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# taz.de -- Solo-Selbstständige in Coronakrise: Kein Ansturm auf Hartz IV
> In der Coronakrise wurde der Zugang zu Hartz IV deutlich vereinfacht.
> Bisher haben aber nur 68.000 Selbstständige die Grundsicherung beantragt.
> Warum?
Bild: Nur wenige Solo-Selbstständige kommen hierher: Jobcenter in Berlin-Mitte
Berlin taz | Die Pandemie hat manches bewirkt – in Deutschland auch eine
Sozialreform. Seit März dieses Jahres ist es viel einfacher,
[1][Grundsicherung (Hartz IV)] zu bekommen. Im Gegensatz zu früher müssen
die Antragsteller*innen erhebliche Vermögen nicht mehr angeben. Und die
Jobcenter sollen auch Wohnungskosten übernehmen, die sie vor [2][Corona]
niemals akzeptiert hätten. Besonders Selbstständige und
Kleinunternehmer*innen profitieren davon. Nun ist es Zeit für erste
Erfahrungsberichte – und vielleicht für Lehren, die man daraus ziehen
könnte.
„Manche Leute machten sich große Sorgen, dass sie ihre Wohnungen verlassen
müssten, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnten“, sagt Renate Stark,
eine Beraterin der Caritas in Berlin. „Doch das Jobcenter zahlte die Mieten
mehr oder weniger anstandslos.“ Astrid Mast, die Geschäftsführerin des
Jobcenters Esslingen bei Stuttgart, berichtet: „Die allermeisten Anträge
wurden bewilligt, nur einzelne abgelehnt, weil das Vermögen über 60.000
Euro lag.“
In Esslingen arbeiten bereits seit Jahren einige Spezialist*innen, die
vor allem Selbstständige beraten. Ab März meldeten sich bei ihnen rund 150
Gastronomen, Grafikerinnen, Künstler, Dolmetscher, Friseurinnen, aber auch
Rechtsanwältinnen oder Fahrlehrer – allesamt Leute, deren Kleinfirmen
plötzlich keine Einnahmen mehr hatten.
Auch Ralph Lauhoff-Baker vom Jobcenter in Bielefeld sagt: „Nach unseren
Rückmeldungen sind die Erfahrungen mit dem vereinfachten Verfahren ganz
überwiegend positiv.“ Die Sachbearbeitung werde durch den vorübergehenden
„Wegfall von Prüfungserfordernissen entlastet, und das vereinfachte
Verfahren bietet den Rahmen, über die hohe Anzahl an Anträgen zeitnah zu
entscheiden“.
## Ein Schritt Richtung Grundeinkommen?
Konkret hat die Bundesregierung ab März diese Erleichterungen eingeführt:
Antragsteller*innen können Hartz IV auch dann bekommen, wenn sie 60.000
Euro Vermögen haben, beispielsweise für die Rente. Pro Haushaltsmitglied
kommen 30.000 Euro Freigrenze hinzu, Betriebskapital bleibt ebenfalls außen
vor. „Für die Höhe der Mieten, die wir übernehmen, gibt es bis zunächst 3…
September keine Obergrenze“, ergänzt Geschäftsführerin Mast. 1.500 Euro
warm pro Monat für eine große Wohnung? Kein Problem, das Jobcenter
überweist.
Angesichts der Verbesserungen wirkt es allerdings erstaunlich, wie wenige
Selbstständige seit März überhaupt Grundsicherung beantragten. Nach den
neuen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit vom Mittwoch waren es von April
bis Juni nur gut 68.000 bundesweit. Als die Bundesregierung ihr
Sozialschutzpaket beschloss, rechnete sie mit einer Million
Antragsteller*innen aus dem Kreis der freien Berufe und
Soloselbstständigen.
Die niedrige Zahl lässt sich in zwei Richtungen interpretieren. Einerseits
wurden die Hürden bei Hartz IV nur gesenkt, nicht abgeschafft. Wer
Grundsicherung erhalten will, muss weiterhin seine oder ihre Bedürftigkeit
nachweisen. Das bedeutet etwa, dass zunächst Ehe- und
Lebenspartner*innen mit ausreichendem Einkommen für den Lebensunterhalt
verantwortlich sind, nicht der Staat. Das mag potenzielle Bewerber*innen
abschrecken.
Andererseits zeigte sich aber wohl auch, dass der Sozialstaat nicht
überrannt wird, selbst wenn er sich kulant verhält. Viele Leute wollen
offenbar keine Nothilfe, wenn sie nicht wirklich in Not sind. Das gilt
übrigens nicht nur für die Selbstständigen, sondern auch für die große
Gruppe der Hartz-IV-Bezieher*innen, deren Zahl trotz Corona im
Jahresvergleich nur um 150.000 auf gut vier Millionen stieg.
Einen „echten Feldversuch“ nennt die Erleichterungen deshalb Ulrich
Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Der
Sozialstaat funktioniere auch ohne „Sanktionen und Drangsalierungen“.
Folglich befürwortet Schneider, dass die Reform auch nach Corona
beibehalten wird. Bisher ist sie bis Ende September befristet, vielleicht
gibt es eine Verlängerung, aber dann will die Regierung sie wohl
zurücknehmen. Außerdem verlangt der Verband „eine sehr erleichterte
Einkommensprüfung, die ständige Neuanträge überflüssig macht“. Besonders
bei älteren Menschen in der Grundsicherung sei eine Überprüfung alle zwei
Jahre ausreichend.
Obwohl der Paritätische eine „sanktionsfreie“ Grundsicherung fordert, will
er von einem Grundeinkommen für alle nichts wissen. Die Befürchtung: Dem
würden die bisherigen Sozialleistungen geopfert. Für viele
Unterzeichner*innen der [3][aktuellen Petitionen für ein
bedingungsloses Grundeinkommen] sieht die Sache anders aus: Sie fühlen sich
ermutigt und betrachten die coronabedingte Hartz-Reform als Schritt in
Richtung ihrer Vision.
3 Jul 2020
## LINKS
[1] /Experte-ueber-das-Sozialschutzpaket-II/!5685787
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
[3] /Petition-im-Bundestag/!5681273
## AUTOREN
Hannes Koch
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
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Hartz IV
Anja Karliczek
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