# taz.de -- Theater in der Tiefgarage: Isoliert im eigenen Auto | |
> Das Deutsche Theater in Göttingen inszeniert Juli Zehs Überwachungs-Text | |
> „Corpus delicti“ in einer Tiefgarage. Die Zuschauer sitzen dabei im Auto. | |
Bild: Einziger Wermutstropfen des Stücks: Der Pkw erlebt einen Boom als Ort de… | |
GÖTTINGEN taz | „Liebes DT, wir vermissen euch“, hat jemand ans Portal des | |
Deutschen Theaters (DT) in Göttingen geschrieben. Und wurde erhört. In | |
Zeiten von Social Distancing wollen auch die Bühnenkünstler vor allem | |
wieder unter Menschen, vor Zuschauern spielen. Und die Göttinger zeigen als | |
erstes Theater im Norden, dass derzeit mehr möglich ist, als | |
[1][Social-Media-Formate zu bedienen] und [2][Aufführungsmitschnitte zu | |
streamen]: eine Premiere mit körperlich live anwesenden Schauspielern und | |
Zuschauern. | |
„Isolationstheater“ nennt Regisseurin Antje Thoms ihr Projekt, was | |
einerseits den aktuellen Abstandsregeln und Reinlichkeitsvorschriften | |
geschuldet ist, andererseits aber auch das Thema der Stunde. Recht frei | |
adaptiert Thoms „Corpus delicti“, Juli Zehs gesellschaftsphilosophisches | |
Diskursstück über das fragile Verhältnis von Freiheitsrechten des | |
Individuums und den für das Zusammenleben im Kollektiv notwendigen | |
Einschränkungen. Ausgangspunkt ist bei Zeh der Wunsch nach einem von | |
Krankheiten befreiten, perfekten Körper, bei Thoms schwingt auch das | |
Aushungern von Covid-19 mit. | |
Natürlich stromern die Besucher nun nicht einfach ins Parkett und die | |
Darsteller auf die Bühne. Ein Security-Typ mit Schutzanzug versperrt | |
breitbeinig den Zugang zur Theatertiefgarage. Um dort an fünf Spielorten | |
vorfahren, parken, zuschauen zu dürfen, wird alle 15 Minuten ein Wagen | |
eingelassen. Drive-through-Theater sozusagen. Nur mit dem Auto ist es | |
möglich, gleichzeitig öffentlich mit anderen Kunst zu genießen und | |
virologisch geschützt im Privaten zu sein. Ärgerlich, dass so der | |
Privat-Pkw gerade wieder als Sicherheitsgarant einen Boom erlebt. | |
Am Eingang bekommt jedes Automobil eine Lautsprecherbox zur | |
O-Ton-Übertragung aus den zusätzlich noch per Glas, Plexiglas oder Folie | |
abgeriegelten Spielorten. Aus einem Kirmeskassenhäuschen verkündet eine | |
dauerlächelnde PR-Sprecherin „Die Methode“, so der Stücktitel: also die | |
Regeln in der Garagenwelt, wo ein glückliches ein gesundes Leben zu sein | |
hat, jede Gefährdung auszuschließen ist und daher alle entsprechenden | |
Ernährungs-, Körperreinigungs-, Partnerwahl- und Putzvorgaben streng | |
einzuhalten sind. Dass Kameras, Mithöranlagen, implantierte Datenchips und | |
vielleicht auch Tracing-Apps zum Überwachungseinsatz kommen, liegt nahe. | |
Zur Einübung im Widerstandsgeist begegnen die Theaterbefahrer einem vor | |
raubeiniger Vitalität strotzendem Kerl in einer historischen | |
Chrysler-Limousine: Moritz Holl. Bei Zeh ist er Auslöser des Theaterstücks, | |
sein Leben abseits der Gesundheitsdiktatur bringt ihm Anklagen aller Art | |
ein, schließlich begeht er Selbstmord. Was seine Schwester Mia von der | |
gedankenlos Angepassten zur kritischen Melancholikerin mutieren lässt. | |
Plötzlich ignoriert sie ihren Abwasch, reißt Joggingkilometer nicht ab, | |
raucht Zigarette. Schwankend zwischen Einsicht in die Unterordnung und | |
Aussicht auf Freiheit. Davon erzählt Zeh. | |
Antje Thoms setzt den Bruder ins Zentrum. Er suhlt sich im Außenseitertum, | |
tönt großkotzig, dass er das Hygienegebiet verlassen habe, „hier beginnt | |
die echte Welt“, erzählt vom Sex-&-Drugs-&-Rock-’n’-Roll-Leben und freut | |
sich, nicht nach Produkten eines Drogeriemarktes, sondern „gut“ zu riechen, | |
„nach Mensch“. Wie ein Liedermacher stimmt Holl das Leitmotiv des Abends | |
an, den Song „Which side are you on“. Einst von streikenden Bergarbeitern | |
ihren noch unschlüssigen Kollegen entgegengesungen, jetzt als Frage | |
gemeint, ob man lieber formatiert und virenfrei dahinvegetieren oder mit | |
Krankheit und Tod leben will. | |
Weiter geht es zu einer Beamtin. Ihr Büro ist eine Seilbahngondel in einem | |
Tannenwald. Direkt spielt sie die Autofahrenden als Herrn Holl an, will ihm | |
„Methode“-feindliche Reden, seine Unzufriedenheit ausreden. Versucht ihn – | |
wie aktuell ja auch die Politik – mit Schuldgefühlen unter Druck zu setzen | |
und droht schließlich mit Sanktionen. Als diabolische Manipulatorin spielt | |
Angelika Fornell diese Systemverteidigerin. Sehr schön auch, wie | |
Helikoptergeräusche und Polizeisirenen als Verweis auf den | |
Überwachungsstaat zugespielt werden, wenn ihr ein Nieser entfährt und nicht | |
ordnungsgemäß in der Armbeuge entsorgt wird. | |
Der nächste Autostopp gilt einem Anwalt, der sich eine Verteidigung Holls | |
aber nicht zutraut. Das Urteil ergeht: einfrieren auf unbestimmte Zeit. In | |
diesem dystopischen Zeh-Land ist Widerspruch tödlich, derzeit muss aber | |
Denken ja noch nicht bei der Regierung oder beim Robert-Koch-Institut | |
abgeben werden. Die Autorin selbst sprach sozusagen als Fortsetzung ihres | |
Textes in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, der Staat habe mit | |
seiner „Bestrafungstaktik“ das Grundrecht auf Leben über alle anderen | |
gestellt – und fragt, ob diese Beschneidungen verhältnismäßig waren. | |
Der Parcours endet bei Mia. Müde räsoniert sie das Schicksal ihres Bruders. | |
Und warum eine fürsorglich gemeinte Politik zu einem repressiven Regime | |
führte. Ob sie nun revoltieren soll für Selbstbestimmung oder devot zur | |
sogenannten Volksgesundheit beitragen? | |
Die fünf Monologe machen diese aktuellen Debatten auf, es sind Argumente | |
für besonders harte Schutzmaßnahmen wie für besonders umfangreichere | |
Lockerungen zu hören. Die Regie spart sich in der nach Freiheit dürstenden, | |
Beschränkungen kritisierenden, mit dem Widerstandsvirus infizierenden | |
Inszenierung die explizite Abgrenzung vom verschwörungstheoretischen | |
Geschrei, das derzeit von Reichsbürgern, Rechtspopulisten und ihren | |
Nachplapperern zu hören ist. Aber es sitzen ja auch mündige Bürger im Auto. | |
Mehr Theater geht bundesweit derzeit wohl nicht. Dass Göttingen das möglich | |
gemacht hat: Respekt. Und Hochachtung vor der künstlerischen Leistung. | |
Zu sehen ist „Die Methode“ bis Spielzeitende fast täglich 16 Mal, für | |
jeweils ein Auto, also teilweise in einer 1:1-Betreuung des Fahrers als | |
Zuschauer. Alle Ensemblemitglieder sind trotz Kurzarbeit in den | |
Aufführungsmarathon eingespannt – jede Rolle ist fünfmal besetzt. | |
16 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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