# taz.de -- Corona-Hotspot Göttingen: „Es gab keine privaten Feiern“ | |
> Die Stadt Göttingen machte private Feste zum Fastenbrechen für die | |
> Neuinfektionen verantwortlich. Betroffene weisen diese Darstellung | |
> zurück. | |
Bild: Die Darstellungen in Göttingen gehen auseinander – auch zum Ablauf der… | |
GÖTTINGEN taz | Sind, wie es die Stadtverwaltung darstellt, muslimische | |
„Großfamilien“, die beim Feiern Hygiene- und Abstandsregeln nicht | |
eingehalten haben, Ausgangspunkt für den Corona-Ausbruch in Göttingen | |
gewesen? Oder war alles doch ganz anders? Erklärungen der Bewohner wecken | |
zumindest Zweifel an der offiziellen Version. | |
In der Universitätsstadt haben sich in den vergangenen zwei Wochen | |
mindestens 120 Menschen [1][mit dem Corona-Virus] infiziert. Der seit Tagen | |
von der Stadtverwaltung und dem örtlichen Krisenstab verbreiteten und von | |
vielen Medien nacherzählten Geschichte zufolge waren private Feste im | |
[2][Wohnkomplex Iduna-Zentrum] am 23. und 24. Mai anlässlich des | |
Fastenbrechens Ausgangspunkt der Ansteckungen. In den kleinen Appartements | |
hätten sich zum Teil bis zu 30 Personen aufgehalten, hieß es. | |
In einer Göttinger Shisha-Bar, in die mehrere Jugendliche nach den Feiern | |
weitergezogen seien, soll sich das Virus weiter verbreitet haben. Die | |
jungen Leute hätten dort gemeinsam aus einer Wasserpfeife geraucht – ein | |
solches Verhalten sei infektionshygienisch „eine Katastrophe“, hatte | |
Göttingen Sozialdezernentin Petra Broistedt geurteilt. | |
Ein sogenannter „Patient Null“, in den meisten Medienberichten den | |
„Großfamilien“ zugeordnet, könne das Virus weiter in die Stadt getragen | |
habe, weil er ungeachtet einer Quarantäne-Verfügung mehrfach durch die | |
Göttinger Fußgängerzone spaziert sei. Auf seinen zuletzt täglichen | |
Pressekonferenzen hatte der Krisenstab zudem wissen lassen, dass viele der | |
zunächst rund 170 in Göttingen und Umgebung ermittelten „Kontaktpersonen | |
ersten Grades“ dem Aufruf sich Corona-Tests zu unterziehen, nicht gefolgt | |
seien. | |
Hetze gegen Bewohner des Iduna-Zentrums | |
So hätten am Pfingstsamstag 90 Personen eine entsprechende Anordnung | |
erhalten, es seien aber nur 15 erschienen. Seit Freitag werden alle | |
Bewohner des Iduna-Zentrums in einer mobilen Station in der Garage auf das | |
Virus getestet – gemeldet sind dort etwa 600 Personen, die Stadt geht aber | |
davon aus, dass deutlich mehr Menschen dort leben. Bis Freitagabend wurden | |
bei 217 Bewohnern Abstriche genommen. | |
Bei den unter Verdacht gestellten „Großfamilien“ handelt es sich um | |
miteinander verwandte Roma aus dem Kosovo und anderen Regionen des | |
ehemaligen Jugoslawien. Viele von ihnen flüchteten vor dem Bürgerkrieg in | |
ihrer Heimat oder den Schikanen der neuen Regierungen nach Deutschland. Ihr | |
Aufenthaltsstatus ist zum Teil ungesichert, manche Familienmitglieder | |
werden von den Behörden lediglich geduldet. | |
Infolge der Berichte über ihr vermeintliches Fehlverhalten in der | |
Corona-Krise und den von der Stadt gezogenen Konsequenzen – unter anderem | |
wurden die [3][gerade erst wieder geöffneten Schulen für eine Woche | |
geschlossen] – sind die „arabisch-albanischen Clans“ (Bild-Zeitung) Opfer | |
von teils wüster Hetze, die vor allem über die „sozialen Netzwerke“ | |
verbreitet wird. „Asylbetrüger raus!“, ist dabei noch eine der eher | |
zurückhaltenden Parolen. In einem Fernsehbericht bezeichnete eine Frau die | |
Familien in dieser Woche als „kriminell und asozial“. | |
„Die Anfeindungen meiner Familie bewegen sich im strafrechtlichen Bereich“, | |
schreibt dazu jetzt ein betroffener Vater bei Facebook. In einer mit | |
„Gegendarstellung“ überschriebenen Erklärung betont der Mann, der seinen | |
Namen nicht angibt, dass es anlässlich des Zuckerfestes im Iduna-Zentrum | |
gar keine privaten Feiern gegeben habe. Zusammengekommen seien „mehrere | |
Personen“ lediglich in der nahegelegenen Moschee. Bei dieser vom | |
städtischen Ordnungsamt genehmigten Veranstaltung seien „sämtliche | |
Abstands- und Hygieneregeln eingehalten“ worden. | |
Verdachtspersonen von Teststationen weggeschickt | |
Auch sei der „wahrscheinliche Patient Null“ nicht „Bestandteil unserer | |
Familie“, es handele sich vielmehr um einen Bewohner des Iduna-Zentrums mit | |
anderer Nationalität. Das Nicht-Einhalten von Hygiene- und Quarantäneregeln | |
anderer Personen dürfe deshalb „nicht uns angelastet werden“. Zu den | |
weiteren Ansteckungen im Haus, die nicht nur, aber auch Mitglieder der | |
Roma-Familien betreffen, könne es leicht durch Schwebeteilchen in den | |
Fluren und Treppenhäusern des Iduna-Zentrums gekommen sein. | |
Auch die Berichte über Familienmitglieder, die nicht zu Corona-Tests | |
erschienen seien, sind aus Sicht des Schreibers „nicht nachvollziehbar“: | |
„Tatsache ist, dass mehrere Familienmitglieder von Teststationen | |
weggeschickt wurden, mit dem Hinweis, dass sie symptomfrei seien.“ | |
Ein sich Jojo nennender Mann, der in diesen Tagen als eine Art | |
Pressesprecher der Roma im Iduna-Zentrum fungiert, bestätigt die Angaben am | |
Telefon. „Es gab keine private Feier“, sagt er. „Hundertprozentig nicht�… | |
Die Stadt Göttingen bleibt jedoch bei ihrer Darstellung. Kontaktpersonen | |
hätten Feierlichkeiten mit einer großen Anzahl Menschen bestätigt. | |
Und die Sache mit der Shisha-Bar? „Auch Fake“, sagt Jojo. „Da ist nichts | |
dran, überhaupt nichts dran“. Der Sohn des Betreibers teilt mit, dass die | |
Bar ihre Terrasse erst am 28. Mai wieder geöffnet hat – unter Einhaltung | |
der Hygieneregeln und mit Genehmigung der Behörden. Die Kontaktformulare, | |
auf denen Gäste ihre Daten hinterlassen müssen, lägen vor. Dezernentin | |
Broistedt, die auch den örtlichen Corona-Krisenstab leitet, räumt | |
inzwischen ein, dass die Vorgänge in dem Lokal noch geprüft würden. | |
Hinweise an das Gesundheitsamt ignoriert | |
Auch das Roma-Antidiskriminierungs-Netzwerk hat sich jetzt zu Wort gemeldet | |
– ebenfalls mit der Aussage, dass im Iduna-Zentrum anlässlich des | |
Zuckerfestes gar keine Feierlichkeiten stattgefunden hätten. Als erster | |
Bewohner des Iduna-Zentrums sei ein Mann an Corona erkrankt, der nicht zu | |
den in den Medien beschuldigten „Großfamilien“ gehöre. Dieser habe mehrfa… | |
gegen Quarantäne-Auflagen verstoßen. | |
Andere Bewohner, darunter die nun kriminalisierten Familien, hätten das | |
Gesundheitsamt mehrfach darauf hingewiesen, dass der Infizierte sich nicht | |
an die Quarantäne hielt, die Behörde habe darauf jedoch zunächst nicht | |
reagiert. „Jojo“ zufolge stammt der Mann aus Afrika. „Der wurde dann erst | |
aufgrund unserer Anrufe als ‚Patient Null‘ identifiziert“, sagt er. | |
Dezernentin Broistedt ist nach eigenen Worten nicht bekannt, „dass uns ein | |
Quarantäne-Verstoß gemeldet worden ist, den wir nicht verfolgt haben“. | |
Später, so das Roma-Netzwerk weiter, sei ein älterer Mann aus dem | |
Familienverbund schwer erkrankt, im Krankenhaus sei bei ihm am 25. Mai eine | |
Ansteckung mit dem Coronavirus festgestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt | |
seien symptomfreie Angehörige, die sich in der Klinik ebenfalls testen | |
lassen wollten, weggeschickt oder vor die Alternative gestellt worden, die | |
Tests selbst zu bezahlen. | |
„Die Stadt hat nicht auf die Beschwerden der Bewohner, dass ein Mann gegen | |
die Quarantäne verstoßen habe, reagiert und schiebt nun ihr eigenes | |
Versagen auf die Bewohnerinnen“, beklagt das Roma-Netzwerk. Zu keinem | |
Zeitpunkt sei versucht worden, zusammen mit den Betroffenen nach Lösungen | |
zu suchen. Dies wäre ein besserer Weg gewesen, statt „einseitig über die | |
Menschen zu sprechen. Es ist schade, dass die Stadt Göttingen nicht einmal | |
ein Familienmitglied zu den täglichen Pressekonferenzen eingeladen hat, um | |
die Sicht der Bewohner darzustellen“. | |
Gesellschaft für bedrohte Völker warnt vor Antiziganismus | |
Dem Netzwerk zufolge haben die betroffenen Familien „die Angelegenheit nun | |
in die eigenen Hände genommen“: Sie hätten ihre Wohnsituation so | |
organisiert, dass positiv auf das Virus getestete Personen in einer Wohnung | |
lebten und die Gesunden in einer anderen. Die Gesunden versorgten ihre | |
unter Quarantäne stehenden Angehörigen mit den Dingen des täglichen | |
Bedarfs. | |
„Die Corona-Krise betrifft uns alle, sie schränkt uns alle ein und wir | |
können alle krank werden“, beschließt das Netzwerk die Erklärung. | |
„Besonders hart treffen das Virus und die Maßnahmen aber jene, die auch | |
schon vorher nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. Statt sich | |
verantwortungsvoll und solidarisch zu zeigen, wird Hetze geschürt.“ | |
Unterdessen warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker vor einem | |
Generalverdacht, dass sich Roma nicht an Corona-Auflagen halten. Es komme | |
darauf an, den Infizierten und den Verdachtsfällen den Ernst der Lage | |
bewusst zu machen – gegebenenfalls in ihrer Muttersprache, sagte die | |
Südosteuropa-Referentin der in Göttingen ansässigen | |
Menschenrechtsorganisation, Jasna Causevic, der | |
„Hessischen-Niedersächsischen Allgemeine“. | |
Die Betroffenen müssten die Gefahren eines unüberlegten Verhaltens | |
erkennen. Wer in Deutschland lebe, habe Rechte, aber auch Pflichten: „Wir | |
müssen uns alle schützen und offenbar auch manche Menschen vor sich selbst, | |
aber ohne Stigmatisierung und Vorurteile.“ | |
7 Jun 2020 | |
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Reimar Paul | |
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