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# taz.de -- Abgefilmtes „Wintermärchen“ in Göttingen: Abstandsregel einge…
> Eine Theaterinszenierung für das Internet abzufilmen ist komplizierter,
> als es klingt. Diese Erfahrung macht derzeit das Junge Theater Göttingen.
Bild: Auf der Bühne für die Kamera: Schauspieler Jan Reinartz grübelt mit He…
Göttingen taz | Ein Gedanke an Köln war’s, der den Erzähler aus Heines
„Wintermärchen“ beiläufig in den Mantel greifen lässt. Er fingert eine
Postkarte in Schwarz-Weiß aus der Innentasche und gerät auf der
Theaterbühne ausdrucksstark ins Grübeln: „Die steinernen Häuser schauten
mich an / Als wollten sie mir berichten / Legenden aus altverschollener
Zeit, / Der heil’gen Stadt Köllen Geschichten“. Und Stopp. „War gut“, …
der Kameramann und bittet den wie eingefroren dastehenden Schauspieler, die
Karte noch mal kurz in den Zoom der Kamera zu wenden. „Bitte nicht“, sagt
der erschrocken, „da ist Paris drauf – das merkt wirklich jeder!“
Nicht jede gefilmte Großaufnahme tut dem Bühnengeschehen gut, auch hier
beim [1][Jungen Theater in Göttingen] muss man sich erst mal herantasten.
Es ist ein Experiment, eine Produktion für den Internetstream, [2][wie sie
viele Häuser gerade machen], ohne dass irgendwer ein Patentrezept hätte.
Zumindest wenn man nicht zu der Handvoll Theater gehört, wo spezialisierte
TV-Sender für so was vorbeikommen. Dank Coronadürre war viel zu sehen in
den letzten Wochen: von der achtlos mitlaufenden Dokukamera im Parkett
kleiner Häuser bis zu den Materialschlachten der ganz Großen.
Göttingen spielt irgendwo dazwischen. Man hat ein externes Filmteam
engagiert, die Firma Knock-Wood Films, und mit „Deutschland. Ein
Wintermärchen“ ein schönes, aber überschaubares Stück ausgewählt.
Schauspieler Jan Reinartz gibt Heines Gedicht über weite Strecken
wortgetreu als Monolog wieder – kitzelt mit Mimik und dezent gesetzten
Lachern gekonnt Sarkasmus und Ironie aus dem Text, ohne ihn aber zu
gängeln. Das ist eine große Freude, denn so beißend die Abrechnung des
Exilanten mit Deutschland auch ausfällt, so sehr lebt der Text eben doch
auch von seinen Zwischentönen. In einigen Szenen springt ihm Katharina
Brehl bei, spielt etwa wütend und tobend Vater Rhein in Gummistiefeln und
angeklebtem Rauschebart. Eine schauspielerisch gelungene Konfrontation ist
das, und ein bisschen Action für die Kamera.
Außerdem ist mit nur zwei Menschen auf der Bühne auch die Abstandsregel
gerade noch zu wahren. Auch das ist ja wichtig fürs Streaming, sofern nicht
noch alte Aufnahmen aus der Zeit vor Corona im Archiv herumliegen. Ganz zu
schweigen vom Proben: Auch in Göttingen galt schließlich wochenlanges
Arbeitsverbot und entsprechend kurz war die Vorbereitungszeit für die
Filmaufnahmen.
Die werden nun zur Marathonsitzung: Jede Szene gibt’s einmal im Durchlauf
für die Totale, die das Bühnengeschehen in Gänze zeigt. Dann werden
einzelne Passagen nochmal halbtotal gefilmt und dann gleich noch mal schräg
von der Seite, wofür der Kameramann mit Stativ und allem Krempel auf die
Bühne klettert. Dann gibt’s einen verpatzten Lichtwechsel und alles geht
von vorn los. Mag sein, dass ein Livepublikum davon nichts gemerkt hätte,
aber unterschiedlich gefärbtes Rohmaterial für den Schnitt – das geht nun
wirklich nicht.
Regisseur Tobias Sosinka und Knock-Wood-Chef Christian Ewald-Kronen
arbeiten harmonisch nebeneinander. Das ist nicht selbstverständlich, da
hier doch schließlich zwei ästhetisch sehr unterschiedliche Bildebenen
miteinander konkurrieren. Als die Theaterleute sich zwischendurch kurz
besprechen, weist Ewald-Kronen seinen zweiten Kameramann noch mal ein: Der
Bildausschnitt müsse weiter als gewohnt sein, weil Theaterschauspieler mehr
agieren als die vom Film.
Der Drehtag ist anstrengend, auch weil selbst in einem Theatersaal mit
weniger als zehn Menschen die Luft schnell steht, und wegen der möglichen
Virenkonzentration gelüftet werden muss. Als Ewald-Kronen nach ungefähr
zweieinhalb Stunden fragt, wie weit man denn sei im Text, folgen betretenes
Schweigen und ein kurzes Lachen vom Mischpult. Geplant waren vier Stunden,
am Ende wurd’s das Doppelte. Aber so ist das eben mit Experimenten.
Jetzt folgen Schnitt und Fragen der Ausspielungsplattformen. Intendant Nico
Dietrich führt noch verschiedentlich Gespräche: vom Fachmedium online, über
Lokales bis zum Patient:innensender des Krankenhauses.
Am drängendsten interessiere ihn gerade, erzählt er der taz, was „das
Publikum“ eigentlich heiße. Natürlich sei es gut, jetzt einfach zeigen zu
können, dass man noch da sei. Aber vielleicht lerne man ja auch noch was
für die Zeit nach Corona.
Dass die Zukunft des Theaters langfristig im Netz spiele, glaubt er
allerdings nicht. „Wir wollen ja auch gar nicht, dass unsere Arbeit immer
und überall kostenfrei verfügbar ist“, sagt der Intendant. Auch zwischen
Verlagen, Autor:innen und Theatern ist die Rechtefrage kompliziert. Neben
der kleinen Besetzung war auch das ein Grund für das Heine-Stück: Der Autor
ist lange tot und stört sich nicht am Streaming.
Dafür, dass man hier so vorsichtig und ergebnisoffen an die Sache geht,
wird es aber doch schnell weitergehen. Das Festival „Hart am Wind“ hat die
Göttinger Produktion „Fridays. Future“ eingeladen und will sie nun digital
zeigen. Bei den Hamburger Privattheatertagen im Juni denkt man zumindest
intensiv darüber nach. Hier sollte „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche
Lücke“ nach dem Roman von Joachim Meyerhoff laufen. Das „Wintermärchen“
geht im Juni online. Es ist gut möglich, dass bis dahin schon die nächsten
Kameras vor der Bühne des Jungen Theaters stehen.
12 May 2020
## LINKS
[1] https://www.junges-theater.de/
[2] /Angebote-norddeutscher-Theater/!5674538
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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