# taz.de -- Der Jüdische Friedhof Schönhauser Allee: „So wunderbar schön“ | |
> Vor 140 Jahren geschlossen, ist der Jüdische Friedhof Schönhauser Allee | |
> ein begehbares Sepulkralmuseum. Und eine Ruheoase mit morbidem Charme. | |
Bild: Von Efeu überwuchert: auf dem alten jüdischen Friedhof in der Schönhau… | |
BERLIN taz | „Nicht schon wieder Friedhof“, begehrt mein Begleiter auf und | |
murrt beharrlich: „Da komme ich schon früh genug hin.“ Im Prinzip ist das | |
zwar richtig, dennoch stößt der Protest auf taube, weil historienaffine | |
Ohren. Wir einigen uns darauf, dass er als „body guard“ fungieren soll für | |
den Fall, dass hinter Büschen Handtaschenräuber lauern sollten … | |
Auf geht es also in [1][die Schönhauser Allee, wo sich der 1827 eröffnete | |
Jüdische Friedhof] befindet, damals hieß die Straße noch Pankower Chaussee. | |
Kurz nach der Eröffnung des Friedhofs Weißensee am 9. September 1880 wurde | |
er als Beerdigungsstätte für die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde von | |
Berlin offiziell geschlossen. | |
Vereinzelt konnten noch Erbbegräbnisse weiter belegt werden, bei denen | |
Familien das dauerhafte Nutzungsrecht von der Jüdischen Gemeinde gekauft | |
hatten. Bis 1926 waren es 746 solcher Beerdigungen auf einem Friedhof mit | |
insgesamt 22.469 Gräbern. 1976 schließlich fand die letzte Bestattung in | |
einem Erbbegräbnis statt. | |
Mein Begleiter hat sich mittlerweile in sein Schicksal gefügt, und | |
natürlich ist auch kein „body guard“ vonnöten. Der Friedhof ist | |
ungewöhnlich exponiert, weil er bis auf die Mauern zur Straße hin | |
vollständig von Wohnhäusern umrahmt wird, deren Bewohner vom Balkon aus | |
einen exklusiven Blick auf die Stadt der Toten haben. Und irgendeiner | |
schaut immer aus dem Fenster, hinaus in das Grün der uralten Bäume, die im | |
Sommer angenehmen Schatten bieten. | |
## Spuren sinnloser Verwüstungen | |
Nicht alle dieser Häuser existierten damals, das Bauwerk gleich nebenan | |
jedoch schon, in dem am 11. November 1883 das Jüdische Altersheim | |
eingeweiht wurde. Die Zimmer des linken Seitentraktes gaben den Blick auf | |
eine allerletzte Ruhestätte frei. Doch es kam anders: Nach 1941 wurde auch | |
dieses Altersheim geschlossen und Bewohner und Personal wurden nach | |
Auschwitz deportiert. | |
Die Kriegsschäden, die Spuren der sinnlosen Verwüstungen vor allem aus den | |
Jahren 1939 bis 1945, sind stellenweise immer noch sichtbar. Umgestürzte | |
Grabsteine, Fragmente von Grabtafeln, aber auch überwucherte oder | |
verwitterte Steine, auf denen nicht mehr zu erkennen ist, wer dort begraben | |
liegt. Ein undurchschaubarer Wildwuchs von dichtem Efeu birgt ebenfalls | |
Geheimnisse. | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg verfiel der Friedhof zusehends, unaufhaltsam | |
machte sich die Natur breit, der sich vereinzelt Menschen helfend | |
entgegenstemmten. Doch gegen sinnlose Zerstörungswut konnten auch sie | |
nichts ausrichten. 1988, noch zu DDR-Zeiten, wüteten Jugendliche auf dem | |
Friedhof und zerstörten 222 Gräber; 1997 wurden 30 Steine umgestoßen und | |
beschädigt. | |
Es gibt daran nichts zu rütteln: Der historisch bedeutsame Friedhof als | |
begehbares Sepulkralmuseum und Geschichtsbuch ist in einem schlechten | |
Zustand. Selbst dem Ehrengrab des Juristen und Stadtältesten Albert Mosse | |
aus der berühmten Verlegerfamilie sieht man an, dass hier Vandalen am Werk | |
gewesen sein müssen. | |
## Ehrengräber der Stadt Berlin | |
Der Grabstein des Bruders des Verlegers Rudolf Mosse ist aus vier Teilen | |
wieder zusammengefügt worden. Ein schlichter Grabstein mit Rissen, auf dem | |
noch der Name Hans Mosse an den im August 1916 vor Verdun gefallenen Sohn | |
von Albert erinnert. Das Mosse-Grab ist eins von vier Ehrengräbern der | |
Stadt: Außer dem von Mosse wurden noch die Gräber des Theologen Abraham | |
Geiger, des Malers Max Liebermann und des Komponisten Giacomo Meyerbeer mit | |
dem Berliner Ehrengrabzeichen gekrönt. | |
Wir wandern weiter, unser Blick fällt auf eine Stelle, wo nur noch | |
Bruchstücke liegen. Ein Fragment gibt lediglich den Vornamen des | |
Verstorbenen, „Max“, preis und seinen Beruf: „Geh. Sani[tätsrat]“. Kei… | |
Lebensdaten, kein Geburtsort, der Doktor ist einer von vielen vergessenen | |
Namen, über die weder ein Beerdigungsregister noch ein Belegungsplan | |
Auskunft mehr geben kann, weil diese historische Quelle vernichtet worden | |
ist. | |
Eine ABM-Maßnahme in den 1990er Jahren sollte mit einer „Inventarisation | |
und Erforschung“ zwar eine „Zweitüberlieferung des gefährdeten Ortes in | |
Bild und Text“ liefern und so dieses steinerne Gedächtnis des jüdischen | |
Berlins auffrischen, doch das Projekt, eine Kooperation des Prenzlauer Berg | |
Museums mit dem Essener Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut für | |
deutsch-jüdische Geschichte, konnte aus Geldmangel nicht mehr weitergeführt | |
werden. | |
Trotz aller Mängel und Zerstörung kann der Friedhof, neben seiner | |
offensichtlichen historischen Bedeutung, noch weitere Funktionen haben: als | |
begehbarer Stadtraum und als Ruheoase. Als überkonfessionelles | |
Ausflugsziel, für die Zeit wohl ein sehr fortschrittlicher Gedanke, | |
beschrieb ihn 1864 Leopold Jacobs in einem Aufsatz schwärmerisch: „So | |
wunderbar schön ist der Anblick, den der Jüdische Friedhof im Frühjahr und | |
Sommer darbietet, dass fast täglich auch christliche Besucher hier her | |
kommen, um die Blumengänge zu durchwandeln.“ | |
## Bekannte Namen | |
Die Blumengänge sind verschwunden, im Hier und Jetzt herrscht eher ein | |
morbider Charme. Zahlreiche Grabstätten, hinter denen sich viele | |
Geschichten verbergen, erstaunen noch heute. Da ist zum Beispiel eine | |
seltene Scheinpyramide des Unternehmers Ludwig Loewe, die mit einem – | |
gemäß dem Abbildungsverbot des Dekalogs [Zehn Gebote] – eigentlich | |
verbotenen Porträtrelief verziert ist, das die Gattin des Kaufmanns, Sophie | |
geb. Lindenheim, zeigt, die nur ein Alter von 28 Jahren erreichte. In dem | |
Moment, in dem wir davor verweilen, lässt die Sonne das Relief erstrahlen. | |
Wir gehen weiter, entdecken bekannte Namen wie Ullstein oder Rathenau. Die | |
Frauenrechtlerin Josephine Levy-Rathenau, eine Cousine des 1922 ermordeten | |
Politikers Walther Rathenau, fand ihre letzte Ruhe in Feld L 3. Stilisierte | |
Rosenbouquets in drei Schalen schmücken ihr schlichtes Grab. | |
Auf einmal ist mein Begleiter verschwunden, offensichtlich hat ihn die | |
spürbare Historie des Ortes doch noch aufgesogen. Ich finde ihn sinnierend | |
vor dem Grabstein von Louis Moll wieder, den der Tod am 29. Mai 1884 | |
während eines Kuraufenthalts in Marienbad dahinraffte und dessen positive | |
Eigenschaften in einem Gedicht auf dem Grabstein verewigt wurden, in dem es | |
unter anderem heißt: „Manch hohe Tugend zierte dich im Leben. Du warst der | |
Menschen wahrer Freund.“ Lobende Worte über den Stadtältesten aus | |
Charlottenburg, von denen manche Politiker heute nur träumen können, und | |
das vergeblich. | |
Fünf Hektar umfasst der fünfeckige Friedhof, was nur ein Bruchteil des mit | |
42 Hektar riesigen Areals von Weißensee ist. Aufgeteilt ist er in elf | |
Begräbnisfelder, von denen die mit „W“ bezeichneten Ränder die | |
Erbbegräbnisse bilden und Feld A die Ehrenreihe vor allem für Rabbiner, | |
Rabbineranwärter und deren Ehefrauen ist. Oft beherrschen einheitliche | |
Stelen oder Obelisk-ähnliche Steine das Bild, wie man sie auch aus | |
Weißensee kennt. | |
An einer Stelle sehen wir den Fernsehturm, der uns jäh aus der | |
faszinierenden Zeitreise zurückholt. Vor dem Lapidarium in der Nähe des | |
Eingangs, in dem 60 uralte Grabsteine ausgestellt sind, stehen wir an | |
diesem Brückentag vor verschlossener Tür. Wir verlassen den Friedhof, um | |
viele Eindrücke reicher. „Da können wir beim nächsten Mal wieder hingehen�… | |
sagt mein Begleiter. | |
26 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://www.jg-berlin.org/judentum/friedhoefe/schoenhauser-allee.html | |
## AUTOREN | |
Bettina Müller | |
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