# taz.de -- Als der Corona-Geduldsfaden riss: In einem Aquarium voll Aspik | |
> Endlich stand die Maschine mal still. Wann kam der Moment, als sich das | |
> Kammerspiel der Konzentration in eine zähe Elegie auflöste? | |
Bild: Mein Corona-Abtraum mit Damien Hirsts Tigerhai | |
„Herrlich“, antwortete ich bis vor Kurzem immer, wenn mich Freunde fragten, | |
wie es mir denn so gehe „in diesen Tagen“, und erntete dann meist ein | |
süßsaures Lächeln. Aber ehrlich, kein Zynismus. Als die ersten | |
Bleib-zu-Hause-Orders den Beginn des Corozäns ankündigten, hatte mich das | |
kein bisschen geschreckt. | |
Gut, Ausgangssperre war natürlich eine hässliche Vokabel. Die kannte man | |
eigentlich nur so aus Diktaturen und den Bürgerkriegs-Reportagen im | |
Fernsehen. Ich habe sie mir dann einfach zur Auszeit zurechtgebogen. | |
„Das ist unser Krieg“, beschied mich mein Bruder pathetisch am Telefon. | |
Fand ich übertrieben. Das waren doch super Aussichten. Endlich stand die | |
Maschine mal still. Endlich mal hätte man nicht das Gefühl, irgendwas zu | |
versäumen, irgendwo präsent sein, irgendwem nachjagen zu müssen. Es fand | |
ja nichts statt. | |
Eigentlich fing es ganz gut an. Ich kaufte ein paar Vorräte, erklärte mein | |
Appartement zum geistigen Hochsitz, legte mir einen Stapel Bücher von | |
Agamben wie Ausnahmezustand bis Zorro wie Maske zurecht. | |
Streng absolvierte ich meine selbst auferlegten Routinen. Stand nie zu spät | |
auf, trank keinen Alkohol. Ging selbst dann noch morgens zur Post, als die | |
Filiale nur noch Obdachlose beherbergte. Hielt mich an mein Schreibpensum. | |
Volle Konzentration auf die Lage, alles wollte ich gründlich durchdenken, | |
kein Krisenzeichen sollte mir entgehen. Und siehe: Wundersam flossen die | |
Ereignisse und Gedanken in meinem Weltinnenraum zusammen. | |
## Wozu Staub wischen? | |
Der Weltaußenraum freilich schrumpfte. Auch wenn ich noch so oft das | |
unermessliche Tempelhofer Feld umrundete, auch wenn ich nachts bis tief | |
nach Alt-Mariendorf vorstieß. Und selbst bei weiten Ausflügen kam ich | |
nirgends richtig an. Die Freundin, die für die Balkon-Aktion der | |
Künstler*Innen in Prenzlauer Berg eine Strickleiter aus Fundholz von ihrem | |
Balkon baumeln ließ, konnte mir nur von oben zuwinken. Das Gorki-Theater, | |
wohin ich schon vor dem Coronozän immer zu Fuß zur Premiere lief, war | |
geschlossen. Und wie lässt man einen Drachen steigen, wenn drei Leute zwei | |
Meter Abstand zueinander halten müssen? | |
Unmerklich begann sich das Korsett der Hypernormalität zu lockern. Wozu | |
Staub wischen, fragte ich mich, wenn doch niemand zu Besuch kommen konnte. | |
Konnte die Relektüre von Thomas Manns „Tod in Venedig“ nicht auch bis | |
morgen warten? Oder übermorgen? Wozu durch Dating-Apps surfen, wenn unter | |
jedem Profilbild #stayhome prangte? Der Mensch lebt nicht von nude pics | |
allein. | |
Wann genau kam dann der Moment, als sich das Kammerspiel der Konzentration | |
und Inspiration in eine zähe Elegie auflöste? Als ich den Freak im | |
Schneidersitz auf der Bergmannstraße in eine urbane Leere starren sah, die | |
ihm nicht antwortete? Als ich nicht mehr wusste, ob ich die Freundin, die | |
ich auf dem Wochenmarkt regelmäßig zu einem Abstands-Cappuccino traf, | |
zuletzt vor zwei Tagen oder vor zwei Wochen gesehen hatte? Als ich während | |
des siebzehnten Zoom-Meetings plötzlich das Gefühl hatte, durch ein | |
Aquarium voller schnappender Fischmäuler zu schweben? Als mir der | |
erbitterte Streit um [1][Achille Mbembes angeblichen Antisemitismus] wie | |
ein Galaxien-Pingpong im Andromeda-Nebel vorkam? | |
Schweißgebadet erwachte ich eines Mitternachts auf der Couch aus einem | |
Alptraum auf. Wie Damien Hirsts Tigerhai schwebte ich in einem Aquarium | |
voll Aspik. Das Smartphone war zu Boden geglitten, Dunkelheit umgab mich, | |
nur im Treppenhaus hörte ich jemand kaum merklich die Stufen hinauf ächzen. | |
Mit einem Ruck richtete ich mich auf, taumelte wie ein Schlafwandler aus | |
dem Haus und goss mit letzter Kraft das zarte Wildapfelbäumchen, das ich | |
letzten Herbst in die Rabatte vor unserem abgekämpften Mietshaus gepflanzt | |
hatte. Bald soll die große Dürre kommen. | |
14 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://Achille%20Mbembes%20angeblichen%20Antisemitismus | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
## TAGS | |
Kolumne Berlin viral | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Pandemie | |
Ausgangssperre | |
Kolumne Berlin viral | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Kolumne Berlin viral | |
Kolumne Berlin viral | |
Kolumne Berlin viral | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Rausgehen in Corona-Zeiten: Plötzlich so schön franzosenhousig | |
Raus aus der Wohnung, aber wohin? Selbst die Kanäle der Stadt sind | |
plötzlich voll. Ärger staut sich an. Entspannung zu finden, wird schwer. | |
Theater in der Tiefgarage: Isoliert im eigenen Auto | |
Das Deutsche Theater in Göttingen inszeniert Juli Zehs Überwachungs-Text | |
„Corpus delicti“ in einer Tiefgarage. Die Zuschauer sitzen dabei im Auto. | |
Corona-Skeptiker in sozialen Netzwerken: Die Stunde der Hobbychecker | |
Viele Leute in den sozialen Netzwerken sind besser informiert als die | |
Experten. Was sind das auch für Experten, die sich oft nicht sicher sind? | |
Verschwörungstheoretiker demonstrieren: Dicke weiße Spucke-Bällchen fliegen | |
Unter den Hygiene-Demo-Teilnehmern finden sich ältere Menschen. Selbst die | |
wollen nichts von Solidarität wissen: „Diktatur, Diktatur.“ | |
Zoo in Corona-Zeiten: Nie wieder Ahs und Ohs vor Robben | |
Der Berliner Zoo hat wieder auf. Und siehe da: Showfüttern fällt aus – u… | |
plötzlich werden bis dahin unscheinbare Tiere zur zoologischen Sensation. |