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# taz.de -- Kampagne gegen Klischees über Hartz-IV: Arbeiten wollen fast alle
> Subtilere Ressentiments, aber immer noch spürbar: Hartz-IV-Beziehende
> müssen weiterhin gegen Vorurteile kämpfen. Das zeigt eine Studie.
Bild: Lange her: Eine Montagsdemonstration gegen die Hartz-IV-Reformen in Leipz…
„Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“, so gab
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder schon 2001 die Marschrichtung seiner
Politik vor. Erwerbslose wurden im Diskurs in den Nuller Jahren zumeist
pauschal als arbeitsunwillig, faul und verlottert herabgewürdigt. 2006 ließ
sich Kurt Beck, ebenfalls Sozialdemokrat, gar dazu hinreißen, einem Hartz
IV-Bezieher zu sagen: „Waschen und rasieren, dann kriegen Sie auch einen
Job“.
Doch wie sieht es heute, knapp 20 Jahre nach Beginn der letzten großen
Faulheitsdebatte aus? Eine neue, repräsentative Studie des Paritätischen
Wohlfahrtsverbands und der [1][NGO Sanktionsfrei] zeigt: Erwerbslose sind
noch immer Ziel vieler negativer Zuschreibungen. In der Studie stimmen
immerhin 65 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Jeder der arbeiten
möchte, findet einen Job.“ Knapp die Hälfte findet, dass Hartz-4-Beziehende
zu wählerisch seien, was die Jobsuche angeht. Und der stark
pauschalisierenden und abwertenden Aussage „Hartz-4-Empfänger*innen wollen
gar nicht arbeiten gehen“, stimmt immerhin ein knappes Drittel zu.
Betrachtet wurden dabei jeweils „stimme voll und ganz“ als auch „stimme
eher zu“-Antworten zusammen.
Das Problem: „Dem gegenüber stehen die empirischen und statistischen
Fakten“, sagen Sanktionsfrei und der Paritätische in einer gemeinsamen
Stellungnahme. Von den Erwerbslosen sei nur rund ein Viertel tatsächlich
arbeitslos, „während der Großteil erwerbstätig, in Ausbildung oder
Qualifizierungsmaßnahmen oder mit der Pflege oder Erziehung von Angehörigen
beschäftigt ist“, schreiben sie.
In Zahlen ausgedrückt: Von den rund 3,7 Millionen Hartz-IV-Beziehenden im
Dezember 2019 in der Grundsicherung waren fast eine Million Personen
Aufstocker*innen. Kaum verwunderlich, weil der Mindestlohn so niedrig ist,
dass er gerade so für einen Alleinstehenden in Vollzeit reicht, eine Person
über die Armutsschwelle zu bringen. Und: Während die Zahl der arbeitslosen
Leistungsbeziehenden seit 2007 bis Dezember 2019 um 2,2 Millionen sank,
blieb die Zahl der Aufstocker*innen nahezu konstant. Lag 2007 die Zahl der
Aufstocker*innen bei rund 1,1 Millionen Menschen, waren es im Ende 2019
noch immer 0,9 Millionen.
## Der Ton hat sich verändert
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des [2][Paritätischen
Wohlfahrtsverbands], beobachtet heute vor allem eine Tonveränderung in der
Debatte um Grundsicherungsbeziehende: „Die Ressentiments sind subtiler
geworden.“ Heute spreche man beispielsweise gerne von den Leuten, die ‚hart
arbeiten und früh aufstehen‘, sagt Schneider gegenüber der taz. „Aber das
ganze ist nur ein etwas besser verpackter Angriff auf die Menschen, die das
eben nicht tun, weil sie ihren Job verloren haben, oder auf die Hilfe des
Staats angewiesen sind.“
„Die Klischees werden nach wie vor genutzt, um Erwerbslosen oder anderen
Hilfsbedürftigen den ihnen eigentlich zur Deckung der Lebenskosten
zustehenden Regelsatz aufs Minimale zurecht zu stutzen“, kritisiert
Schneider. Denn wenn man sich nur bemüht, dann würde man ja einen Job
finden, glauben einige offenbar, sagt Schneider. Da könne man den Regelsatz
noch so niedrig ansetzen, als drohendes Damoklesschwert.
Doch genau aus diesem Grund haben der Paritätische und Sanktionsfrei noch
einen weiteren Mythos thematisiert: Den, dass Erwerbslose keine Arbeit
suchen wollten. Es gibt allerdings eine Reihe von Studien, die genau das
Gegenteil zeigen. Sanktionsfrei und der Paritätische verweisen
beispielsweise auf eine Studie des [3][Instituts für Arbeitsmarkt und
Berufsforschung] (IAB). Das Institut, als Tochter der Bundesagentur für
Arbeit ziemlich unverdächtig, Parteinahme für Erwerbslose zu betreiben, kam
2017 zum Schluss, dass fast alle Erwerbslose arbeiten wollen – und dafür
sogar besonders häufig auch eine Stelle unterhalb des eigenen
Qualifikationsniveaus oder zu schlechtere Arbeitszeiten annehmen würden.
## Für eine Handvoll Euro
Bei der anstehenden Regelsatz-Neuberechnung in diesem Spätsommer pochen die
beiden Verbände darauf, dass sich die Politiker*innen der Großen Koalition
nicht weiter von Klischeevorstellungen leiten lassen sollen. Die Große
Koalition solle eine „[4][bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze]“
vornehmen, zudem müssten die Sanktionen vollständig fallen, fordern die
Verbände. Konkret beziffert der Paritätische schon für 2020 die Mehrbedarfe
beim Regelsatz auf 160 Euro. Der liegt derzeit bei 424 Euro.
Allerdings: Die Chancen dafür stehen schlecht. In der vergangenen Woche
berichtete das [5][Redaktionsnetzwerk Deutschland] von einem Gesetzentwurf,
wonach die Regelsätze im Zuge der Neuermittlung um gerade einmal sieben
Euro steigen sollen.
7 Jul 2020
## LINKS
[1] https://hartz-plus.de/
[2] https://www.der-paritaetische.de/presse/pressemeldungen/hartz-iv-sanktionsf…
[3] https://www.iab.de/de/publikationen.aspx
[4] http://www.der-paritaetische.de/fachinfo/haushaltsueberschuss-paritaetische…
[5] https://www.rnd.de/politik/hartz-iv-diese-satze-sollen-ab-2021-gelten-TRMEX…
## AUTOREN
Alina Leimbach
## TAGS
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