# taz.de -- Berliner Journalistenlegende: Rasender Reporter | |
> Egon Jacobsohn porträtierte das Zwanziger-Jahre-Berlin auch von unten, | |
> bis er vor den Nazis fliehen musste – vor 125 Jahren ist er in Berlin | |
> geboren. | |
Bild: Ein symboldbildhafter Oldtimer, rasend, aus der Epoche, in der Jacobsohn … | |
Berlin, Ullsteinhaus, Ende 1919. Der 13-jährige Willy Czerwinski hält | |
stolz ein Bündel Geldscheine in die Kamera eines Fotografen. Daneben lehnt | |
leger ein schmächtiger Mann am Tisch, hinter dem sich eine Delegation des | |
Verlags bemüht, die Contenance zu wahren. Die Herren haben eine Mission: | |
der versammelten Presse in aller Ernsthaftigkeit den Sieger des von der | |
Berliner Morgenpost ausgelobten Wettbewerbs „Augen auf!“ zu präsentieren. | |
Es muss ein denkwürdiger Tag gewesen sein damals, der 13. November 1919, | |
als ganz Berlin auf den Beinen war. Schon vor 8 Uhr morgens versammelten | |
sich die Menschen vor den Litfaßsäulen, um den Steckbrief mit dem Konterfei | |
eines anonymen Mitarbeiters der Zeitung zu begutachten, den es mit der | |
Losung „Augen auf!“ zu enttarnen galt, um so ein „Kopfgeld“ in Höhe von | |
1.000 Mark zu gewinnen. Doch der „Flüchtige“ entpuppte sich als sehr | |
gewieft, er wurde an diesem Tag nicht gestellt. Und so wiederholte man das | |
Spektakel, das die Presse „publicity stunt“ taufte, kurzerhand an einem | |
weiteren Tag, an dem schließlich Willy Czerwinski als jugendlicher Held | |
hervorging und das Geld einheimste. | |
Die Aktion war neuartig und sorgte mit ihrer unmittelbaren | |
Publikumswirksamkeit dafür, dass die Auflage der Zeitung weiter in die Höhe | |
schnellte. Im Idealfall, so der von der Berliner Polizei forcierte Gedanke | |
dazu, sollte vor allem die latent brachliegende Aufmerksamkeit der braven | |
Bürger geschult werden, um sie für potenzielle Verbrechen aller Art zu | |
sensibilisieren. | |
Genauso eigenartig wie der „publicity stunt“ selbst war auch die | |
Zusammensetzung des „Ehrenausschusses“, dem unter anderem der | |
Polizeipräsident, „Pinselheinrich“ Zille und eine Filmdiva angehörten. | |
Ausgedacht hatte sich das Ganze der schmächtige, leger am Tisch lehnende | |
Herr auf besagtem Foto, dessen Konterfei auch die Steckbriefe zierte: Egon | |
Jacobsohn. | |
Der am 2. Oktober 1895 in Berlin geborene Jacobsohn hatte als Journalist | |
einen deutlichen Hang zur Inszenierung von Situationen. Was er in gewisser | |
Weise mit seinen beiden Onkeln, Anton und Donat Herrnfeld, gemein hatte, | |
die bis 1918 in Berlin ihr eigenes Theater betrieben. Jacobsohns Vater | |
hingegen war – wenig künstlerisch – Handelsvertreter für Tabakwaren. Doch | |
Künstler versus Kaufmann, die Entscheidung stellte sich dem jungen | |
Jacobsohn gar nicht, weil er schon früh genau wusste, was er wollte. Und so | |
gab er auf dem Gymnasium eine Schülerzeitung heraus und „fraß“ mit | |
Begeisterung Bücher, wie er später in seinen Memoiren schrieb. Grundstein | |
für seine journalistische Karriere wurde 1918 ein Volontariat bei Ullsteins | |
Berliner Morgenpost. | |
Im Laufe der Jahre entwickelte sich Jacobsohn zum besessenen Reporter, | |
immer gemäß seinem Motto „Man muss rasen, damit man für alles Zeit hat“. | |
Bleischwere Essays, politische Anklagen, beinharte Satiren – alles nicht | |
sein Ding. Stattdessen Berichte aus dem Leben, betrachtet aus dem | |
Blickwinkel des „kleinen Mannes“, der nie das nötige Geld dazu haben würd… | |
champagnerlaunig die Nacht zum Tag zu machen. | |
So schuf Jacobsohn auch eine Art Gegenentwurf zu dem urbanen Spaßmythos von | |
Berlin in den „goldenen“ Zwanzigern, der jedoch einen Großteil der Menschen | |
aussparte. Dabei erwies sich Jacobsohn bei seinen Reportagen als äußerst | |
stoßfest: Er arbeitete als Nachtkellner in einem geheimen Spielklub, zog | |
unbehelligt mit dem Infanteriegewehr durch Berlin oder brach auch mal bei | |
seinem Chef ein, der behauptet hatte, dass Jacobsohn das nie und nimmer | |
schaffen würde. | |
Mit seiner flotten Schreibe wurden die Leser dabei bestens unterhalten, gut | |
informiert, aber nicht von oben herab belehrt. Die Zwanziger waren die | |
Glanzzeit des Berliners. Als „Filmteufel“ gab er von 1920 bis 1923 zudem | |
die Zeitschrift Die Filmhölle heraus, ab 1922 arbeitete er als Redakteur | |
bei der B.Z. am Mittag. Daneben gab er auch den Conférencier bei | |
Kabarettprogrammen, oder er hielt Vorträge beim Reichsbund Jüdischer | |
Frontsoldaten. | |
Im Oktober 1933 erließen die Nationalsozialisten das „Schriftleitergesetz“, | |
das die Pressefreiheit ausschalten und die jüdischen Redakteure aus dem | |
Beruf drängen sollte. Jacobsohn floh nach London, sein Name stand auf einer | |
Todesliste. | |
Aus dem Exil schrieb er Anfang 1936 an seinen Journalistenkollegen Emil | |
Faktor: „Mir geht es hier seit langem gut.“ Aus Egon Jacobsohn wurde in | |
Großbritannien auch Egon Jameson, offiziell bekannt gegeben in der London | |
Gazette vom 7. Dezember 1937. Gar nicht gut ging es seinen in Deutschland | |
gebliebenen Familienangehörigen. Sein Vater kam im August 1937 in Berlin | |
unter ungeklärten Umständen ums Leben, sein Bruder Alfons wurde am 28. Mai | |
1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg „auf Befehl | |
erschossen“, wie es in seiner standesamtlichen Sterbeurkunde heißt. | |
Doch trotz allem kehrte Egon Jameson, der einst als Jacobsohn in | |
Deutschland namhafte Kulturjournalist, 1945 in das Land zurück, das ihm | |
alles genommen hatte, und schrieb unter anderem für die von der | |
amerikanischen Militärbehörde veröffentlichte Neue Zeitung. 1953 ging er | |
jedoch wieder nach London zurück. Im November 1955 wurde Egon Jameson | |
britischer Staatsbürger. Nun widmete er sich vorrangig dem Schreiben von | |
zumeist humoristischen Büchern in deutscher Sprache, darunter auch das | |
zusammen mit dem damals noch unbekannten Loriot verfasste „Schmunzelbuch“ | |
„Wie gewinnt man eine Wahl?“ (1957). | |
Zunächst hatte sich Jameson noch an englischsprachigen Büchern versucht. | |
Doch sein eher skurriles Werk „1000 Curiosities of Britain“, in dem es um | |
Geistererscheinungen, Orte, an denen der Teufel gelebt haben soll, und | |
ähnliche Merkwürdigkeiten ging, erreichte bei Weitem nicht den Witz und das | |
Tempo von Jacobsohns Zeitungsartikeln der 1920er Jahre. Es folgte noch ein | |
Reiseführer für London, und damit war sein Ausflug in die englische Sprache | |
in Buchform beendet. | |
Am 23. Dezember 1969 ist die ehemalige Reporterlegende in London gestorben. | |
5 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Bettina Müller | |
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