| # taz.de -- Schmerzempfinden bei Fischen: Unerforschte Gefühle | |
| > Den Stress von Fischen kann man messen. Ob sie ihn auch als Schmerz | |
| > empfinden, diskutieren die Forscher bis heute. Ausschließen kann man es | |
| > nicht. | |
| Bild: Litt sie wirklich nicht? Tote Brasse im ostfriesischen Greetsiel | |
| Hamburg taz | Letztlich ist es Glaubenssache. Und wie bei der Religion | |
| bleibt die Wissenschaft bis heute den Beweis schuldig. Schafft es nicht, | |
| einen Konflikt zu lösen, in dem es so viele Lobbyisten und Fraktionen gibt: | |
| Angler, Fischer, Aquakultur-Betreiber, private Fischzüchter, Tierschützer | |
| sind uneins darüber, ob ein Fisch Schmerz spürt oder nicht. | |
| Besonders absurd erscheint dem Laien die – wissenschaftsintern zentrale, ja | |
| heikle – Frage, ob der Fisch ein „bewusstes“ oder „unbewusstes“ | |
| Schmerzempfinden habe. Das klingt, als ob ein „unbewusster“ Schmerz | |
| geringer sei, sodass praktische und strukturelle Gewalt – etwa durch | |
| brutale Fischerei-Praktiken und [1][Schadstoff-Einleitung in Gewässer] – | |
| weiterhin gerechtfertigt sei. | |
| Vielleicht leugnen auch deshalb so viele das Leid von Fischen, weil es eine | |
| Spezies ist, der gegenüber sich der Mensch vorbehaltlos überlegen fühlen | |
| kann: Fische scheinen weder Mimik noch Laute zu haben (was wissenschaftlich | |
| widerlegt ist, sie kommunizieren durchaus unter Wasser). | |
| Außerdem leben sie in einem uns fremden Element. Wir sehen sie selten und | |
| nehmen sie meist nur als Nahrungsmittel wahr, wenn sie rar oder ungenießbar | |
| sind, also nicht mehr „funktionieren“. Ihr Gehirn, ihr Gefühlsleben ist | |
| kaum erforscht: In bizarrer Paradoxie scheint der Mensch die Tiere, die in | |
| der Evolution am Anfang standen, als Letzte zu erforschen. | |
| In anthropozentrischem Denken befangen, findet er Tiere schützenswert, die | |
| entweder intelligent oder niedlich-unterlegen sind. Wenn es um Gattungen | |
| einer ganz anderen Sphäre geht, um „Fremde“: Dann halten sich Interesse und | |
| Empathie in engen Grenzen. Eine interessante Form der Diskriminierung jener | |
| Tiere, die der Volksmund gern als Wesen mit „Drei-Sekunden-Gedächtnis“ | |
| abtut. | |
| Dabei nimmt selbst das deutsche Tierschutzgesetz Fische in Schutz. Ist der | |
| Gesetzgeber also fortschrittlicher als die Wissenschaft? Nicht unbedingt, | |
| formuliert das Gesetz doch recht schwammig, dass jedwedes Tier „nur aus | |
| gutem Grund zu töten“ und Schmerz „möglichst zu vermeiden“ sei. | |
| Wie den aber messen? Knackpunkt des Streits ist das Fehlen des Neocortex | |
| bei Fischen – jenes Hirn-Areals, das bei Säugetieren für | |
| Schmerz-Wahrnehmung zuständig ist, also für die Bewertung des Schmerzes als | |
| „unangenehm“. ForscherInnen wie die Britin Lynn Sneddon haben | |
| herausgefunden, dass Fische Nozizeptoren haben, die schädliche Reize ans | |
| Gehirn weiterleiten. Und Verhaltensstudien ergaben, dass Fische, denen man | |
| Schmerz zufügte, jenen Bereich des Aquariums aufsuchten, der – obwohl | |
| unangenehm grell beleuchtet – Schmerzmittel enthielt. Auch beobachtete man, | |
| dass Fische, denen man Essigsäure ins Maul gespritzt hatte, eine Zeitlang | |
| nicht fressen wollten. | |
| Ob das aber bloß ein Reflex ist – wie unser Wegziehen der Hand von der | |
| heißen Herdplatte – oder eine Entscheidung aufgrund einer | |
| „Unangenehm“-Empfindung? Einige Forscher sagen: Dieses Vermeidungsverhalten | |
| genügt nicht als Beweis. | |
| Andere WissenschaftlerInnen finden das sehr wohl und vermuten, dass andere | |
| Hirnregionen Funktionen des Neocortex ersetzen. „Es gibt Hinweise darauf, | |
| dass sich Hirnregionen bei Fischen zu differenzierten Strukturen entwickelt | |
| haben, die sensorische Information verarbeiten und Funktionen aufweisen, | |
| die bei Säugetieren im Zusammenhang mit Schmerzwahrnehmung stehen“, sagt | |
| Fischereiwissenschaftlerin Lina Weirup, die derzeit an der Uni Hamburg über | |
| Fischwohl promoviert. | |
| Auch in Bezug auf Sinneswahrnehmung und kognitive Fähigkeiten scheint der – | |
| auch Vögeln fehlende – Neocortex entbehrlich: „Fische, wie auch Vögel, | |
| können sehen oder auch kognitive und intelligente Fähigkeiten ausüben, die | |
| bei Säugern unter Nutzung des Neocortex stattfinden“, sagt sie. „Wenn also | |
| diese Eigenschaften von anderen Hirn-Arealen übernommen werden können, | |
| warum nicht auch die Schmerz-Empfindung?“ | |
| Natürlich könne man Fische nicht fragen. Aber auch die Gefühle des Menschen | |
| kenne man nur deshalb, weil er davon erzähle. In der Tat haben | |
| Neurowissenschaftler auch beim Menschen den Sitz des Bewusstseins bis heute | |
| nicht gefunden. Man vermutet, dass sich hierfür verschiedene Areale | |
| vernetzen. | |
| ## Sichtbare Anspannung | |
| Warum sollte das bei Tieren anders sein? Und warum nicht das Naheliegende | |
| aus den Verhaltensstudien folgern und an [2][Sauerstoffmangel erstickende | |
| Fische] als leidend betrachten? Ihre Anspannung könne man deutlich sehen, | |
| sagt die Wissenschaftlerin und Veterinärmediznerin Henrike Seibel, die an | |
| der Uni Kiel Fischkrankheiten erforscht. „Gestresste Fische schwimmen und | |
| atmen hektisch, zeigen mehr Kiemenbewegungen, kippen zur Seite oder auf den | |
| Rücken“, sagt sie. | |
| Da könnte man schon vermuten, dass sie sich quälen – und sich freuen, wenn | |
| sie wieder in sauberes Wasser gesetzt werden, wie Jonathan Balcombe im Buch | |
| „Was Fische wissen“ meint. Peter Wohlleben, Autor des Buchs „Das geheime | |
| Leben der Bäume“ stellt im [3][Zeit-Artikel] „Das Glück des Hechts“ gar… | |
| Frage, ob Fische auch Angst oder Liebe empfinden können. | |
| Die Schwierigkeit solch populärwissenschaftlicher Texte sei, dass sie | |
| menschliche Gefühle auf Tiere übertrügen, sagt Doktorandin Lina Weirup. | |
| „Als Wissenschaftlerin argumentiere ich vorsichtiger und sage: Vielleicht | |
| haben Fische dem Menschen ähnliche Grund-Empfindungen. Das reicht, um sie | |
| zu schützen.“ | |
| Denn auch wenn man nicht beweisen könne, dass Fische Schmerz spürten: „Es | |
| gibt viele Anhaltspunkte, und ausschließen können wir es nicht. Es läuft | |
| also zwangsläufig auf eine ethische Debatte zum Umgang des Menschen mit dem | |
| Tier hinaus.“ | |
| 13 Jun 2020 | |
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| [3] https://www.zeit.de/zeit-wissen/2018/02/fische-wissen-biologie-peter-wohlle… | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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