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# taz.de -- Berliner Zeitgeschichte: Der Herr der Reime
> Ostpreuße mit Berlin-Faible: Josef Wiener-Braunsberg war Nachfolger von
> Kurt Tucholsky als Chefredakteur von „ULK“, einer satirischen
> Zeitungsbeilage.
Bild: Josef Wiener-Braunsberg, einst Chefredakteur von „ULK“, einer satiris…
Berlin taz | Das Porto kostet einen Haufen. Ich schrieb ihr täglich, lieb
und lind. Wovon soll ich die Marken kaufen? Ach, Ernestine, süßes Kind!“,
hieß es unter anderem in dem Gedicht „Der neue Posttarif“, das Kurt
Tucholsky unter dem Pseudonym Theobald Tiger am 12. März 1920 im ULK
veröffentlichte. Die humoristisch-satirische Wochenbeilage des Berliner
Tageblatts erschien da bereits seit 1872, wobei sich der neckische Titel
aus den Anfangsbuchstaben der Begriffe „Unsinn. Leichtsinn. Kneipsinn“
zusammensetzte. Es war Tucholskys letztes Gedicht als ULK-Chefredakteur.
Ende 1918 hatte Kurt Tucholsky den von ihm heiß begehrten Posten von Fritz
Engel übernommen. Doch schnell erkaltete die Liebe, als er merkte, dass
sich sein eigenes Credo „Satire darf alles“ nicht mit den Vorstellungen des
Chefredakteurs des Berliner Tagesblatts, Theodor Wolff, deckte. Der
fürchtete vor allem um die pekuniäre Großzügigkeit seiner Stammabonnenten,
wenn Tucholsky mal wieder zu sehr ausgeteilt hatte. Tucholsky kündigte, und
am 9. April 1920 stand dann der Name seines Nachfolgers im Impressum: Josef
Wiener-Braunsberg.
Josef Wiener kam am 12. Oktober 1866 im ostpreußischen Braunsberg als Sohn
des Kinderarztes Dr. Wilhelm Wiener und dessen Ehefrau Doris (geb. Müller)
zur Welt. Nach dem Besuch des Braunsberger Gymnasiums arbeitete er zunächst
als Buchhändler in Königsberg, gab diesen Beruf jedoch bald wieder auf und
wandte sich stattdessen dem Journalismus zu. Er arbeitete in verschiedenen
Redaktionen, etwa um 1892 als Theaterredakteur beim Generalanzeiger in
Halle. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg konnte er schließlich Erfahrungen als
Chefredakteur in Berlin sammeln. Monarchietreue hieß damals noch das Credo,
und Wiener-Braunsberg fügte sich brav.
In der Zeitschrift Beim Lampenschimmer, der „Unterhaltungszeitschrift für
die ganze Familie“, hätte man Satire beim besten Willen nicht mit der Lupe
entdecken können. Auch sonst war sein Berufsleben bis dato eher unauffällig
verlaufen. Sein letzter Erfolg als Schriftsteller lag lange zurück. „Alma’s
Ende“, eine Fortsetzung von Hermann Sudermanns Schauspiel „Die Ehre“, hat…
1895 das offene Schicksal zweier Charaktere daraus weitererzählt und wurde
zum Erfolg. So bestärkt, siedelte Josef Wiener kurz darauf nach Berlin um,
wo mittlerweile seine Eltern und seine Schwestern lebten. Er nannte sich
als Reminiszenz an seine Heimatstadt fortan Josef Wiener-Braunsberg.
## „Der Sanfte Heinrich“
Als frischgebackener Chefredakteur legte er sich als Erstes ein
ULK-übliches Pseudonym zu. Als „Der Sanfte Heinrich“, ein Synonym für
Alkohol, reimte sich der überzeugte Anhänger der Deutschen Demokratischen
Partei in der Folge mehrere Jahre durch die mitunter tragischen
Geschehnisse der Weimarer Zeit, in der politische Morde in Berlin keine
Seltenheit waren. Er prangerte die Zielgruppen seines Spottes zuweilen
offen an, die vor allem am rechten Rand der Politik zu finden waren, wie
unter anderem die Anhänger der antisemitischen Deutschnationalen
Volkspartei (DNVP).
Wiener-Braunsberg erlebte in Berlin hautnah Regierungskrisen, Armut, Enge,
Wohnungsnot, Schieberflut, Inflation, Ruhrkrise, Kriminalität. So
entstanden im Laufe seiner ULK-Zeit insgesamt über 800 Texte, die als
Beilage des Berliner Tageblatts eine Leserschaft von bis zu 250.000
Menschen erreichten, die auch die anspruchsvollen Illustrationen des
Blattes, wie zum Beispiel von Heinrich Zille, zu schätzen wusste.
In der Frühphase der Weimarer Zeit wurde Wiener-Braunsberg immer kesser und
legte die für ihn als Schriftsteller restriktiven zensurbedingten Fesseln
der Vergangenheit nach und nach ab, und teilte zuweilen, wie sein
Vorgänger, unverhohlen aus: „Ich bin von Herkunft und rasserein, nicht so
ein vermanschtes Rasseschwein. Bewund’re mit Ehrfurcht, fremdstämmiger
Wicht, mein arisches Wesen, mein arisch Gesicht“, hieß es 1920 in dem
Beitrag „Der Korrekte“, in dem Wiener-Braunsberg die wirren Ansichten eines
deutschvölkischen Studenten persiflierte.
Drei Jahre später traf Wiener-Braunsbergs spitze Feder den Jenaer Zoologen
Professor Ludwig Plate, in dessen Vorlesungen in den ersten vier Reihen nur
„Arier“ sitzen durften: „Esel schuf in jeglichem Formate, einst der Ew’…
Rind und Schaf und Pferd, und außerdem auch den Professor Plate, der
Zoologie in Jena lehrt.“ Das hatte Konsequenzen: Plate verklagte
Wiener-Braunsberg wegen Beleidigung, der daraufhin zu einer Geldstrafe
verurteilt wurde.
## Als Chefredakteur abgesetzt
Ganz selten brach Wiener-Braunsberg mit dem humoristischen Tenor der
Zeitschrift, und zwar immer dann, wenn ihm etwas besonders naheging. Als
Reichspräsident Friedrich Ebert am 28. Februar 1925 unerwartet an einer
verschleppten Blinddarmentzündung starb, geriet sein Leitgedicht zur
düsteren Elegie: „Der Besten war er einer, klingt’s wie Flüstern, den in
Fritz Ebert Deutschland heut verlor!“
Aber schon zu dieser Zeit schienen seine Werke irgendwie an satirischer
Schärfe zu verlieren, zeitgleich stabilisierte sich die Republik zunehmend.
Tatsächlich wurde er bald als Chefredakteur abgesetzt, blieb der
Zeitschrift aber als freier Mitarbeiter erhalten; die genauen Gründe
erfuhren die Leser jedoch nicht. Zwei Jahre später verstarb Josef
Wiener-Braunsberg am 8. Juni 1928 in Schöneberg an den Folgen eines
Gehirnschlags.
Jüdischer Friedhof Weißensee, Feld K 2: Drei schlichte Stelen fügen sich
zum von Efeu umrankten Familiengrab der Wieners zusammen, doch den Namen
Josef Wiener-Braunsberg sucht man dort vergeblich. Der Redakteur wurde auf
dem Evangelischen Friedhof von Wilmersdorf bestattet, aus der Jüdischen
Gemeinde von Berlin ausgetreten ist er jedoch nie. Bei seiner Trauerfeier
am 11. Juni 1928, bei der viele Freunde, Bekannte und Prominente aus der
Berliner Theaterwelt anwesend waren, hielt Magnus Davidsohn, der Oberkantor
der Synagoge in der Fasanenstraße, die Trauerrede.
Hinterlassen hat der Ostpreuße mit großem Berlin-Faible ein reichhaltiges
humoristisch-satirisches Werk in der Zeitschrift ULK sowie unter anderem
drei Berlin-Romane, die er während seiner ULK-Zeit schrieb.
Im Jahr 1933 wurde der ULK eingestellt und posthum auch Josef
Wiener-Braunsberg von den Nationalsozialisten geschmäht: Seine Romane „Die
Venus von der Tauentzien“ und „Warenhausmädchen“ – der 1924 mit Reinho…
Schünzel als Halunke in der Hauptrolle verfilmt worden war – fanden sich
auf der von der Reichsschrifttumskammer veröffentlichten „Liste 1 des
schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ wieder. Über seinen ehemaligen
Redaktionskollegen Tucholsky hieß es darin lapidar: „alle Werke“.
12 Jul 2020
## AUTOREN
Bettina Müller
## TAGS
Zeitgeschichte
Kurt Tucholsky
Satire
Weimarer Republik
Jüdischer Friedhof
Presse
Stummfilm
Polizei Berlin
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