# taz.de -- Kinderarzt über Corona-Maßnahmen: „Kinder sind keine Virenschle… | |
> Ob Shutdown oder Lockerungen – alles sei aus Erwachsenensicht gedacht, | |
> sagt Torsten Spranger vom Verband der Kinder- und Jugendmediziner. | |
Bild: Kinder werden vor allem als Gefahrenquelle wahrgenommen | |
taz: Herr Spranger, der Dachverband der kinder- und jugendmedizinischen | |
Gesellschaften [1][schreibt in einer aktuellen Stellungnahme], die | |
Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen würden in der Coronakrise denen | |
von Erwachsenen untergeordnet. Sehen Sie das auch so? | |
Torsten Spranger: Ja, Kinder werden entweder als Störer im Homeoffice | |
betrachtet oder als Gefährder, als kleine Virenschleudern, die Erwachsene | |
bedrohen. Das ist eine negative Sicht auf Kinder und mal wieder überhaupt | |
nicht aus Kinderperspektive gedacht. | |
Aber nur, weil nicht bekannt ist, inwiefern Kinder das Coronavirus | |
übertragen – und Schulen und Kindergärten wie Brutstätten wirken. | |
Es stimmt, dass wir noch nicht genau wissen, in welchem Umfang Kinder | |
asymptomatisch die Infektion weitergeben. Gesicherte Erkenntnisse gibt es | |
aber darüber, dass Kinder selbst kaum gefährdet sind, schwer zu erkranken. | |
Bisherige Daten legen nahe, dass sie für das Voranschreiten der Pandemie | |
eine untergeordnete Rolle spielen. Vielleicht auch, weil sie, wenn sie sich | |
infizieren, oft keine Symptome entwickeln und deshalb auch nicht in der | |
Gegend herumhusten und niesen. Gleichzeitig lässt man aber zu, dass | |
Erwachsene – die gefährdeter sind – gemeinsam in öffentlichen | |
Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Das ist ein größeres | |
Ansteckungspotenzial. Und man will [2][Fußballspieler wieder aufs Feld | |
lassen], erlaubt Tennis und Golf, aber Kinder dürfen nicht auf den | |
Bolzplatz. Was ist denn das für ein Signal? | |
Das finden Sie unfair? | |
Darum geht es nicht, das ist keine Neiddebatte, wie sie in der Wirtschaft | |
geführt wird, wo sich die einen darüber beschweren, dass die anderen schon | |
wieder öffnen dürfen. Ich finde die Gewichtung einfach falsch. Nur weil | |
Kinder wirtschaftlich betrachtet nicht relevant sind, gehen wir für sie | |
kein Wagnis ein? Wir müssen davon ausgehen, dass Einschränkungen vielleicht | |
noch ein Jahr weitergehen werden. Das ist für einen Erwachsenen schon ein | |
langer Zeitraum, aber für Kinder ist das anteilig ein sehr viel größerer | |
Teil ihrer Lebenszeit, den sie nicht nachholen können. | |
Aber Kita und Schule sollen doch geöffnet werden und in Berlin die | |
Spielplätze. | |
Ja, weil sich immer mehr zu Wort melden, die wie wir die Kinderperspektive | |
einnehmen. In den Beratungsgremien der Politik sitzen aber weder wir noch | |
die Betroffenen selbst. Die Debatte wird von Epidemiologen und Virologen | |
geführt. | |
Und von der Wirtschaft, die ein eigenes Interesse daran hat, dass die | |
Kindergärten und Schulen wieder öffnen. | |
Das wäre auch im Interesse der Kinder und Jugendlichen. | |
Nach meinem Eindruck vermissen sie ihre Freunde, kommen aber klar ohne | |
Pädagogik. | |
Ich glaube, das kippt gerade. Ich höre in den Vorsorgeuntersuchungen, dass | |
sich viele erst gefreut haben, dass sie nicht zur Schule müssen, aber jetzt | |
merken, dass die Eltern [3][sie nicht so unterstützen können wie ihre | |
Lehrer und Lehrerinnen] und dass es schwer ist, ohne Interaktion und | |
Diskussion zu lernen. Gerade die älteren Schüler und Schülerinnen haben ein | |
ganz schönes Pensum zu bewältigen. Das ist schwer, wenn im Hintergrund | |
jüngere Geschwister herumspringen, auf die sie vielleicht sogar aufpassen | |
müssen. Und es ist auch schwer, sich selbst eine Struktur zu geben, also | |
nicht wie manchmal in den Ferien stundenlang mit dem Smartphone im Bett zu | |
liegen. Deshalb halte ich es auch für diskutabel, in den Sommerferien in | |
kleinen Gruppen umschichtig zu unterrichten. | |
Aber was ist mit Kindern, deren Eltern zu Risikogruppen gehören und die | |
Angst haben, diese anzustecken? | |
Eltern sind in der Regel nicht so alt, dass sie zu einer Risikogruppe | |
gehören. Und es zeigt sich, dass selbst diejenigen mit Vorerkrankungen | |
nicht so stark gefährdet sind, wie wir das zuerst angenommen haben. Aber | |
natürlich muss es für solche Fälle individuelle Lösungen geben, genauso wie | |
für die wenigen Kinder, die aufgrund eigener Erkrankungen oder | |
Beeinträchtigungen selbst gefährdet sind. Wobei ich hier große Sorge habe, | |
dass beeinträchtigte Kinder unter dem Corona-Vorwand an der oft schon | |
eingeschränkten Teilhabe noch mehr gehindert werden. | |
Wenn über die Wiederöffnung von Kita und Schule geredet wird, wird das auch | |
damit begründet, dass jemand ein Auge auf die Kinder aus schwierigen | |
Familien werfen muss. | |
Das ist auch unsere große Sorge als Kinder- und Jugendärzte. Wir sehen | |
bestimmt 50 Prozent weniger Kinder als in normalen Zeiten. Eltern kommen | |
kaum noch, wenn sie sich um die psychische oder soziale Gesundheit der | |
Kinder sorgen und bringen auch schwerer kranke Kinder erst spät in die | |
Praxis aus Angst vor Ansteckung. Zudem haben viele Praxen im Sinne strikter | |
Kontaktreduktion [4][Präventionsmaßnahmen reduziert]. Anfangs haben wir | |
alle die Vorsorge-Untersuchungen ab dem zweiten Geburtstag erst einmal | |
verschoben. Aber weil ein Ende der Pandemie nicht abzusehen ist, besteht | |
zumindest hier in Bremen Einigkeit mit dem Gesundheits- und Jugendamt, die | |
verbindlichen Früherkennungsuntersuchungen wieder durchzuführen. | |
Warum? | |
Weil wir in diesen Untersuchungen auch Hinweise auf Kindesmisshandlung | |
finden können oder wir beobachten, dass die Interaktion zwischen Eltern und | |
Kind angespannt ist, und können das ansprechen. | |
Ihr Verband will jetzt eine Abfrage in den Kinderkliniken machen, um | |
herauszubekommen, ob die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen | |
und Belastungen dazu führen, [5][dass Kinder häufiger misshandelt werden]. | |
Haben Sie dafür Anhaltspunkte? | |
Nein, nicht in meiner Praxis, und nach meiner Kenntnis hat das Bremer | |
Gesundheitsamt aus Kliniken, Ämtern und Jugendhilfeeinrichtungen auch | |
nichts anderes gehört. Aber das Problem ist ja, dass wir nicht wissen, was | |
zu Hause geschieht. Viele Meldungen wegen des Verdachts auf | |
Kindeswohlgefährdungen kommen sonst aus Schulen und Kindergärten oder von | |
sozialen Diensten, die die Familien seltener sehen und, wie ich erfahren | |
habe, auch seltener von diesen angefragt werden. | |
Aber vielleicht bricht jetzt nicht überall die Hölle aus? Ich habe mit | |
einem Mitarbeiter aus der Bremer Familienhilfe gesprochen, der sagte, nach | |
seiner Wahrnehmung kämen viele Familien erstaunlich gut klar – auch wenn | |
ein Misstrauen bleibe. | |
Ja, das ist alles Spekulation. Es kann auch sein, dass die Krise die Chance | |
bietet, [6][sich auf das Wesentliche zu konzentrieren], und dazu kann die | |
Familie gehören. Viele Eltern erleben eine sehr intensive Zeit mit ihren | |
Kindern – wenn keine wirtschaftlichen Nöte im Vordergrund stehen oder der | |
Druck sehr hoch ist, auf der Arbeit gut zu funktionieren. Aber das kann ja | |
wohl kein Grund dafür sein, die Schulen und Kindertagesstätten weiter | |
geschlossen zu halten! Der Schaden für alle Kinder wäre zu hoch. [7][Im | |
Homeschooling verschärfen sich zudem soziale Unterschiede im Lernerfolg]. | |
Ich möchte darauf zurückkommen, dass Eltern jetzt seltener mit ihren | |
Kindern in die Praxen kommen. Ist das vielleicht in einigen Fällen auch | |
sinnvoll, weil es eigentlich gar keinen Grund gibt, sie zum Arzt zu | |
schleppen? | |
Das kann sein. Es gibt, glaube ich, weltweit kein Land mit so vielen | |
Arztkontakten wie Deutschland, und bei Kindern liegt das auch daran, dass | |
es eine große Unsicherheit im Umgang mit Infekten, aber auch mit | |
Alltäglichem wie Ernährung und Körperpflege gibt. Da wird vieles an uns | |
Ärztinnen und Ärzte übertragen, was früher vielleicht zwischen den | |
Generationen weitergegeben wurde. Der kinderärztliche Notdienst abends und | |
am Wochenende ist normalerweise sehr hoch frequentiert, da geht es häufig | |
um Sachen, die keine Notfälle sind. Dort sehen wir momentan sicher 80 | |
Prozent weniger Kinder. Dennoch ist es wichtig, Eltern zu vermitteln, dass | |
sie auch jetzt Arztpraxen aufsuchen können. Wir arbeiten mit hohen | |
Hygienestandards und halten die Abstände zwischen den PatientInnen und | |
Eltern im Wartebereich ein. | |
Aber Sie selbst nicht. | |
Nein, das geht nicht vollumfänglich, aber wir tragen Mundschutz und | |
versuchen auch Abstand einzuhalten. Ich hatte noch kein einziges Kind mit | |
Corona und wir bitten alle Eltern, wenn möglich, mit einem Mund-Nase-Schutz | |
und nur einer Begleitperson zu kommen. Ich verstehe alle Eltern, die jetzt | |
ein erkältetes oder fieberndes Kind zu Hause haben und beunruhigt sind, | |
weil es seit Wochen keine andere Kinder mehr gesehen hat und sich | |
eigentlich nirgendwo angesteckt haben kann. Da gilt aber das, was auch vor | |
Corona schon galt. Wenn mein Kind hohes Fieber hat und ich habe keine | |
Ahnung, was dahinterstecken könnte, gehört es ärztlich untersucht. | |
27 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dakj.de/stellungnahmen/stellungnahme-der-deutschen-akademie-fue… | |
[2] /Wiederaufnahme-der-Bundesliga/!5678308 | |
[3] /Bilanz-des-Homeschooling-in-Berlin/!5675447 | |
[4] https://www.kindergesundheit-info.de/infomaterial-service/nachrichten/artik… | |
[5] /Kinderschutz-in-Zeiten-von-Corona/!5677902 | |
[6] https://www.kinderaerzte-im-netz.de/MEDIATHEK/FAMILIENZEIT-GESUND-GESTALTEN/ | |
[7] /Armut-in-der-Coronakrise/!5677821 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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