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# taz.de -- Das Buch „Haarmann. Ein Kriminalroman“: Der Mann mit dem Hackeb…
> Auch wegen ihres Nachnamens hat unsere Autorin Frauke Hamann den neuen
> Roman über den Serienmörder Fritz Haarmann mit besonderem Interesse
> gelesen.
Bild: Seltsamer Kult: Hannover 96-Ultras schwenken 2012 eine Fahne mit Fritz-Ha…
Lübeck taz | Das Lied, das ich wegen meines Nachnamens immer wieder zu
hören bekam, war grausam: „Warte, warte nur ein Weilchen, / bald kommt
Haarmann auch zu dir, / mit dem kleinen Hackebeilchen, / macht er
Schabefleisch aus dir. / Aus den Augen macht er Sülze, / aus dem Hintern
macht er Speck, / aus den Därmen macht er Würste / und den Rest, den
schmeißt er weg.“
Wie gemein, es zu singen, wenn ich in die Nähe kam. Was wusste ich als
Lübeckerin Frauke Hamann denn von Fritz Haarmann in Hannover, der in den
1920er-Jahren seine Opfer tot gebissen, ihre Leiber zerstückelt und die
Körperteile in die Leine geworfen hatte? Der Schwarzmarkthändler,
Polizeispitzel und Serienmörder hieß doch Haarmann. Wie ungerecht, mich
aufgrund des gleichen Namensklangs zu quälen. Alles, was Fritz Haarmann
betrifft, verfolge ich seitdem. Oder verfolgt es mich?
Die monströsen Taten von Fritz Haarmann werden immer wieder neu erzählt.
1961 ist die parodierte Version des Liedes „Warte, warte nur ein Weilchen,
bald kommt auch das Glück zu dir“ aus der Operette „Marietta“ einige Woc…
in den Top 10 der deutschen Charts. „Und das Kino – dann sehen doch alle
Leute, daß ich tot bin – in Amerika, China, Japan und der Türkei – ich bin
doch jetzt berühmt. Später kommen auch noch Romane“, sagt Haarmann dem
psychiatrischen Gutachter. Er behält recht.
Keine der publizistischen und künstlerischen Arbeiten über den Serienmörder
kommen an Theodor Lessings Prozessbericht „Haarmann – Die Geschichte eines
Werwolfs“ vorbei. Der Kulturkritiker und Philosoph an der Universität
Hannover beschreibt den Angeklagten: „Vor uns steht eine keineswegs
unsympathische Erscheinung. Äußerlich betrachtet: ein schlichter Mann aus
dem Volke. Freundlich blickend und gefällig, zuvorkommend, auffallend
gepflegt, sauber und ‚tipp-topp‘. Im allgemeinen scheint er wie ein gar
nicht bösartiges, ganz im Augenblick lebendes, völlig eigenbezügliches und
durchaus triebhaftes Tier.“
Dirk Kurbjuweits gerade erschienenes Buch „Haarmann. Ein Kriminalroman“
(Penguin 2020, 320 S., 22,70 Euro, E-Book 14,99 Euro) nun schildert den
Mordfall aus der Perspektive des ermittelnden Kommissars. Diesen nennt
Kurbjuweit nicht Hermann Lange, wie in Wirklichkeit, sondern Robert
Lahnstein. Ihn irritiert, wie zögerlich die Kollegen in Hannover vorgehen,
obwohl doch zahlreiche Jungen als vermisst gemeldet werden.
Lahnstein beobachtet die Gegend um den Hauptbahnhof, wo die Schieber
stehen, wo die Ausreißer ankommen, die Entlaufenen und
Obdachlos-Gewordenen. Allmählich erfasst er das Netz aus Polizisten und
Spitzeln, aus Gleichgültigkeit und Nicht-Genau-Wissen-Wollen. Fritz
Haarmann, wegen Körperverletzung und „Unzucht mit Knaben“ vorbestraft, wird
sogar zum Verschwinden eines Jugendlichen vernommen. Doch der
Polizeispitzel mit Detektivausweis bleibt unbehelligt.
Die Zahl der Vermissten wächst. Es gibt Gerede, dass Menschenfleisch
feilgeboten werde. Lahnstein vertieft sich in Haarmanns Akte. Darin ist von
„angeborenem Schwachsinn“ die Rede. Von Strafverfahren wegen
Unterschlagung, Diebstahl und homosexueller Kontakte. Vom Militärdienst,
von Halluzinationen, dem Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt: „Den
Krieg über hatte Haarmann im Gefängnis gesessen. Keine Front, keine
Maschinengewehre, keine Artillerie, kein Luftschiff. Fritz Haarmann hatte
die Zeit des großen Schlachtens hinter Gittern verbracht. Die große
Verrohung war an ihm vorbeigegangen.“
Als arbeitsunfähig eingestuft, lebt er vom Handel mit Konserven und
Altkleidern – es sind die Kleider seiner Opfer. Denn er spricht junge
Streuner an, nimmt sie mit nach Hause, vergeht sich an ihnen und tötet sie.
Lahnstein lässt ihn überwachen.
Im Mai 1924 finden Kinder Schädel in der Leine. Als die Polizei den Fluss
durchsucht, kommen über 300 Knochenteile zum Vorschein. Haarmann wird
verhaftet. Die Polizei verhört ihn – und sie misshandelt ihn. Da gesteht er
24 Morde. Die genaue Zahl weißt er selbst nicht: „Ich löste das Fleisch von
den Knochen und tat es in meine Wachstuchtasche. Das übrige Fleisch kam
unters Bett oder in den Verschlag.“ Ob er es verkauft oder gegessen hat,
wird nie geklärt.
Haarmann ist laut psychiatrischem Gutachten „entschieden eine primitive,
infantile Persönlichkeit“, aber keinesfalls geisteskrank oder
unzurechnungsfähig. Theodor Lessing dagegen sieht ihn als psychisch schwer
kranken Menschen: „Er tötete schließlich so leicht, wie er sich die Stiefel
putzte.“
Kurbjuweit porträtiert die Gesellschaft der 1920er-Jahre nicht als goldene
Zeit, sondern als eine des Ordnungsverlusts und der Verrohung. Sein Mix aus
Fakten und Fiktion verwebt Auszüge aus Theodor Lessings Prozessbericht und
den Verhör-Protokollen. Natürlich nimmt sich der Autor literarische
Freiheit: Sein Kommissar Lahnstein fühlt sich zu Emma, der Inhaberin eines
Tabakladens, hingezogen. Wie sich herausstellt, ist sie Haarmanns
Halbschwester. Und Lahnstein fragt seinen Vater, einst selbst
Kriminalbeamter: „Habt ihr Verdächtige geschlagen, gefoltert, wenn es
wichtig war, wenn ihr nicht weiterwußtet?“
Das fiktionale Handlungsgeflecht – die Kriegserlebnisse Lahnsteins, die
Vorurteile der ermittelnden Beamten gegenüber Homosexuellen, die
Liebesgeschichte, die politischen Polarisierungen der Nachkriegsjahre, die
Diskussion über den Einsatz der Folter beim Verhör – wirkt überladen. Ein
Gespräch zwischen Lahnstein und Theodor Lessing klingt papieren wie das
Rascheln der Buchseiten beim Umblättern.
Mich enttäuscht ein Roman, der überdeutlich konstruiert ist und
nacherzählt, was bereits berichtet und dokumentiert ist. Sind Haarmanns
Morde nicht genug, dieses doppelte Skandalon aus ungeheuerlichen Taten und
dem Wegschauen der Polizei? Fritz Haarmann sagt vor Gericht. „Es ist kein
Vergnügen, einen Menschen zu töten. Ich will geköpft werden. Das ist ein
Augenblick, dann hab ich Ruh!“ Er stirbt am 15. April 1925 durch das
Fallbeil.
8 May 2020
## AUTOREN
Frauke Hamann
## TAGS
Serienmörder
Hannover
Sexualstraftäter
Roman
Gewaltverbrechen
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Stadtplanung
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Serienmörder
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