# taz.de -- Ausschreitungen wegen Corona-Quarantäne: Tränengas in Göttingen | |
> Vor einem wegen Corona abgesperrten Wohnblock kommt es in Göttingen zu | |
> heftigen Auseinandersetzungen. Dort sitzen rund 700 Menschen in | |
> Quarantäne. | |
Bild: PolizistInnen vor dem Haus in der Groner Landstraße. Am Sonntag hatte si… | |
GÖTTINGEN taz | Vor dem nach einem Corona-Ausbruch abgeriegelten | |
Hochhauskomplex in Göttingen ist die Lage am Sonnabend eskaliert. Mehrere | |
der seit Donnerstag in dem Gebäude eingesperrten Bewohner bewarfen | |
Polizisten mit Gegenständen, Beamte setzten Tränengas ein – Augenzeugen | |
zufolge auch gegen Kinder. Es soll mehrere Verletzte gegeben haben. | |
Die Göttinger Stadtverwaltung hatte für die rund 700 gemeldeten Bewohner | |
der als soziale Brennpunkte geltenden Wohnblocks Groner Landstraße 9a-c | |
[1][nach ersten Corona-Fällen Tests angeordnet und eine Ausgangssperre | |
verhängt]. Nach den bisher bekannten Testergebnissen haben sich etwa 120 | |
Menschen aus dem Haus mit dem Virus infiziert. Unter den Bewohnern sind | |
viele Hartz-IV-Empfänger und Migranten, auch etwa 200 Kinder und | |
Jugendliche leben dort in äußerst prekären Verhältnissen. | |
Die Bewohner dürfen die Gebäude zunächst bis zum 25. Juni nicht verlassen. | |
Die Eingänge zu dem Grundstück sind verschlossen. Ein mobiles | |
Versorgungszentrum versorgt die Menschen mit Lebensmitteln, auch Windeln | |
und Hygieneartikel würden hier ausgegeben, sagt Sozialdezernentin Petra | |
Broistedt. | |
Eine Bewohnerin des Komplexes sagt allerdings: „Wir wurden ohne Vorwarnung | |
nicht mehr rausgelassen, konnten nicht vorher einkaufen. Was uns von der | |
Stadt gegeben wird, sind ein paar Äpfel und abgelaufene Chips!“ | |
Stadtverwaltung, Universitätsmedizin und Hilfswerke wie das Rote Kreuz und | |
die Johanniter betreiben vor Ort inzwischen auch eine Gesundheitsstation. | |
## Quarantäne trifft Familien in prekären Situationen | |
Zu der drastischen Maßnahme hat es aus Sicht von Göttingens | |
Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) und dem örtlichen Krisenstab | |
„keine Alternative“ gegeben. Der evangelische Göttinger Pfarrer und | |
Grünen-Ratsherr Thomas Harms spricht allerdings von einem „verschärften | |
Arrest“ für 700 Personen. Es sei fraglich, ob eine solche Maßnahme auch in | |
den besseren Wohngegenden angeordnet würde: [2][„Warum treffen | |
Ausgangssperren die Ärmsten der Armen, darunter sehr viele Kinder?]“ Die | |
Erniedrigten seien in Krisenzeiten mal wieder „die ersten der | |
Geschlagenen“, sagt Harms. | |
Auch die Basisdemokratische Linke in Göttingen kritisiert das Verhalten der | |
Stadt scharf. Hier würden 700 Leute, ohne sie vorab zu informieren, | |
„interniert“ und mit einem Großaufgebot an Ordnungskräften gezwungen, | |
zusammen mit den Infizierten auf dem Gelände zu sein. „Es wird riskiert, | |
dass der gesamte Wohnblock krank wird. Es wird in Kauf genommen, dass | |
Risikopatienten in Lebensgefahr gebracht werden.“ | |
Eine von der Gruppe ohnehin am Sonnabend geplante Kundgebung zum Aktionstag | |
„Shut down Mietenwahnsinn – sicheres Zuhause für alle!“ wurde kurzfristig | |
vom Marktplatz in unmittelbare Nähe der Groner Landstraße verlegt. Die etwa | |
250 Teilnehmenden hätten sich vor dem Gebäude versammelt, „um ihre | |
Solidarität mit den dort internierten Bewohnern zu zeigen sowie für den | |
Erlass von Corona-Mietschulden, Verringerung von Mieten und gute Wohnungen | |
für alle zu demonstrieren“, teilt Lena Rademacher von der | |
Basisdemokratischen Linken mit. | |
Kundgebungsteilnehmer verlasen Kritik und Forderungen der Bewohner: Die | |
Quarantäne sei nicht angekündigt worden, das Essen reiche nicht aus oder | |
sei abgelaufen, selbst Babynahrung und Windeln fehlten, Gesunde könnten | |
sich nicht von Infizierten fernhalten. Zahlreiche Bewohner verfolgten die | |
Redebeiträge aus den Fenstern heraus, mehrere dutzend weitere versammelten | |
sich an den Absperrungen. | |
## Pfefferspray gegen BewohnerInnen | |
Rademacher zufolge hat die Polizei die Situation auf der Kundgebung | |
eskaliert, indem sie Pfefferspray gegen Bewohnerinnen, darunter auch | |
Kinder, einsetzte. Videos im Internet zeigen ebenfalls einen | |
Tränengas-Einsatz vor dem Haus: Beamte versuchen so offenbar, Bewohner | |
zurückzudrängen, die sich an einem Absperrgitter zu schaffen machen. Zu | |
sehen ist auf einem Film aber auch, wie die Polizisten von Personen hinter | |
dem Gitter mit verschiedenen Gegenständen beworfen werden. Auch aus | |
Fenstern der Wohnblocks fliegen Stöcke und Metallteile. | |
Wie die Hessische Niedersächsische Allgemeine (HNA) berichtete, sollen | |
unter den Wurfgeschossen auch Reifen, Steine und Computer gewesen sein. | |
Nach Angaben anderer Zeugen sind auch Feuerwerkskörper und Stühle geflogen. | |
Die Göttinger Polizei sprach am Sonnabendabend von mehreren verletzten | |
Beamten. Mehrere Straßen waren stundenlang gesperrt. Die Einsatzleitung | |
forderte im Verlauf des Nachmittags Verstärkung an, über dem Geschehen | |
kreiste zeitweilig ein Hubschrauber. | |
Die PARTEI in Göttingen forderte die Stadtverwaltung und den Krisenstab am | |
Sonntag zu einem „grundsätzlichen Umdenken“ auf. Alle Bewohner der Blocks | |
in der Groner Landstraße, die ein solches Angebot annähmen, sollten für 14 | |
Tage in Hotels und anderen Wohneinrichtungen untergebracht werden. „Die | |
Stadt Göttingen zeigt im Umgang mit den Corona-Ausbrüchen zuletzt im | |
Iduna-Zentrum und in der Groner Landstraße 9 [3][ihre hässlichste Seite]“, | |
so die PARTEI-Kreisvorsitzende Helena Arndt. Am Sonntagnachmittag wollten | |
Stadtverwaltung und Polizeiführung bei einer Pressekonferenz über ihre | |
Sicht auf die Auseinandersetzungen informieren. | |
21 Jun 2020 | |
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[1] /Erneuter-Corona-Ausbruch-in-Goettingen/!5690125 | |
[2] /Erneuter-Corona-Ausbruch-in-Goettingen/!5690125 | |
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## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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