| # taz.de -- Grundsatzurteil zu Sterbehilfe: „Akt autonomer Selbstbestimmung“ | |
| > Das Bundesverfassungsgericht kippt das Verbot der „geschäftsmäßigen Hilfe | |
| > zur Selbsttötung“. Suizidhilfe-Vereine können wieder legal arbeiten. | |
| Bild: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verlässt nach der Urteils… | |
| Karlsruhe taz | Geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung darf nicht generell | |
| verboten werden. Das entschied jetzt der Zweite Senat des | |
| Bundesverfassungsgerichts in einem Grundsatzurteil. Der vor vier Jahren | |
| eingeführte Paragraf 217 verstoße gegen das „Recht auf selbstbestimmtes | |
| Sterben“ und war von Beginn an „nichtig“, so die Richter. | |
| Nach jahrelanger Debatte hatte der Bundestag [1][im November 2015 das | |
| Strafgesetzbuch verschärft]. Wer „geschäftsmäßig“ Selbsttötungen förd… | |
| [2][machte sich seitdem strafbar, so der neue Paragraf 217]. Es drohen | |
| Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren. | |
| Als „geschäftsmäßig“ gilt eine Hilfe zur Selbsttötung schon, wenn sie a… | |
| Wiederholung angelegt ist. Auf kommerzielle Interessen kommt es dabei nicht | |
| an. Das Gesetz wurde ohne Koalitionszwang mit einer Mehrheit von 360 zu | |
| 232 Stimmen beschlossen. Vor allem Unions-Abgeordnete waren dafür. In allen | |
| anderen Fraktionen gab es eine Mehrheit gegen das Gesetz. [3][Der Beschluss | |
| war hochumstritten.] | |
| In Karlsruhe klagten neben den betroffenen Vereinen „Dignitas“ und | |
| „Sterbehilfe Deutschland“ auch Ärzte, Anwälte und Kranke. Dem | |
| Bundesverfassungsgericht kam es aber vor allem auf die Rechte der | |
| Sterbewilligen an. | |
| ## „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ | |
| Dabei postulierten die Richter zum ersten Mal ein „Recht auf | |
| selbstbestimmtes Sterben“, das sie aus der Menschenwürde und dem | |
| allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableiteten. Die Entscheidung, zu sterben, | |
| sei ein „Akt autonomer Selbstbestimmung“, der von Staat und Gesellschaft zu | |
| respektieren sei. Der Mensch dürfe nicht zu einem Leben gedrängt werden, | |
| das „in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen Selbstverständnis steht“. | |
| Nicht nur Todkranke haben ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, so die | |
| Richter. Das Recht stehe dem Menschen vielmehr „in jeder Phase seiner | |
| Existenz“ zu. Jeder könne entscheiden, seinem Leben „entsprechend seinem | |
| Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit“ ein Ende setzen. Das | |
| Grundgesetz verbiete eine Bewertung solcher Entscheidungen anhand | |
| religiöser Gebote, gesellschaftlicher Mehrheitsauffassungen oder objektiver | |
| Vernünftigkeit. | |
| Das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ umfasst nach der Karlsruher | |
| Konzeption auch das Recht, sich dabei von anderen helfen zu lassen. Zwar | |
| richtet sich das strafrechtliche Verbot nur an die Suizidhelfer. Es sei | |
| jedoch zugleich ein „schwerer Eingriff“ in die Grundrechte der | |
| Sterbewilligen, wenn ihnen so die „Möglichkeit einer schmerzfreien und | |
| sicheren Selbsttötung“ genommen werde. | |
| Die Richter betonen, dass der Bundestag das „Recht auf selbstbestimmtes | |
| Sterben“ durchaus durch Gesetz einschränken durfte. Ein solches Gesetz | |
| müsse aber einen legitimen Zweck verfolgen und verhältnismäßig sein. | |
| Den legitimen Zweck von Paragraf 217 sahen die Richter durchaus. Die | |
| völlige Freigabe der Suizidhilfe führe zu Gefahren für die Autonomie am | |
| Lebensende und das Recht auf Leben. Alte Menschen könnten sich entgegen | |
| ihren eigentlichen Wünschen für einen Suizid entscheiden, um anderen nicht | |
| zur Last zu fallen. | |
| Auch seien Überversorgung in der Medizin und Versorgungslücken in der | |
| Pflege geeignet, Suizidwünsche auszulösen. Zudem prüften die | |
| Sterbehilfevereine zu wenig, ob ein Sterbewunsch wirklich frei | |
| verantwortlich ist oder durch psychische Krankheiten ausgelöst wurde. | |
| ## Paragraf 217 für unverhältnismäßig erklärt | |
| Paragraf 217 sei jedoch unverhältnismäßig, so das Gericht, weil die | |
| Belastung des einzelnen Sterbewilligen nicht mehr in einem vernünftigen | |
| Verhältnis zu den Vorteilen für die Allgemeinheit stehe. Zwar beschränke | |
| sich das Verbot der Suizidhilfe auf „geschäftsmäßige“ Angebote. | |
| Alternativen hierzu bestünden aber nur theoretisch. | |
| Ärzte seien derzeit „nur in Ausnahmefällen“ bereit, Suizidhilfe zu leiste… | |
| Die Berufsordnungen der Ärzte verbieten die Suizidhilfe sogar in weiten | |
| Teilen Deutschlands. „Solange diese Situation fortbesteht“, gebe es „einen | |
| tatsächlichen Bedarf“ an geschäftsmäßiger Suizidhilfe, folgerten die | |
| Verfassungsrichter. | |
| Auch Angebote der Palliativmedizin halten die Richter für keinen | |
| ausreichenden Ersatz. Sie seien zwar geeignet, die Zahl der sterbewilligen | |
| Todkranken zu verringern. Es bestehe aber keine Pflicht, solche Angebote | |
| anzunehmen. Auch die Ablehnung von Alternativen zum Suizid sei vom Recht | |
| auf Selbstbestimmung umfasst, betonte die federführende Richterin Sibylle | |
| Kessal-Wulf, die einst von der CDU nominiert wurde. | |
| Das Gericht erklärte Paragraf 217 nun für unverhältnismäßig und damit für | |
| „nichtig“. Die Richter sahen keine Möglichkeit, die Verbotsnorm bestehen zu | |
| lassen und verfassungskonform auszulegen, da dies den Willen des | |
| Gesetzgebers verfälscht hätte. Das Verbot ist damit sofort außer Kraft. Zu | |
| Verurteilungen hatte Paragraf 217 noch nicht geführt, weil die Vereine das | |
| Verbot beachteten. | |
| Eine Neuregelung der Suizidhilfe ist aber durchaus möglich, so die Richter. | |
| So könnte der Bundestag Aufklärungspflichten und Wartefristen einführen. Er | |
| könnte auch eine Genehmigungspflicht für Sterbehilfevereine einführen, um | |
| ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. „Besonders gefahrträchtige“ Formen der | |
| Suizidhilfe könnten sogar strafrechtlich verboten werden, wobei die | |
| Richter hierfür keine Beispiele nannten. | |
| Das Gericht regte zudem an, die Berufsordnungen für Ärzte und Apotheker zu | |
| reformieren, um ein „konsistentes“ Schutzkonzept zu schaffen. Eventuell | |
| seien auch „Anpassungen des Betäubungsmittelrechts“ erforderlich, damit das | |
| in der Schweiz gebräuchliche Suizidmedikament Natrium-Pentobarbital auch | |
| in Deutschland Sterbewilligen verschrieben werden kann. | |
| ## Der Bundestag ist wieder gefordert | |
| Der Bundestag muss sich bald wieder mit der geschäftsmäßigen Suizidhilfe | |
| beschäftigen. Dafür sprachen sich in Karlsruhe sowohl Befürworter als auch | |
| Gegner des vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Verbots aus. | |
| Ex-Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) befürchtet, dass das Urteil | |
| geeignet ist, einer „Normalisierung der Selbsttötung als Behandlungsoption | |
| den Weg zu bereiten“. Sozialstaatssekretärin Kerstin Griese (SPD) sagte: | |
| „Suizidhilfe darf kein normaler Vorgang werden wie etwa das Verschreiben | |
| von Antibiotika.“ Griese hatte 2015 das Gesetz mitformuliert. | |
| Gröhe und Griese wollen nun – nach ausführlicher Analyse des Urteils – ein | |
| Gesetz auf den Weg bringen, das vor allem das Verfahren der Suizidhilfe | |
| regelt. „Wichtig ist, dass die Dauerhaftigkeit und die Ernsthaftigkeit des | |
| Sterbewunsches gründlich geprüft wird“, sagte Gröhe nach der | |
| Urteilsverkündung. | |
| Auch Katja Keul, Rechtspolitikerin der Grünen, sieht jetzt den Gesetzgeber | |
| am Zug. Sie hatte damals, wie die Mehrheit der Grünen, das Verbot | |
| abgelehnt. Nun will aber auch sie Anforderungen an Sterbehilfevereine | |
| definieren, damit es keinen Wildwuchs gibt. Auf Strafandrohungen könne | |
| dabei aber verzichtet werden. | |
| Wichtiger noch ist für Keul, die vom Bundesverfassungsgericht angestoßene | |
| Liberalisierung gesetzlich zu vollenden. Insbesondere eine Änderung des | |
| Betäubungsmittelgesetzes sei erforderlich, um die Verschreibung von bisher | |
| verbotenen Suizidmedikamenten zu erlauben. | |
| Für Rechtsanwalt Wolfgang Putz, der regelmäßig Sterbewillige vertritt, ist | |
| die Änderung des Betäubungsmittelgesetzes nicht mehr aufzuhalten. | |
| Schließlich habe das Verwaltungsgericht Köln dem Bundesverfassungsgericht | |
| im letzten November genau diese Frage zur Prüfung vorgelegt. Die Kölner | |
| Richter halten es für verfassungswidrig, dass der Erwerb von | |
| Betäubungsmitteln zur Selbsttötung in Deutschland generell verboten ist. | |
| Roger Kusch, Chef des Suizidhilfe-Vereins Sterbehilfe Deutschland will nun | |
| wieder seine Tätigkeit aufnehmen. „Wir können wieder genau so Sterbehilfe | |
| leisten wie bis zum November 2015.“ Seit 2010 hatte der Verein rund 250 | |
| Mitglieder bei ihrem Suizid unterstützt. Der andere hierzulande aktive | |
| Verein, Dignitas Deutschland, will am Montag bekannt geben, wie es | |
| weitergeht. | |
| 27 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Abstimmung-zur-Sterbehilfe-im-Bundestag/!5249033 | |
| [2] /Gesetz-zur-Sterbehilfe/!5364552 | |
| [3] /Kommentar-Sterbehilfe/!5249048 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
| ## TAGS | |
| Sterbehilfe Deutschland | |
| Sterbehilfe | |
| Bundesverfassungsgericht | |
| Karlsruhe | |
| Sterbehilfe | |
| Sterbehilfe | |
| Bundesverfassungsgericht | |
| Ärztlich assistierter Suizid | |
| Sterbehilfe | |
| Ärztlich assistierter Suizid | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Urteil in den Niederlanden: Sterbehilfe für Demenzerkrankte | |
| Auch bei schwer an Demenz Erkranten ist aktive Sterbehilfe zulässig, so das | |
| Gericht. Dafür braucht es eine entsprechende Patientenverfügung | |
| Nach Sterbehilfe-Urteil: Suizidassistenz kommt | |
| Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts: Dignitas und die Gesellschaft für | |
| Humanes Sterben stellen ein Beratungstelefon für Sterbewillige vor. | |
| Urteil zur Sterbehilfe: Ärzte brauchen Rückhalt | |
| Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe ist richtig. Jetzt | |
| kommt es auf die Ausgestaltung durch Ärztekammer und Gesetzgeber an. | |
| Karlsruhe urteilt zur Suizidhilfe: Viel radikaler als erwartet | |
| Das Urteil schafft ein Recht auf einen milden Suizid mit Begleitung. Für | |
| die braucht es jetzt Mindeststandards. | |
| Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Sterbehilfe-Verbot ist nichtig | |
| Der Bundestag hat 2015 die geschäftsmäßige Assistenz zur Selbsttötung | |
| verboten. Für das Verfassungsgericht ein Verstoß gegen das Grundgesetz. | |
| Verfassungsgericht entscheidet: Hilfe beim Suizid – ja oder nein? | |
| Das Bundesverfassungsgericht entscheidet am Mittwoch über die Strafbarkeit | |
| von Sterbehilfe. Die wichtigsten Fragen und Antworten. |