# taz.de -- Neuköllns Postkartenkönig: Von Ruhm und Sehnsucht | |
> Der Fabrikant Heinrich Ross bannte die Stars der Stummfilmzeit auf | |
> Fotopostkarten. Auf der Flucht vor den Nazis verlor der jüdische | |
> Neuköllner alles. | |
Bild: Werner Fuetterer und Dorothea Wieck in „Ich hab mein Herz in Heidelberg… | |
„Du, ich hab Dich so furchtbar lieb! Möchtest Du mir nicht ein einziges Mal | |
ein Küsschen geben? Mein Muttchen ist gestorben – und ich bin so allein!“ | |
In seinem am 25. Dezember 1919 in der Berliner Volkszeitung erschienenen | |
Artikel „Briefe an einen Kinoschauspieler“ gab Kurt Tucholsky einen | |
Einblick in die mitunter bizarre Welt einiger Filmstarfans. In diesem Fall | |
sollte der Schauspieler Conrad Veidt das Küsschen geben, der natürlich | |
weder die Schreiberin noch ihr „Muttchen“ persönlich kannte. Vermutlich | |
hatte der Fan in seinem Heim eine Art Hausaltar für seinen Liebling | |
errichtet und ihn mit Devotionalien wie Starpostkarten aus dem Hause Ross | |
geschmückt. | |
Der am 10. August 1870 in Rokytno im damaligen Österreich-Ungarn geborene | |
Heinrich Ross war gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Berlin gekommen und | |
bereits um 1902 im Berliner Adressbuch als „Fabrikant von Luxuspapierwaren“ | |
in der Alexandrinenstraße im heutigen Kreuzberg nachgewiesen, der auch | |
„illustrierte Postkarten und Reklamemarken“ herstellte. 1907 gründete er | |
die Ross-Bromsilber-Vertriebs-GmbH, aus der später der Ross-Verlag | |
hervorging. | |
Als der Stummfilm die Kinos eroberte und die Menschen nach dem Ersten | |
Weltkrieg in die Filmtheater strömten, setzte Ross vor allem auf | |
Künstler-Postkarten, die in drei Serien unterteilt waren: Filmstars, | |
„Bühnensterne“ und Filmszenen. Dabei hatten die Fans eine riesige Auswahl: | |
Ross’ Angebot umfasste zu Höchstzeiten 40.000 verschiedene Motive. | |
Das produzierte zuweilen beinahe Suchtverhalten: Filmbesessene füllten | |
ganze Alben mit ihren Lieblingen – Alben, für die Sammler heute viel Geld | |
auf den Tisch legen müssen. Der Star hielt Einzug ins eigene Heim – und | |
wurde damit nahbarer. Dabei stand der Name Ross für Qualität und Vielfalt | |
und wurde unweigerlich mit seinem bekanntesten Produkt, der Starpostkarte, | |
in Verbindung gebracht, deren Motive in renommierten Berliner Fotostudios | |
wie Becker & Maaß oder Alexander Binder auf Zelluloid gebannt wurden. | |
1930 würdigte die Filmwoche Heinrich Ross zu seinem 60. Geburtstag mit | |
einem Artikel. Da hätte sich der Fabrikant und Verleger eigentlich bereits | |
zufrieden zurücklehnen und seinen Ruhestand planen können. Seine drei in | |
Rixdorf geborenen Kinder Edith, Egon und Helene waren längst aus dem Haus. | |
Doch Ross hatte ein ausgefülltes Leben auch neben seiner Arbeit als | |
Postkartenfabrikant. Seit 1922 war er erster Vorsitzender der von ihm mit | |
gegründeten Jüdischen Brüdergemeinde von Neukölln unter dem Rabbiner Dr. | |
Kantorowsky mit ihrer Synagoge in der Isarstraße 8. Und auch seine Ehefrau, | |
Berta Ross, war seit 1926 Schriftführerin des Israelitischen Frauenvereins | |
Neukölln, der unter anderem den Paragrafen 218, der seit 1871 | |
Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellte, bekämpfte. | |
Das Jahr 1933 brachte die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die | |
Zäsur. 1936 starb Berta, ein Jahr später wurde der Ross-Verlag „arisiert“. | |
Der Name Ross blieb jedoch aufgrund seiner Popularität bis 1941 offiziell | |
erhalten – während man den Namensgeber schon längst aus Deutschland | |
vertrieben hatte. | |
## Irrfahrt auf der „St.Louis“ | |
Am 13. Mai 1939 schiffte sich Ross in Hamburg auf der zu einer | |
verzweifelten Irrfahrt verdammten „St. Louis“ ein, die durch die Weigerung | |
Kubas, das Schiff anlegen zu lassen, ausgelöst werden sollte. „Jeder von | |
uns brauchte Monate, um in der alten Heimat alles zu liquidieren, sich von | |
dem zu trennen, was man eben unter dem Begriff ‚Heimat‘ versteht“, schrieb | |
Ross später in einem Bericht, der im United States Holocaust Museum | |
archiviert wurde (siehe Kasten) – verfasst in der Retrospektive am 8. Juli | |
1939 in London von einem Menschen, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht | |
einmal mehr sein Gepäck besaß. | |
Am 17. Juni 1939 durften die über 900 Flüchtlinge auf der „St. Louis“, von | |
denen 254 den Holocaust nicht überleben würden, endlich in Antwerpen von | |
Bord gehen und wurden von verschiedenen Gastländern aufgenommen. Heinrich | |
Ross kam so nach London, und erst drei Jahre später, am 29. Oktober 1942, | |
durfte er den Atlantik gen Amerika überqueren, wo bereits sein Sohn Egon | |
und seine Tochter Edith mit ihrem Mann, dem Berliner Opernsänger Gerhard | |
Pechner, lebten. | |
Am 19. April 1943 stellte Ross in den USA seinen Antrag auf Einbürgerung. | |
Auf dem Antragsformular vermerkte er, dass er nicht wisse, wo sich seine | |
Tochter Helene aufhalte, die in Berlin geblieben war. Zwei Jahre später kam | |
die mittlerweile 48-Jährige in Berlin um und wurde vom Amtsgericht | |
Schöneberg für tot erklärt. Gestorben war sie am 8. Mai 1945 – dem Tag, an | |
dem der Zweite Weltkrieg endete. | |
Erst vier Jahre später, 1947, wurde aus dem staatenlosen Heinrich Ross in | |
Chicago dann schließlich ein Amerikaner. Im Alter von 72 Jahren hatte der | |
mittellose Mann noch eine Berufstätigkeit als Maschinenarbeiter annehmen | |
müssen. Er hatte zwar bei einem der Berliner „Wiedergutmachungsämter“ im | |
Rahmen der „Wiedergutmachung von NS-Unrecht“ einen entsprechenden Antrag | |
auf Entschädigung gestellt, doch der im Verhältnis zum ursprünglichen | |
Vermögen äußerst magere Geldbetrag sollte erst kurz vor seinem Tod | |
ausgezahlt werden. | |
Doch auch wenn man ihm alles genommen hatte, seine Heimat, seinen Besitz | |
und das Wissen um die genauen Todesumstände seiner Tochter, schien Ross mit | |
dem Schicksal nicht zu hadern, sondern seine Kraft nach wie vor aus seinem | |
Glauben zu schöpfen. | |
An Rabbiner Kantorowsky in Schanghai schrieb er damals eher dankbar als | |
verbittert: „Obwohl ich oft zurückdenke an vergangene Zeiten […] mitten | |
zwischen bewährten Freundschaften, gehen doch immer die Gedanken zu dem | |
Mittelpunkt, wo wir Gotteslehre erhielten durch Sie, verehrter Rabbiner & | |
Lehrer.“ | |
Am 3. August 1957 starb Heinrich Ross in Chicago an den Folgen eines | |
Schlaganfalls und wurde auf dem Grabfeld der Chewra Kaddisha | |
(Beerdigungsbruderschaft) „Ezras Nicochim“ auf dem Friedhof von Oakridge in | |
Hillside/Illinois beerdigt, auf dem alle Grabsteine aus rotem Marmor und | |
exakt gleich groß sind. Auch im Tod blieb Heinrich Ross also bescheiden und | |
ohne Dünkel, wie schon nach der Odyssee auf der „St. Louis“: „Sonst bin … | |
nur einer von den vielen Leidensgenossen.“ | |
Seine Wahlheimat Neukölln hat Heinrich Ross nie mehr wieder gesehen. | |
13 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Bettina Müller | |
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