# taz.de -- Bürger*innenasyl für Flüchtlinge: Untergetaucht im WG-Zimmer | |
> Aktivist*innen verstecken Mai Théo in einer Berliner Wohnung, um seine | |
> Abschiebung zu verhindern. So wird vielen Geflüchteten geholfen. | |
Bild: #LeaveNoOneBehind: Aktionstag der Seebrücke Anfang April in Köln | |
BERLIN taz | Ein Bett, eine Lichterkette, die den Raum bläulich färbt, ein | |
paar Tüten mit Habseligkeiten. Es ist ein karges WG-Zimmer im Berliner | |
Norden, das Mai Théo jetzt bewohnt. Aber er ist vorerst in Sicherheit. | |
Unweit der U-Bahn-Station, in der er aus Angst vor nächtlichen | |
Abschieberazzien mehrere Monate verbrachte, hat er ein neues Zuhause | |
gefunden: im sogenannten Bürger*innenasyl. | |
Zehn Jahre ist es her, dass Théo sein Heimatdorf im Westen Kameruns | |
verließ. Aus Angst vor Repressionen möchte der 35-Jährige nicht, dass sein | |
tatsächlicher Name veröffentlicht wird. Zu zehnt machten sie sich auf den | |
[1][Weg nach Europa], nur zwei überlebten die Durchquerung der Sahara. | |
Théos Körper zeigt Spuren von Folter. Nach mehreren Jahren in Nordafrika | |
gelingt ihm 2018 die Überfahrt nach Italien. Dort betritt Théo zum ersten | |
Mal europäischen Boden. | |
Gemäß der Dublin-Verordnung hätte er in Italien Asyl beantragen müssen, | |
doch er reist weiter nach Deutschland. Seinen Asylantrag lehnt das | |
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) 2019 deswegen als | |
„unzulässig“ ab. Dass Théo als Folteropfer besonderer Schutz gebührt, ei… | |
sogenannte Kettenabschiebung über Italien nach Libyen droht und die | |
Zustände in italienischen Flüchtlingslagern von | |
Menschenrechtsorganisationen wiederholt als inhuman bezeichnet werden, | |
ändert an der Entscheidung des Bamf nichts. | |
Bald versuchen die Behörden, ihn abzuschieben. Am 28. Februar 2019 haben | |
Théo und sein Zimmernachbar einen Termin bei der Ausländerbehörde, um ihre | |
Dokumente zu verlängern. Der Zimmernachbar geht vor, Théo soll wenig später | |
nachkommen. „Man hat ihn sofort festgenommen und abgeschoben“, erzählt er. | |
## Sieben Monate auf der Straße | |
Um Théos Aufenthaltsort herauszufinden, fordert die Polizei den | |
verängstigten Zimmernachbarn auf, ihn anzurufen. Der gibt vor, im | |
Krankenhaus zu sein – von dort wird für gewöhnlich nicht abgeschoben. Aus | |
Angst vor einer nächtlichen Razzia im Heim schläft er an jenem Abend zum | |
ersten Mal auf der Straße. „Drei Tage später sind sie wiedergekommen. Sie | |
sind immer und immer wieder gekommen.“ So haben es ihm die anderen in der | |
Unterkunft berichtet. | |
Aber dort finden die Beamten nur ein leeres Bett vor. Sieben Monate und | |
eine Woche lebt Mai Théo auf Berlins Straßen. Zuerst am S-Bahnhof | |
Gesundbrunnen, dann am Hauptbahnhof. „Da war es ein bisschen ruhiger, weil | |
die Leute dachten, dass ich auf einen Zug warte“, erklärt er. „Wann immer | |
ich den Eindruck hatte, dass Menschen mich wiedererkennen, bin ich | |
umgezogen.“ Eine Abschiebung will er um jeden Preis vermeiden. „Ich kann | |
nicht mit leeren Händen nach Kamerun zurückkommen“, sagt er. Seine Mutter | |
ist schwer erkrankt und benötigt teure Medikamente. | |
Anderthalb Jahre will Mai Théo durchhalten, ohne von der Polizei gefunden | |
zu werden. Dann läuft die Frist ab, innerhalb derer Deutschland ihn nach | |
Italien überstellen darf. Danach hat er das Recht, seinen Asylantrag in | |
Deutschland zu stellen. Noch während er auf der Straße lebt, beginnt er | |
sich in einer Geflüchteten-Selbstorganisation zu engagieren. Dort kommt | |
Théo mit dem Berliner Bürger*innenasyl in Kontakt. Die Gruppe organisiert | |
seine erste Bleibe. | |
Das Konzept der Bürger*innenasyl-Initiativen ist einfach: Menschen, bei | |
denen eine Abschiebung unmittelbar bevorsteht, verstecken sich in privaten | |
Wohnräumen. Dort ist das Risiko, von der Polizei gefunden zu werden, | |
deutlich geringer als in Sammelunterkünften. Andere, die selbst keine | |
Geflüchteten beherbergen, geben ihre Adresse als Meldeadresse an. | |
## Vergleichbar mit Kirchenasyl? | |
„Wir haben da nichts Neues erfunden“, erklärt Olivia M., die das Berliner | |
Bürger*innenasyl mitbegründet hat. „Geflüchtete unterstützen sich seit | |
Jahren gegenseitig dabei, Abschiebungen zu vermeiden. Diesem Vorbild folgen | |
wir.“ Wer seine Türen öffnen möchte, kann sich an die Aktivist*innen | |
wenden. Sie vermitteln zwischen Zimmersuchenden und -bietenden. Menschen, | |
die gegen ihre Abschiebung kämpfen, finden den Weg in solidarische Zimmer | |
meist über migrantische Selbstorganisationen. | |
Solidarische Zimmer gibt es nicht nur in Berlin. In mehr als zehn Städten, | |
darunter Göttingen, Hanau, Freiburg und Eberswalde, organisieren | |
Aktivist*innen diese Form des zivilen Ungehorsams. Das | |
Bundesinnenministerium lehnt solidarische Zimmer ab. Es sei nicht | |
akzeptabel, dass das Bürger*innenasyl eigenmächtig zur Verhinderung von | |
Dublin-Überstellungen oder Rückführungen durchgeführt werde, erklärt ein | |
Ministeriumssprecher auf Anfrage der taz. Ein Vergleich des | |
Bürger*innenasyls mit dem Kirchenasyl sei nicht angebracht: Dort existiere | |
„ein zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Kirchen | |
abgestimmtes Vorgehen“, so das Innenministerium. | |
Das Bürger*innenasyl sei eine rein private Entscheidung und deshalb nicht | |
mit dem Kirchenasyl vergleichbar, erklärt auch der Berliner Flüchtlingsrat. | |
„Trotzdem zielen beide auf den Schutz eines Menschen vor einer Abschiebung | |
ab, zum Beispiel innereuropäisch nach Bulgarien oder Italien in | |
Obdachlosigkeit oder Gefängnis“, sagt dessen Sprecherin Nora Brezger. | |
Wenn die 18-monatige Überstellfrist im Rahmen des Dublin-Verfahrens | |
abgelaufen ist, könne die Person im Bürger*innen- oder Kirchenasyl einen | |
Asylantrag in Deutschland stellen. Solange das Asylverfahren läuft, besteht | |
dann wieder das Recht zum Aufenthalt. | |
## Juristische Unsicherheit | |
Rechtlich bewegen sich die Aktivist*innen auf unsicherem Terrain. Sobald | |
Geflüchtete sich einer Abschiebung entziehen, wird ihr Aufenthalt illegal. | |
Sie zu verstecken, kann als Beihilfe zum irregulären Aufenthalt gewertet | |
werden – auch wenn die Unterstützer*innen aus humanitären Gründen handeln. | |
Dem Berliner Flüchtlingsrat sind Verfahren, in denen „Helferfälle“ | |
strafrechtlich verfolgt wurden, bisher allerdings nicht bekannt. „Trotzdem | |
war es am Anfang herausfordernd, sich nicht von der Angst vor rechtlichen | |
Konsequenzen überwältigen zu lassen“, erklärt Paula S. In ihrer WG haben | |
zwei geflüchtete Frauen Zuflucht gefunden. „Aber wir sind nicht allein.“ Es | |
gebe viele Unterstützer*innen, die eine finanzielle Strafe mittragen | |
würden. | |
„Vielleicht ist es nicht legal, was wir hier tun, aber die politische Lage | |
lässt uns keine andere Wahl“, sagt Sarah K., die Mitbewohnerin von Paula S. | |
Wenn Menschen in Länder abgeschoben würden, in denen ihnen | |
Menschenrechtsverletzungen drohten, müsse die Bevölkerung eben selbst | |
Fakten schaffen. Auch Olivia M., Sarah K. und Paula S. heißen eigentlich | |
anders. | |
Die deutsche Abschiebepraxis bestärkt die Aktivist*innen in ihrem Handeln: | |
Immer wieder gibt es Fälle, in denen auch Hochschwangere und Kranke | |
abgeschoben werden. Zudem gelten Gutachten psychologischer | |
Psychotherapeut*innen nicht mehr als Abschiebehindernis. Auch in | |
Bürgerkriegsländer wie Afghanistan wird weiterhin abgeschoben. „Das | |
Bürger*innenasyl setzt vor allem ein Zeichen, dass Teile der Bevölkerung | |
nicht einverstanden sind mit der Abschiebepolitik der Bundes- oder | |
Landesregierung“, erklärt Brezger vom Berliner Flüchtlingsrat. | |
## Corona macht alles schwieriger | |
Die Bürger*innenasyl-Initiative unterstützt Geflüchtete unabhängig davon, | |
ob sie ein Dublin-Verfahren überdauern müssen oder ihr Asylantrag abgelehnt | |
wurde. „Es ist nicht an uns, darüber zu urteilen, aus welchen Gründen | |
Menschen hier bleiben wollen“, erklärt Olivia M. „Wir sind davon überzeug… | |
dass alle Menschen das Recht auf Bewegungsfreiheit und ein Bleiberecht | |
haben sollten – überall“, so die Aktivistin. Besser als die Geflüchteten | |
wissen zu wollen, was gut für sie ist, sei Teil eines paternalisierenden | |
Diskurses. | |
Die Aktivist*innen träumen von einer solidarischen Stadt mit Bleiberecht | |
für alle: „Wenn noch viel mehr Menschen ihre Türen öffnen, kann niemand | |
mehr aus Berlin abgeschoben werden.“ | |
In seinem ersten solidarischen Zimmer kann Mai Théo zwei Wochen bleiben, im | |
nächsten ebenso. Dann bekommt er mal etwas für zwei Monate, dann wieder nur | |
für ein paar Wochen. Der angespannte Berliner Wohnungsmarkt macht die Suche | |
nicht leichter. Inzwischen hat Théo ein WG-Zimmer gefunden. | |
Seit er untergetaucht ist, erhält er keine Sozialleistungen mehr. Um seinen | |
Lebensunterhalt zu bestreiten, kocht er bei linken Veranstaltungen gegen | |
Spende. Vor der [2][Coronakrise] konnte er sich damit gerade so über | |
Wasser halten. Jetzt ist sein Einkommen komplett weggebrochen. Anspruch auf | |
Soforthilfen gibt es für Menschen ohne Arbeitserlaubnis nicht. Seine Miete | |
bezahlt die Unterstützer*innengruppe, die WG geht einkaufen. | |
Wegen der großen Polizeipräsenz in der Stadt traut Théo sich kaum noch vor | |
die Tür – zu groß ist die Angst vor einer Kontrolle. Am 24. April sollte | |
seine Dublin-Überstellungsfrist ablaufen. Dann hätte er endlich seinen | |
Asylantrag stellen können. Doch das Bamf hat wegen des coronabedingten | |
Abschiebestopps auch die Überstellungsfristen ausgesetzt – Ende ungewiss. | |
Am Donnerstag jedoch erklärte die EU-Kommission, eine solche Abweichung von | |
den Dublin-Regeln sei nicht zulässig. „Das Bundesamt für Migration und | |
Flüchtlinge muss diese Praxis sofort beenden“, fordert Pro Asyl. Für Théo | |
hieße das, dass er nur noch wenige Tage ausharren muss. | |
21 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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