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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Arbeit, Familie, WLAN
> Frankreich bereitet sich auf eine totale Digitalisierung vor. Die
> Coronapandemie bildet den Praxistest für ein Leben, das ohne Smartphone
> nicht möglich ist.
Bild: Während der Ausgangssperre arbeitete ein Viertel der Berufstätigen in F…
Erfreuliche Meldung in den 20-Uhr-Nachrichten am 6. Mai: Am 50. Tag der
Ausgangssperre, als Schutzausrüstung Mangelware war, kündigte die Pariser
Stadtregierung die kostenlose Ausgabe von Masken in den 906 Apotheken der
Hauptstadt an. Allerdings unter einer Bedingung: Die Pariser müssten sich
„im Internet anmelden“, einen Gutschein herunterladen und in der Apotheke
vorzeigen – als Ausdruck oder direkt auf dem Handy. Dann bekämen sie eine
Maske, deren Tragen in den öffentlichen Verkehrsmitteln verpflichtend ist.
Willkommen im „totalen Internet“! Was vor der [1][Coronapandemie] bereits
eine galoppierende Entwicklung war, geht nun mit der Rasanz eines Taifuns
voran: Es ist der Praxistest für eine Welt ohne Kontakt. Gestern betraf es
den Antrag auf Arbeitslosengeld, den Personalausweis, eine
Aufenthaltsgenehmigung oder Fahrzeugpapiere; heute geht es um ein basales
Hygieneprodukt, aber auch um das Recht auf Arbeit, Gesundheit, Freizeit,
Bildung – und Familie.
Nach Angaben des Instituts Médiamétrie betrug die Zeit, die die Franzosen
zwischen dem 17. und 31. März 2020 täglich im Internet verbrachten, 2
Stunden und 50 Minuten, eine Erhöhung um 36 Prozent gegenüber März 2019
(beim Fernsehkonsum waren es zwischen dem 17. März und dem 26. April
durchschnittlich 4 Stunden und 41 Minuten, ein Zuwachs von mehr als einem
Drittel).
Lehrer, die am Bildschirm unterrichten, Ärztinnen, die Online-Sprechstunden
abhalten, Manager, die sich in Pantoffeln von zu Hause in ihre Arbeit
stürzen (oder auch nicht), und Dozentinnen, die Examina aus der Ferne
überwachen – die Digitalisierung hat im Alltag ein solches Ausmaß
angenommen, dass der Besitz eines internetfähigen Geräts lebensnotwendig
ist. Ohne Internet keine Maske, keine ärztliche Behandlung, kein Homeoffice
(während der Ausgangssperre arbeitete ein Viertel der Berufstätigen in
Frankreich von zu Hause), aber auch kein Zugang zu den
Sozialversicherungskonten und zur Bank.
## Jeder Fünfte ein „digitaler Analphabet“
Nach der Quarantäne Zug fahren? Unmöglich ohne Internet. Mit dem 11. Mai
hat die staatliche Eisenbahngesellschaft (SNCF) in der Region
Hauts-de-France ein Couponsystem eingeführt. Wer mit dem Regionalzug von
oder nach Lille fahren möchte, muss sich seinen Platz online sichern – nach
dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Am Bahnhof selbst werden
keine Coupons verkauft. Die SNCF hat innerhalb von zehn Jahren 5000 Stellen
im Service abgebaut (1000 allein 2019).1 Wer über kein Smartphone verfügt,
mit dem Internet nicht vertraut ist oder einfach nicht ständig online sein
und potenziell überwacht werden will, wird künftig außen vor bleiben.
Die Zahl der Nichtvernetzten ist indes hoch. 2019 hatte laut dem nationalen
Statistikamt (Insee) jeder fünfte Franzose über 18 Jahren Schwierigkeiten,
im Netz zu navigieren, das sind Millionen von Menschen, die mit dem
barbarischen Begriff „digitale Analphabeten“ bezeichnet werden. Für die 15
Prozent der über 15-Jährigen, die 2019 das Internet gar nicht genutzt
haben, oder die 38 Prozent der Nutzer, die angeben, nicht einmal über
basale Computerkenntnisse zu verfügen, verschließt sich gerade eine Welt.2
Die französische Regierung hält daran fest, bis 2022 ihre Bürger-Dienste
vollständig zu digitalisieren. Am 30. März empfahl sie allen Franzosen, die
nicht mit dem Internet umgehen können, eine Website. Zum Glück findet man
auf der Seite solidarité-numérique.fr auch eine Telefonnummer – ein letztes
Zugeständnis vor der endgültigen Aufgabe ganzer Bevölkerungsteile.
Für Thibaud Zaninotto war das Gespenst des totalen Internets bereits vor
Beginn der Ausgangssperre Alltag. Ende 2019 arbeitete der Arzt noch „an der
Front“, wie er sich ausdrückt: in der Notaufnahme eines großen Pariser
Krankenhauses. Was er dort erlebte, habe ihn komplett demoralisiert:
„70-jährige Patienten wurden 48, sogar 72 Stunden auf einer Liege im Flur
sich selbst überlassen. Es war schon ein Wunder, wenn sie ein Glas Wasser
bekamen, um das sie gebeten hatten.“ Statt sich um die Patienten zu
kümmern, verbrachte Zaninotto „jeden Tag fast zehn Stunden vor dem
Bildschirm, weil jeder durchgeführte Handgriff digital registriert werden
musste“. Im Dezember 2019 entschied sich der 30-Jährige, die Notfallstation
zu verlassen und in eine Praxis zu gehen.
## 60 bis 70 Prozent der Sprechstunden per Video
Vier Monate später ist über Zaninotto die Welt zusammengebrochen: Die
Computer haben ihn eingeholt – und das Virus. „Ich habe mich mit Covid-19
angesteckt“, berichtet er Anfang April in einem Videointerview. Man sah ihm
die zwei Wochen Krankheit noch an.
Als er wieder auf den Beinen war, übernahm er die Vertretung eines Kollegen
im 18. Pariser Arrondissement. 60 bis 70 Prozent seiner Sprechstunden
fanden per Video über Doctolib statt, dem französischen Marktführer für
Online-Terminvergabe und -Behandlung. „Ich hatte nie vor, das zu nutzen. Es
fehlt die Wärme, der menschliche Kontakt, aber in der jetzigen Situation
ist es nicht schlecht, denn in einer Gemeinschaftspraxis ist es unmöglich,
sich vollständig vor einer Ansteckung zu schützen.“
Über eine Sache jedoch begann sich Zaninotto zu wundern: „Nach ein paar
Tagen habe ich mich gefragt, wo eigentlich die Patienten über 50 sind. Auf
meinem Bildschirm sehe ich sie nicht. Das Durchschnittsalter meiner
Patienten liegt zurzeit zwischen 25 und 30 Jahren. Es sind Leute, die
wissen, wie man eine App mit Video nutzt.“ Der Arzt sieht hier eine
„soziale Auslese“ und einen Zusammenhang zwischen dem Erfolg von Doctolib
und den „unendlichen Warteschlangen“ vor den Praxen in seinem Viertel, die
noch Sprechstunden ohne Termin anbieten.
Eine Mittelohrentzündung erkennen, eine Erkältung behandeln: „Wie wollen
Sie auf einem Bildschirm die tatsächliche Farbe eines Rachens erkennen oder
die eines entzündeten Ohrs? Ich versuche, so viele Fragen wie möglich zu
stellen, um zu einer Diagnose zu kommen. Die Leute werden sich daran
gewöhnen, nehme ich an. Das ist ein Testlauf für die Medizin von morgen,
denn im Moment haben wir keine Wahl.“ Technisch funktioniere es ganz gut,
gibt Zaninotto zu, „viel besser als die gammeligen Gerätschaften in den
öffentlichen Pariser Krankenhäusern“.
## Goldmine für viele
Die gesetzliche Krankenversicherung (Assurance Maladie) berichtet, dass
französische Ärzte allein in der letzten Märzwoche 2020 fast eine halbe
Million Videokonsultationen durchgeführt haben. Zum Vergleich: Im gesamten
Jahr 2019 waren es nur 60 000. In den folgenden Wochen schossen die Zahlen
noch einmal in die Höhe. Allein über die Plattform Doctolib wurden in den
ersten fünf Wochen der Ausgangssperre (die am 17. März begann) 2,5
Millionen Videosprechstunden durchgeführt.
Doctolib, ein mit staatlicher Förderung und mit Hilfe des
Business-Inkubators Agoranov gegründetes Start-up, das mittlerweile mehr
als 1 Milliarden Dollar wert ist, finanziert sich durch eine monatliche
Gebühr von 129 Euro, die registrierte Ärzte entrichten müssen. Ende 2017
verzeichnete die Website 30 000 Mediziner und 12 Millionen Besucher. Zwei
Jahre später, im Mai 2019, waren es 80 000 Mediziner und 30 Millionen
Besucher. Im Januar 2019 führte Doctolib Online-Sprechstunden ein, gegen
eine Gebühr von 79 Euro pro Termin, die in der Coronakrise aber entfiel.
Anfang April stieg die Zahl der täglichen Videotermine von 1000 auf 100
000. „Und sie steigt stündlich“, verkündete Doctolib-Mitbegründer und CEO
Stanislas Niox-Château. Er schätzt, dass auch nach der Pandemie in
Frankreich 15 bis 20 Prozent der Arzttermine per Video stattfinden werden.3
Kein Zweifel, Doctolib wird angesichts der medizinischen Wüste Teil der
Lösung werden. Das Bankkonto des Gründers dürfte bereits jetzt eine sehr
gesunde Bilanz aufweisen: 2018 wurde der „megahart arbeitende“ ehemalige
Tennisprofi mit seinen Partnern erstmals in der Rangliste der 500 größten
Vermögen Frankreichs gelistet, die das Wirtschaftsmagazin Challenges
veröffentlicht. Die Daten, die Millionen Franzosen hinterlassen, die über
Doctolib Ärzte konsultieren, sind außerdem eine wahre Goldmine für
Versicherungen, Werbeagenturen, Polizei und Onlinehändler.
Am 21. April 2020 gestattete die Regierung per Erlass, dass die
Krankenkassen und die von [2][Präsident Macron] initiierte
Gesundheitsplattform Health Data Hub, die mit Hilfe von KI arbeitet,
während des Ausnahmezustands in großem Umfang Informationen über Nutzer
sammeln dürfen. Angeblich „ausschließlich zu dem Zweck, Gesundheitsdaten
für das medizinischen Notfallmanagement und die Erweiterung des Wissens
über das Covid-19-Virus zu erheben“.4
## Neusprech, den alle intuitiv verstehen sollen
Kleines Detail: Die Daten dieser Plattform, die Versicherungsakten,
Krankenhausrechnungen, Todesursachen, sozialmedizinische Daten von
Behinderten und Abrechnungen von Kostenerstattungen umfassen, befinden sich
in der Cloud des US-Giganten Microsoft, der seit Ende 2018 in Frankreich
als zertifizierter Host fungiert. Auf der Grundlage des US-amerikanischen
Cloud Act können Polizeibehörden und Geheimdienste der USA auf
Informationen zugreifen, die auf diesem Server liegen. Die französische
Datenschutzbehörde CNIL äußerte am 23. April ihre Bedenken, doch die
Regierung teilt ihre Sorge nicht.
Öffentlicher Dienst, Gesundheitssystem, Unterhaltungsbranche: Es gibt kaum
einen Bereich, der während der Coronapandemie nicht vom Sturm der
Digitalisierung erfasst worden wäre. Besonders im Bildungsbereich erweist
sich die Ausgangssperre als geeignet für den Testlauf einer kontaktlosen
Gesellschaft. Bereits vor Corona nutzten die französischen Lehrerinnen mit
ihren Schülern „virtuelle Klassenzimmer“. Seit einigen Jahren können Elte…
die Zeugnisse und Mitteilungshefte ihrer Sprösslinge online einsehen. Doch
mit der Pandemie haben sich die Herausforderungen vervielfacht. Zahllose
neue Begriffe bilden ein Neusprech, das alle intuitiv verstehen sollen.
„Im März 2020“, erzählt Yasmina B., Dozentin an einer französischen
Architekturhochschule, „hat die Leitung in Windeseile eine völlig
unverständliche Erklärung zu den neuen technischen Hilfsmitteln
zusammengeschrieben. Darin ist die Rede von ‚Pädagothek‘, neuen Softwares
wie Moodle, die über BigBlueButton zugänglich sind. Für die Konferenzen in
kleinen Gruppen sollen wir ‚den Bildschirm teilen‘, unsere Videos ‚offline
depublizieren‘ und PDFs an die Schüler ‚forwarden‘. Allein um die Schrei…
zu verstehen, die wir von der Schulleitung bekommen, bräuchten wir eine
Ausbildung.“
Nicht nur sind die Lehrer von der Qualität der Informationstechnologie
abhängig, sie verlieren beim Onlineunterricht auch die einzelnen Schüler
aus den Augen. „Die ganze Technik macht es unmöglich, sich auf das
Wichtigste zu konzentrieren, den Stoff und die Schüler“, schimpft eine
Lehrerin, die ernsthaft darüber nachdenkt, ihren Job mitsamt den ganzen
Apps hinzuschmeißen. „Wir sind nun gezwungen, unser Leben vor dem
Bildschirm zu verbringen, das ist eine Katastrophe. Es ist ja faktisch so,
dass wir es mit Digital Natives zu tun haben, die wir niemals einholen
können.“
## Start-ups und Digitalkonzerne als Gewinner
Weltweit verschärft der Online-Unterricht die Bildungsungleichheit. Im
April warnte die Unesco, dass „die Hälfte aller Lernenden weltweit – etwa
826 Millionen Schüler –, die aufgrund der Covid-19-Pandemie gerade nicht
zur Schule gehen können, zu Hause keinen Computer haben. 43 Prozent (706
Millionen) haben keinen Zugang zum Internet.“ Trotzdem findet in den
meisten Ländern Unterricht durch digitales Homeschooling statt.
Insee zufolge fehlt es 19,2 Prozent der Franzosen zwischen 15 und 29 Jahren
in mindestens einem Teilereich der IT an den nötigen Kompetenzen. Es gibt
wohl keinen Lehrer, der nicht eine Anekdote beisteuern könnte: Schüler, die
die komplette Mail ins Betreff-Feld tippen; solche, die für jede Antwort
einen neuen Thread öffnen; und wieder andere, die zwar wissen, wie man auf
Facebook etwas „likt“, aber nicht, wie man eine Mail mit Anhang verschickt.
Die Gewinner dieser Generalprobe sind die Start-ups und die großen
Digitalkonzerne. „Die Software, mit der wir arbeiten sollen, rangiert
irgendwo zwischen Minitel und Windows 95“, spottet Florian Petit,
Philosophielehrer an einem Gymnasium in Senlis (Oise). „Man verlangt von
uns, virtuelle Klassenzimmer einzurichten und Apps wie I-Prof zu verwenden,
um mit der Schulleitung zu kommunizieren. Ab Tag eins der Ausgangssperre
hat nichts funktioniert, alles war überlastet. Ich habe es gemacht wie
viele meiner Kollegen, ich habe meine Schüler aufgefordert, die App Slack
zu nutzen.“
Die Nutzerzahlen des US-amerikanische Messengerdienst Slack stiegen
zwischen Februar und März um 350 Prozent. Lehrer Petit gibt das zu denken:
„Wir haben keine Ahnung, was mit den gesammelten Daten geschieht. Aber wir
haben keine Wahl, im Namen einer fragwürdigen pädagogischen Kontinuität
sind wir angehalten, mit unseren Schülern im täglichen digitalen Kontakt zu
stehen.“
## 2019 fast ein Viertel ohne Smartphone
Die Totalisierung des Internets betrifft auch den Bankensektor, der gerade
einen Liberalisierungsschub erlebt, der an die 1980er Jahre erinnern lässt.
Ende Dezember 2019 wurde der selbständige Architekt Hugo Bricout, der sein
Büro in Dunkerque (Département Nord) hat, zu seiner Bank bestellt. Zwei
Monate zuvor hatte die Bank dem 28-Jährigen eine E-Mail geschickt: „Ihm
Rahmen der europäischen Richtlinie zum Zahlungsverkehr (DSP2) wird das
Sicherheitsniveau beim Zugang zu Ihrem Kundenkonto erhöht. Bitte denken Sie
daran, Ihr Smartphone zur Hand haben, um die Anmeldung auf Ihrem
Kundenkonto zu bestätigen.“
Hugo Bricout gehörte allerdings zu den rund 23 Prozent Franzosen, die 2019
kein Smartphone besaßen.5 Er konnte sich die App also nicht herunterladen
und sich nicht authentifizieren. Am Tag seiner Einbestellung musste er sich
eine Standpauke anhören.
„In der Bankfiliale sah ich die Vitrine mit Smartphones, die zum Verkauf
angeboten wurden. Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, das Ding kaufst du
nicht“, erzählt Bricout, der sich trotz der Ausgangssperre immer noch keins
angeschafft hat. Seine Kontoauszüge bekommt er weiterhin per Post, aber
kann er weder eine Überweisung vornehmen noch online einkaufen.
So kommt er auch nicht in den digitalen Genuss, ständig einen Zugangscode
eintippen zu müssen und sein eigenes Stresslevel dem Ladestatus seines
Akkus anzugleichen. Tatsächlich unterscheidet sich laut einer Studie der
Cass Business School der City University of London die Wahrnehmung unserer
Umwelt je nachdem, ob der Akkustand unseres Handys bei 5 oder bei 95
Prozent liegt.
## Ohne Smartphone kein Kontozugang
„Ich bin niemand, der viel im Netz ist. Ich verbringe ohnehin schon viel
Zeit am Computer, um zu arbeiten, mich abzulenken oder Mails zu
verschicken. Ich habe dadurch Rückenprobleme. Ich habe keine Lust, ständig
das Internet in der Tasche zu haben. Ich hasse das. Es ist unglaublich,
dass der Besitz eines Smartphones mittlerweile die Voraussetzung ist, um an
sein eigenes Geld zu kommen!“, schimpft Bricout.
Die DSP2-Richtlinie zum Zahlungsverkehr, die offiziell seit September 2019
gilt, war für die kleinen wie großen Online-Händler und Kunden ohne
Smartphone derart beängstigend, dass die Pflicht zur „starken
Authentizifierung“, die einem potenziellen Smartphone-Zwang für alle
gleichkommt, von der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde auf Ende 2020
verschoben wurde. Doch die Aussicht bleibt dieselbe: Alles soll über das
Smartphone laufen – es sei denn, die Banken entscheiden sich für ein
alternatives Verfahren zur „starken Authentifizierung“, was derzeit jedoch
wenig wahrscheinlich erscheint.
Bricout, der auf dem Bauernhof seiner Familie in Brouckerque wohnt, lebt
wie 18 Prozent der Franzosen in einem dünn besiedelten Gebiet, ohne
schnelles Breitband-Internet: So sieht die Realität für 22 500 ländliche
Gemeinden und 63 Prozent des französischen Territoriums aus.6 Die einzige
Möglichkeit ist, 30 Euro monatlich für eine 4G-Router zu zahlen, der das
Mobilfunknetz für den Computer nutzbar macht. Hugo Bricouts Eltern Jacky
und Annie wohnen gleich nebenan. Sie haben auf ihrem Hof einen
Lernbauernhof, La ferme des ânes („Eselhof“), gegründet. „Für sie ist …
noch schlimmer“, sagt Bricout. Sie haben überhaupt keinen Zugriff mehr auf
ihr Bankkonto.“
Anfang des Jahres standen die beiden vor vollendeten Tatsachen: Sie kamen
nicht mehr an das Bankkonto ihres Vereins bei der Crédit Mutuel. Wie ihr
Sohn besitzen sie weder ein Smartphone noch die App zur Authentifizierung.
Da sie einen Angestellten beschäftigen und auf ihrem Konto regelmäßig
Geldbewegungen stattfinden, haben sie nun ein ernsthaftes Problem.
In der Bankfiliale im zehn Kilometer entfernten Bourbourg habe man Jacky
Bricout geraten, sich von seinem Verein ein Smartphone finanzieren zu
lassen. Die postalische Zusendung der Kontoauszüge habe man
glücklicherweise noch nicht eingestellt, sagt er. „Die einzige Möglichkeit,
bei der Bank einen echten Menschen zu erwischen, ist die Zeit abzupassen,
in der unser Sachbearbeiter arbeitet. Es war wie vor 40 Jahren, als alles
noch von Menschen erledigt wurde.“ Aber die Filiale von Crédit Mutuel in
Bourbourg wird, wie viele andere in Frankreich, dieses Jahr geschlossen
werden. „Machen Sie schnell noch einen Termin, bevor es nicht mehr möglich
ist“, hatte sie der Bankangestellte vor der Ausgangssperre gewarnt.
## „Vorstellung von der Hölle“
Zwischen 2009 und 2016 sind dem Französischen Bankenverband FBF zufolge
14,9 Prozent der Bankfilialen im Land verschwunden (Le Figaro, 15. März
2019). „All diese Dinge, die uns auf autoritäre Weise einfach übergestülpt
werden: Video-Sprechstunden beim Arzt, Steuererklärung online, Unterricht
online, QR-Codes auf Bescheinigungen. Die Behörden wissen alles über uns:
was wir arbeiten, was wir verdienen, welche Sozialleistungen wir beziehen,
wie viel Geld wir auf dem Bank haben, wo wir uns gerade aufhalten … Und
ohne Smartphone werden wir bald zu nichts mehr Zugang haben. Das ist
wirklich die Vorstellung von der Hölle“, schimpft Jacky Bricout.
Er denkt auch an den Gesundheitscheck, den ihm seine Versicherung 2019
empfohlen hat. „Um ihn in Anspruch zu nehmen, musste man sich bei Doctolib
anmelden. Der öffentliche Dienst nutzt diese Apps, um Verwaltungskosten
einzusparen und so viel wie möglich auszulagern.“
Er macht eine Pause, dann sagt er: „Aus dem Spiel ist Zwang geworden.
Unsere Generation hat noch von den guten Seiten des Internets profitiert –
die Filme, die Blogs, das Austauschen von Wissen –, aber was wird aus der
nächsten?“ In seiner Suada kommt er ebenfalls auf das von Israel während
der Ausgangssperre praktizierte Tracking seiner Bürger mittels GPS-Daten
und auf das chinesische Sozialkreditsystem zu sprechen.7
Julien Maldonato, Mitarbeiter beim Wirtschaftsprüfungs- und
Beratungsunternehmen Deloitte, weiß, dass die DSP2-Richtlinie auch „von der
Welt der Finanzdienstleister nicht gerade wohlwollend aufgenommen wurde“.
Doch er ist optimistisch, dass die Geldinstitute von diesem „ersten Schritt
in Richtung Open Banking“8 profitieren werden – mit diesem Begriff wird die
Öffnung von Banken gegenüber Drittanbietern bezeichnet.
## Zugriff auf Kontos, um das Leben zu verbessern
Denn nicht nur Autos, Lkws und Saugroboter, auch die Banken werden
„autonom“. Die DSP2, die zum Kampf gegen Computerpiraterie und -betrug
eingeführt wurde, wird die Digitalisierung beschleunigen und eine wahre
Goldgrube erschließen: die der Bankdaten. Mit der 2015 verabschiedeten und
2018 in Kraft getretenen Liberalisierung können sogenannte
Fintech-Unternehmen wie Linxo oder Bankin auf die Kontodaten ihrer Kunden
zuzugreifen und ihnen Verbesserungen vorschlagen.
Im Bankjargon heißt das dann „parametrische Versicherung“. Julien Maldonato
erklärt: „Herr Sowieso kauft mit seiner EC-Karte häufig minderwertige,
gentechnisch veränderte Lebensmittel im Laden um die Ecke. Seine
Fintech-App schlägt ihm dann etwa vor, stattdessen in einem Partnerladen
einzukaufen, wo Bio-Ware angeboten wird. Oder Frau Sowieso merkt, dass ihre
Spritkosten ständig steigen. Die App wird ihr dann empfehlen, ein
sparsameres Auto zu kaufen.“ Und so weiter.
„Mit Hilfe der Bankdaten lassen sich zusätzliche Absatzmöglichkeiten
ausfindig machen. Nehmen wir das Beispiel der Versicherung“, erläutert der
Fachmann: „Paul ist Autofahrer und tankt dreimal im Monat voll. Das
ermöglicht dem Versicherer, ihn als Vielfahrer zu erkennen – und ihm etwa
ein präventives Sicherheitstraining vorzuschlagen.“ Noch ein Beispiel:
„Laura plant eine Thailand-Reise. Sie hat ihren Flug und ihre Unterkunft
online gebucht. Der Versicherer kann sie damit als ‚zukünftige Reisende‘
identifizieren und ihr empfehlen, ihren Reiseversicherungsschutz zu
überprüfen.“
Mehr als eine Million Franzosen hätten sich schon für eine parametrische
Versicherung entschieden, erklärt der Finanzexperte. Möglicherweise schon
bevor sie „der Zahlung zugestimmt“ haben. Für die Big Five der
Digitalbranche (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) ist dieser
Aspekt eine der erfreulichsten Neuerungen, die DSP2 mit sich bringt.
„Self-Driving Finance“ (autonome Finanzen) ermöglicht es den
Internetriesen, über vernetzte Geräte und Sprachsoftwares wie Siri, Alexa
oder Google Home mitzuhören und – nach einer Autorisierung per SMS – für
uns Überweisungen vorzunehmen. „Amazon, Google und Apple haben bereits
DSP2-Lizenzen, nutzen sie aber noch nicht“, sagt Maldonato. Die
Voraussetzung für eine Welt, in der Maschinen unsere Wünsche (und Einkäufe)
voraussehen, ist geschaffen. Vorausgesetzt, man hat Internet.
Den ehemaligen Google-Chef Eric Schmidt hat der Probelauf für eine maximal
vernetzte Gesellschaft offenbar begeistert. Und das, obwohl sie gleichwohl
Millionen Bürger ausgrenzt. Am 10. Mai sagte er dem TV-Sender CBS News:
„Die Monate der Quarantäne haben uns um zehn Jahre vorangebracht. Das
Internet ist plötzlich nicht mehr nur eine Option. Es ist unabdingbar,
damit wir Geschäfte machen und arbeiten können – und um zu leben.“
1 Vgl. Pauline Damour, „Guichets, tarifs: les usagers de la SNCF au bord de
la crise de nerf“, Challenges, Paris, 6. Juli 2019.
2 Insee Première, numéro 1780, Paris, Oktober 2019.
3 „La téléconsultation médicale en plein essor“, Reuters, 27. März 2020.
4 Vgl. Jérôme Hourdeaux, „La Cnil s’inquiète d’un transfert possible d…
données de santé aux États-Unis“, Mediapart, Paris, 8. Mai 2020.
5 „Baromètre du numérique 2019“, Centre de recherche pour l'étude et
l'observation des conditions de vie (Credoc), Paris.
6 „La couverture des zones peu denses“, Autorité de régulation des
communications électroniques et des Postes (Arcep), 21. April 2020.
7 Siehe Félix Tréguer, „Wenn die Polizei dein Fieber misst“, LMd, Mai 202…
8 Julien Maldonato, Marine Bauchère, Elsa Mallein-Gerin und Chloé Dreher,
„Ouverture des données: une bonne nouvelle pour les banques, assureurs et
leurs clients!“, Blog Deloitte, 24. Mai 2019.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
4 Jul 2020
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