# taz.de -- Europa und die Flüchtlinge: Rettet das EU-Asylrecht! | |
> Auch um Europas Zukunft willen: Deutschland muss schutzbedürftige | |
> Asylsuchende aus Nordsyrien, der Türkei und Griechenland vorerst | |
> aufnehmen. | |
Bild: Dazu schweigt Europa: Ein griechischer Polizist vertreibt MigrantInnen in… | |
Das Kartenhaus der europäischen Migrations-Nichtpolitik kracht gerade in | |
sich zusammen. Eine Million Vertriebene in Nordsyrien harren seit Wochen in | |
[1][misslicher Lage] an der türkischen Grenze aus. Die wenigen, welche die | |
finanziellen Mittel für den Weg aufbringen konnten, haben es bis ins | |
Niemandsland der griechisch-türkischen Grenzregion geschafft – wo nun | |
[2][scharfe Munition] eingesetzt wird. Auch auf den griechischen Inseln | |
liegen die Nerven blank: Aufgebrachte Inselbewohner und die Küstenwache | |
[3][hindern] Menschen in Schlauchbooten mit Gewalt am Anlanden in Lesbos. | |
Dass die Situation irgendwann eskalieren würde, war klar. Dass der | |
türkische Präsident Erdogan zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt das | |
Lösegeld für den EU-Türkei-Deal einfordern würde, ebenso. | |
Seit 2015 hat sich die Europäische Union vor allem darauf konzentriert, | |
legale Fluchtwege zu schließen. Kürzlich hat der Europäische | |
Menschenrechtsgerichtshof außerdem eine sofortige Abschiebung von | |
Asylsuchenden zugelassen, weil diese vorher illegal eingereist sind. Damit | |
wurde das Recht darauf, Asyl zu beantragen faktisch außer Kraft gesetzt. | |
Bis jetzt verlief dieser schleichende Rechtsabbau weitgehend außerhalb des | |
medialen Rampenlichts und konnte geflissentlich ignoriert werden – auch | |
wenn er sich in Deutschland in den seit 2016 [4][jährlich sinkenden | |
Erstantragszahlen] schon widerspiegelt. Das ändert sich nun. Die | |
Ankündigung Griechenlands, vorerst keine Asylgesuche mehr anzunehmen, wurde | |
von den Vereinten Nationen bereits als illegal eingestuft. Schweigen | |
Deutschland und Europa weiter, besiegeln sie damit das Ende des Asylrechts | |
auf dem europäischen Kontinent. | |
Deutschland hat nun eine letzte Chance, diese Norm noch zu retten: Mit | |
einer humanitären Evakuierung der schutzbedürftigsten Asylsuchenden aus | |
Nordsyrien, der Türkei und Griechenland. Es geht dabei weder um eine | |
Aufnahme ohne Prüfung, noch um offene Grenzen – sondern darum, den | |
Schwächsten das Überleben zu ermöglichen, während in Deutschland über Asyl | |
entschieden wird. Wichtig ist, dass nicht nur Menschen an der | |
türkisch-griechischen Grenze oder in den griechischen Lagern evakuiert | |
werden – so weit kommen die Schutzbedürftigsten oft gar nicht. Die | |
Nationalität darf ebenfalls keine Rolle spielen. Vielen AfghanInnen geht es | |
in der Türkei um einiges schlechter als SyrerInnen, die dort zumindest | |
vorübergehend unterstützt werden. | |
Um [5][das Leiden] möglichst schnell und effektiv zu lindern, muss | |
Deutschland mit mutigem Beispiel vorangehen. Auf eine faire Verteilung der | |
Asylsuchenden konnten sich die EU-Mitglieder bisher nicht einigen – das | |
wird sich auch jetzt nicht plötzlich ändern. Wenn Deutschland nun ein | |
starkes Signal setzt, ist aber zumindest denkbar, dass andere europäische | |
Staaten folgen. Dafür muss Deutschland allerdings willens sein, übers Jahr | |
verteilt eine hohe Zahl an Menschen – in der Größenordnung von | |
Hunderttausend – aufzunehmen, um deren Asylgesuche zu prüfen. | |
## Machbar, aber politisch ungewollt | |
Rein logistisch ist diese Aufgabe problemlos zu bewältigen. Mindestens | |
[6][60 deutsche Gemeinden] haben sich schon längst zur direkten Aufnahme | |
von Asylsuchenden bereit erklärt. Für Griechenland kann Deutschland zum | |
Beispiel dabei ansetzen, Kinder in den Lagern mit ihren schon hier lebenden | |
Familien zu vereinen. In Nordsyrien und in der Türkei können die Vereinten | |
Nationen vor Ort die Verletzlichkeits- und Sicherheitsprüfungen für | |
Deutschland übernehmen. Dazu gehören beispielsweise die Erstanalyse der | |
finanziellen Möglichkeiten und des Gesundheitszustandes der Betroffenen. | |
So machbar diese Option ist – politisch kommt sie im Moment erst gar nicht | |
auf den Tisch. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen konzentriert | |
sich darauf, Griechenland finanzielle Hilfe für den Grenzschutz | |
zuzusichern. Bundeskanzlerin Merkel beschränkt sich auf den Versuch, mit | |
wohltemperierter Kritik an Präsident Erdogan den sich auflösenden | |
EU-Türkei-Deal doch noch zu retten. Den zaghaften – und bisher einzigen – | |
Vorschlag der Grünen, fünf Tausend Menschen aus den griechischen Lagern | |
aufzunehmen, hat die Union im Keim erstickt. Ansonsten beschränkt sich die | |
Opposition bisher auf die Forderung, Russland in Syrien doch noch zur | |
Waffenruhe zu zwingen. Natürlich ist ein Ende der Kampfhandlungen die beste | |
Option. Aber selbst wenn sich die Lage in der Region wider Erwarten nicht | |
weiter zuspitzt – von heute auf morgen werden Menschen auf der Flucht in | |
der zerbombten Heimat keinen Schutz finden. Was in der Zwischenzeit mit | |
ihnen passieren soll? Betretenes Schweigen in alle Richtungen. | |
Das kann niemanden überraschen. Seit die Stimmung zu Migration in Europa | |
2015 kippte, herrscht große Angst, rechtspopulistischen Parteien weiter in | |
die Hände zu spielen. Mit der Vogel-Strauß-Politik der letzten fünf Jahre | |
hat die deutsche Regierung jedoch jede Chance verschlafen, eine normative | |
Haltung zu Asylfragen zu verteidigen oder zu kommunizieren. Es wäre schon | |
rein taktisch falsch, sich weiter so von den Rechtspopulisten treiben zu | |
lassen. Wer wegen Hunderttausend aus schlimmster Not Geretteten rechte | |
Parteien wählt, wird es sowieso und weiterhin tun. Sollte das Pulverfass an | |
der türkisch-griechischen Grenze tatsächlich explodieren, spielt ihnen das | |
ebenso in die Hände. | |
Wenn es die Bundesregierung also schafft, die humanitäre Evakuierung klar | |
zu kommunizieren, kann sie mit einer entschieden mutigen Politik nur | |
gewinnen – über gerettete Menschenleben und die Verteidigung des Asylrechts | |
hinaus. | |
5 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://news.un.org/en/story/2020/03/1058451 | |
[2] https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/fluechtende-aus-der-tuerkei-wa… | |
[3] https://www.bbc.com/news/av/world-europe-51715422/greek-coast-guards-fire-i… | |
[4] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/SchluesselzahlenAsyl/fl… | |
[5] https://www.nytimes.com/2020/03/02/world/middleeast/united-nations-syria-id… | |
[6] /Gefluechtete-an-der-griechischen-Grenze/!5666436 | |
## AUTOREN | |
Claudia Meier | |
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