
Fintech-Unternehmen wie Linxo oder Bankin auf die Kontodaten ihrer Kunden | |
zuzugreifen und ihnen Verbesserungen vorschlagen. | |
Im Bankjargon heißt das dann „parametrische Versicherung“. Julien Maldonato | |
erklärt: „Herr Sowieso kauft mit seiner EC-Karte häufig minderwertige, | |
gentechnisch veränderte Lebensmittel im Laden um die Ecke. Seine | |
Fintech-App schlägt ihm dann etwa vor, stattdessen in einem Partnerladen | |
einzukaufen, wo Bio-Ware angeboten wird. Oder Frau Sowieso merkt, dass ihre | |
Spritkosten ständig steigen. Die App wird ihr dann empfehlen, ein | |
sparsameres Auto zu kaufen.“ Und so weiter. | |
„Mit Hilfe der Bankdaten lassen sich zusätzliche Absatzmöglichkeiten | |
ausfindig machen. Nehmen wir das Beispiel der Versicherung“, erläutert der | |
Fachmann: „Paul ist Autofahrer und tankt dreimal im Monat voll. Das | |
ermöglicht dem Versicherer, ihn als Vielfahrer zu erkennen – und ihm etwa | |
ein präventives Sicherheitstraining vorzuschlagen.“ Noch ein Beispiel: | |
„Laura plant eine Thailand-Reise. Sie hat ihren Flug und ihre Unterkunft | |
online gebucht. Der Versicherer kann sie damit als ‚zukünftige Reisende‘ | |
identifizieren und ihr empfehlen, ihren Reiseversicherungsschutz zu | |
überprüfen.“ | |
Mehr als eine Million Franzosen hätten sich schon für eine parametrische | |
Versicherung entschieden, erklärt der Finanzexperte. Möglicherweise schon | |
bevor sie „der Zahlung zugestimmt“ haben. Für die Big Five der | |
Digitalbranche (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) ist dieser | |
Aspekt eine der erfreulichsten Neuerungen, die DSP2 mit sich bringt. | |
„Self-Driving Finance“ (autonome Finanzen) ermöglicht es den | |
Internetriesen, über vernetzte Geräte und Sprachsoftwares wie Siri, Alexa | |
oder Google Home mitzuhören und – nach einer Autorisierung per SMS – für | |
uns Überweisungen vorzunehmen. „Amazon, Google und Apple haben bereits | |
DSP2-Lizenzen, nutzen sie aber noch nicht“, sagt Maldonato. Die | |
Voraussetzung für eine Welt, in der Maschinen unsere Wünsche (und Einkäufe) | |
voraussehen, ist geschaffen. Vorausgesetzt, man hat Internet. | |
Den ehemaligen Google-Chef Eric Schmidt hat der Probelauf für eine maximal | |
vernetzte Gesellschaft offenbar begeistert. Und das, obwohl sie gleichwohl | |
Millionen Bürger ausgrenzt. Am 10. Mai sagte er dem TV-Sender CBS News: | |
„Die Monate der Quarantäne haben uns um zehn Jahre vorangebracht. Das | |
Internet ist plötzlich nicht mehr nur eine Option. Es ist unabdingbar, | |
damit wir Geschäfte machen und arbeiten können – und um zu leben.“ | |
1 Vgl. Pauline Damour, „Guichets, tarifs: les usagers de la SNCF au bord de | |
la crise de nerf“, Challenges, Paris, 6. Juli 2019. | |
2 Insee Première, numéro 1780, Paris, Oktober 2019. | |
3 „La téléconsultation médicale en plein essor“, Reuters, 27. März 2020. | |
4 Vgl. Jérôme Hourdeaux, „La Cnil s’inquiète d’un transfert possible d… | |
données de santé aux États-Unis“, Mediapart, Paris, 8. Mai 2020. | |
5 „Baromètre du numérique 2019“, Centre de recherche pour l'étude et | |
l'observation des conditions de vie (Credoc), Paris. | |
6 „La couverture des zones peu denses“, Autorité de régulation des | |
communications électroniques et des Postes (Arcep), 21. April 2020. | |
7 Siehe Félix Tréguer, „Wenn die Polizei dein Fieber misst“, LMd, Mai 202… | |
8 Julien Maldonato, Marine Bauchère, Elsa Mallein-Gerin und Chloé Dreher, | |
„Ouverture des données: une bonne nouvelle pour les banques, assureurs et | |
leurs clients!“, Blog Deloitte, 24. Mai 2019. | |
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver | |
4 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[2] /Emmanuel-Macron/!t5019742 | |
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Julien Brygo | |
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