| # taz.de -- Cineastisches Experiment: Das Antiquariat des Grauens | |
| > Vor 100 Jahren wurde der Horrorfilm „Unheimliche Geschichten“ von Richard | |
| > Oswald in Berlin uraufgeführt. Nur ein Jahr später kam das | |
| > „Jugendverbot“. | |
| Bild: Guckt so schön: Conrad Veidt in „Unheimliche Geschichten“ | |
| Der Schauspieler Conrad Veidt wurde auf der Leinwand plötzlich starr vor | |
| Schreck. Er riss die großen und mit Kajal verstärkten Augen sehr weit auf. | |
| Seine Hände wurden zu skelettartigen Klauen, dann zeigte er mit der linken | |
| Hand auf eine imaginäre Gefahr im Hintergrund. „Connie“, wie ihn seine | |
| zumeist weiblichen Fans nannten, agierte gewohnt hyperexpressiv in Richard | |
| Oswaldts Horrorepisodenfilm „Unheimliche Geschichten“. | |
| Veidt als „der Tod“, Reinhold Schünzel als „der Teufel“ und Anita Berb… | |
| als „die Dirne“ verkörperten die Charaktere der Rahmenhandlung des Films, | |
| der in einem extrem düsteren Antiquariat angesiedelt war und so eine ganz | |
| besondere klaustrophobische Stimmung erschuf. Jede Nacht zur gleichen Zeit | |
| stieg die Schicksalsgemeinschaft als ungesund beleuchtete Zombies aus ihren | |
| Bilderrahmen und erzählte sich unheimliche Geschichten. Dabei | |
| interpretierten sie klassische Geistergeschichten, die von Meistern des | |
| Genres, wie zum Beispiel Edgar Allen Poe oder Robert Louis Stevenson, | |
| stammten. | |
| Richard Oswald ging damals mit seinem Film ein Wagnis ein. Klassische | |
| Horrorgeschichten im Kino, das war neu im jungen deutschen Medium | |
| Stummfilm, das die Experimentierphase noch lange nicht beendet hatte. Die | |
| fünf in sich abgeschlossenen Episoden hatten es in sich: tote Hände, die | |
| sich selbstständig machten, eine Pesttote, die plötzlich verschwand, eine | |
| von ihrem Ehemann zusammen mit einer schwarzen Katze eingemauerte untreue | |
| Ehefrau etc. | |
| Alle Hauptrollen wurden dabei ebenfalls vom „Triumvirat des Grauens“ | |
| Veidt/Schünzel/Berber kongenial umgesetzt. Dabei entstand eine düstere | |
| Dynamik, die die verzweifelte Konfusion der Menschen nach Ende des Ersten | |
| Weltkriegs deutlich widerspiegelte. Zwei Monate zuvor war am 11. August | |
| 1919 die Weimarer Verfassung in Kraft getreten. | |
| ## Kritiker reagierten positiv | |
| Hinter der Bevölkerung lagen schlimme Zeiten, die Zukunft war ungewiss. Die | |
| kollektive Psyche lag in den letzten Zügen, an irgendwelche Formen von | |
| Harmonie wollte man nicht so recht glauben und so ist es wohl auch zu | |
| erklären, dass ein Horrorfilm zum Kassenschlager wurde und die Zuschauer | |
| ihr Heil nicht in harmlosen Unterhaltungsfilmchen mit Happy End suchten. | |
| Das kam dann erst später bei den Nazis. | |
| Oswalds Instinkt, dass das genau das Richtige sei, trog ihn nicht. | |
| Uraufgeführt wurde das cineastische Experiment vor 100 Jahren am 5. | |
| November 1919 in den Richard-Oswald-Lichtspielen in Berlin. Der Film wurde | |
| zum Erfolg. Die Kritiker reagierten ausgesprochen positiv, lobten die | |
| darstellerischen Leistungen, das Berliner Tageblatt schwärmte am 8. | |
| November vom „meisterhaften Zusammenspiel“ und lobte die Spannung. Auch die | |
| „kapriziöse Rokokofigur“ Anita Berbers, die für den letzten Akt namens �… | |
| Spuk“ ideal zu sein schien, begeisterte Kritiker und Publikum zugleich. | |
| Der experimentierfreudige Oswald hatte schon im selben Jahr mit „Anders als | |
| die Andern“ für reichlich Aufsehen gesorgt, für endlose öffentliche | |
| Diskussionen und sogar Tumulte in den Kinosälen, bis der Film schließlich | |
| verboten wurde, weil er den Paragrafen 175 thematisierte, der sexuelle | |
| Beziehungen jeglicher Art zwischen Männern unter Strafe stellte. | |
| Der nonchalante Freigeist Oswald, 1880 als Sohn jüdischer Eltern in Wien | |
| geboren, war laut Wiener Bilder vom 21. November 1920 „der beliebteste | |
| Regisseur Deutschlands“ und hatte so eine gewisse kreative Narrenfreiheit. | |
| Auch damals war der vor der Kamera sehr extrovertierte Conrad Veidt die | |
| ideale Besetzung gewesen, der nun in den „Unheimlichen Geschichten“ erneut | |
| von dem Hamburger Schauspieler Reinhold Schünzel und der Tänzerin Anita | |
| Berber komplettiert wurde, die man in einem der Akte auch bei einer sehr | |
| seltenen auf Celluloid gebannten Tanzdarbietung bewundern konnte. | |
| ## Wandlungsfähige Schauspieler | |
| Oswald braute in dem Film ein wahres Hexenkesselsüppchen zusammen. Er | |
| garnierte es vor allem mit einem Konglomerat an menschlichen Typen, die so | |
| drastisch nur in der Weimarer Zeit existieren konnten. Besonders die | |
| ungewöhnliche Physiognomie Veidts erinnerte stets ein wenig an einen | |
| ausgemergelten Kriegsheimkehrer, der in jämmerlichem Zustand um eine heiße | |
| Suppe bat. | |
| Schünzel, ein sehr wandlungsfähiger Schauspieler und heute zu Unrecht fast | |
| vergessen, konnte seine Rollen wunderbar zwischen perfidem Halunken mit | |
| Schieber-Flair und entfesseltem komödiantischem Hallodri gestalten und war | |
| in „Unheimliche Geschichten“ natürlich zumeist in diversen Schurkenrollen | |
| zu sehen, bis er dann mit diesem Klischee im letzten, zuweilen heiteren Akt | |
| brach, der von Oswald selber geschrieben wurde und in dem Schünzel | |
| fulminant als gepuderter Rokokoschnösel aufspielte. Dabei ließ ihn, wie bei | |
| Veidt, seine Physiognomie ebenfalls nie im Stich. Geriet er in innere | |
| emotionale Turbulenzen, fielen auch ihm die Augen fast aus seinem Kopf, | |
| was bei ihm aber eine Folge der Basedowschen Erkrankung war, einer | |
| Autoimmunerkrankung der Schilddrüse. | |
| Schünzel als „Teufel“, als zusammengekauerter tierartiger Mephisto, das war | |
| nicht zuletzt auch eine Allegorie auf die Verführung durch den Krieg, der | |
| dem deutschen Volk ungezählte Kriegstote beschert hatte. „Der Tod“ brauchte | |
| sie nun nur noch einzusammeln und dem Höllenfeuer zu übergeben, vor dem es | |
| kein Entrinnen gab. Und über allem tanzte am Abgrund Anita Berber als Hure, | |
| die wie keine andere auf der Leinwand die hemmungslose Zeit der „Goldenen | |
| Zwanziger“ vorwegnahm, die für die meisten aber alles andere als golden | |
| waren. | |
| 100 Jahre später ist man erstaunt über so viel Klarsicht des Regisseurs, | |
| der damit ein cineastisches Meisterwerk in einer Zeit geschaffen hat, die | |
| wie nie zuvor die deutsche Geschichte prägen sollte, weil sie schnurstracks | |
| in die Diktatur führte. | |
| ## „Jugendverbot“ | |
| Man weiß, wie Anita Berber endete, 1928 starb sie, keine 30 Jahre alt, als | |
| körperliches Wrack. Veidt bot ganz souverän eine zutiefst verinnerlichte | |
| Performance, bei der die reale Persönlichkeit des Schauspielers völlig | |
| verschwand. Er konnte sich später durch sein Talent gut in die Tonfilmzeit | |
| herüberretten und schaffte es nach seiner Emigration (seine Frau war Jüdin) | |
| sogar erfolgreich als deutscher Schurke in den Filmklassiker „Casablanca“. | |
| Reinhold Schünzel emigrierte zunächst auch nach Amerika, er galt durch | |
| seine Mutter als „Halbjude“. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er | |
| fünf Jahre später starb, ohne als Regisseur je wieder an seine früheren | |
| Erfolge anknüpfen zu können. | |
| In Zusammenarbeit mit dem Regisseur Oswald haben die drei Akteure ein | |
| legendäres Stück Filmgeschichte hinterlassen. Es lässt einen in eine | |
| vergangene Zeit eintauchen, deren Unsicherheiten und Brüche nicht zuletzt | |
| auch auf der Leinwand spürbar werden, als virtuoses Zusammenspiel nicht nur | |
| untereinander, sondern auch mit Raum und Zeit, das seinesgleichen sucht und | |
| durch den geschichtlichen Subkontext im nachhinein eine fast gespenstische | |
| Transzendenz erhält. | |
| Acht Monate nach der Uraufführung wurde am 16. Juli 1920 über den Film das | |
| Urteil „Jugendverbot“ ausgesprochen. Die deutschen „Sittenwächter“ hat… | |
| mal wieder ganze Arbeit geleistet. | |
| 16 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Müller | |
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