| # taz.de -- Die Erfindung des Vibrators: Ein Irrweg der Medizin | |
| > Das zwanghafte Festhalten an klassischen Geschlechterrollen hat ernorme | |
| > Auswüchse. Dafür ist der Vibrator ein krasses Beispiel. | |
| Bild: 1880 von einem Mediziner erfunden: Heute gibt es Vibratoren in zahlreiche… | |
| Berlin taz | Ich stehe im dm und staune. In einem der Mittelgänge des | |
| Drogeriemarktes, hinten links in der Abteilung „Gesundheit“, liegen sie zum | |
| Verkauf, zwischen Kondomen, Gleitgel und Wundpflastern: Vibratoren in drei | |
| verschiedenen Formen, Farben und Preisklassen zwischen 25 und 70 Euro. | |
| Sexshop im Drugstore?! | |
| Adieu, Diskretion und Anonymität des Onlinekaufs. Zugegebenermaßen fühle | |
| ich mich etwas unbehaglich und leider längst nicht so selbstbewusst, wie | |
| ich es von mir erwartet hätte. Ich muss an früher denken, als es sogar | |
| peinlich war, Klopapier oder Tampons aufs Kassenband zu legen – und muss | |
| unwillkürlich schmunzeln. | |
| Mit verstohlenen Blicken nach links und rechts greife ich nach dem Modell | |
| in Türkis, u-förmig gebogen. Es verspricht „Spaß am Liebesleben – | |
| farbenfroh, natürlich und selbstbewusst“. Ein Sextoy, dass die | |
| selbstbestimmte Lust ins Zentrum stellt, liegt hier für alle sichtbar im | |
| Regal und thematisiert somit öffentlich den (weiblichen) Orgasmus. Bereits | |
| seit 2017 hat dm die Vibratoren im Angebot, was so wenige Wellen geschlagen | |
| hat, dass viele Kund*innen es bis heute nicht wissen. | |
| Während sich Beate Uhse nach der Eröffnung ihres ersten Sexshops 1962 in | |
| Flensburg mehrfach vor Gericht verantworten musste, ist der Verkauf von | |
| Sextoys heute offenbar so normal, dass mir meine Scham peinlicher ist, als | |
| mit den Dingern im Laden zu stehen. Der zweite Vibrator, nach dem ich | |
| greife, ist pink, sieht ein bisschen aus wie ein kleiner Hockeyschläger und | |
| verspricht „bei jedem Solo eine Punktlandung“. | |
| Ich besitze selbst seit Jahren einen und bestätige gern, | |
| [1][(G-)Punktlandung] hin oder her, er hat mein Sexleben revolutioniert. Es | |
| handelt sich dabei um einen sogenannten Rabbit-Vibrator in dunklem Lila. Er | |
| besteht aus geschmeidigem Silikon, lässt sich vorheizen und verfügt über | |
| sage und schreibe zehn verschiedene Vibrationsprogramme. | |
| ## Farbenfrohes Design | |
| Wobei ich bei meiner Recherche feststellen muss, dass das nahezu lächerlich | |
| wenig ist: Die neuesten Teile warten sogar mit dreißig Vibrationsprogrammen | |
| auf. Und wie ich da so stehe und die farbenfrohen Designs betrachte, frage | |
| ich mich, wem ich das eigentlich zu verdanken habe. Wer hat wann und warum | |
| den Vibrator erfunden? War es Beate Uhse selbst? Oder doch die | |
| Porno-Industrie? | |
| Ich beginne zu recherchieren. Die Geschichte, die ich dabei zutage | |
| befördere, ist so absurd, dass ich sie fast nicht glauben kann – aber wahr. | |
| Der Vibrator wurde [2][in den 1880er Jahren vom britischen Arzt Joseph | |
| Mortimer Granville als medizinisches Gerät erfunden.] Zu dem Zeitpunkt | |
| hatte er rein gar nichts mit sexueller Befriedigung zu tun, sondern diente | |
| der Behandlung der sogenannten Hysterie. | |
| Die Vorstellung von Hysterie als Krankheit reicht bis in die Antike zurück. | |
| Bereits Platon vertrat die Annahme, dass Hysterie ein schwerwiegendes, | |
| vornehmlich weibliches Leiden sei, von dem insbesondere unverheiratete, | |
| kinderlose Frauen heimgesucht wurden. | |
| Zu den Symptomen zählten Schlaflosigkeit, Angstzustände, Nervosität, | |
| Völlegefühl, aber auch erotische Fantasien und vaginale Feuchtigkeit. Das | |
| Wort Hysterie leitet sich ab von hystera, altgriechisch für Gebärmutter. | |
| Der Uterus wurde als Quelle dieser „Krankheit“ angesehen, die dann ausbrach | |
| – so die Vorstellung –, wenn die Gebärmutter ihren Zweck nicht erfüllen | |
| konnte, der da lautete: den Samen eines Mannes empfangen und Kinder | |
| austragen. Bis ins 18. Jahrhundert gingen Wissenschaftler (und mit hoher | |
| Wahrscheinlichkeit waren es tatsächlich nur Wissenschaftler) davon aus, | |
| dass dies zu organischen Schäden an der Gebärmutter führte. Im | |
| Viktorianischen Zeitalter setzte sich dann die Annahme durch, dass die | |
| Ursache für Hysterie psychischer Natur sein musste, aber ebenfalls auf | |
| sexuelle Dysfunktionen der betreffenden Frauen zurückzuführen sei. | |
| ## Genitalmassagen als Therapie | |
| Sexuelle Dysfunktion meint in dem Fall, dass eine Frau durch Koitus und | |
| Penetration durch den Penis eines Mannes keine Befriedigung erfuhr. Es | |
| wurde nicht in Erwägung gezogen, dass Penetration allein womöglich der | |
| falsche Weg sein könnte, um Frauen sexuell zu befriedigen. Stattdessen | |
| wurden Frauen als frigide, unreif und krank erklärt. Nicht wenige von ihnen | |
| begaben sich aufgrund dessen in therapeutische Behandlung. Bis in die | |
| 1920er Jahre wurden Genitalmassagen zur Therapie der Hysterie verschrieben. | |
| Eine „erfolgreiche Behandlung“ mündete in eruptiven Unterleibskrämpfen und | |
| Muskelspasmen der „leidenden Frau“. | |
| Sobald sich die „Patientin“ vom Kontrollverlust erholt hatte, ließ sich | |
| eine unmittelbare Verbesserung ihres Gemütszustands feststellen – die | |
| Frauen fühlten sich ausgeglichener, ruhiger und zugleich euphorisch. Wie | |
| wir heute glücklicherweise wissen, handelt es sich hierbei schlicht um die | |
| nüchterne Beschreibung eines weiblichen Orgasmus, der rein gar nichts | |
| Pathologisches an sich hat. | |
| Dieses Beispiel zeigt, welche Auswüchse das zwanghafte Festhalten an | |
| klassischen Geschlechterrollen hatte und haben kann. So wurde insbesondere | |
| bei solchen Frauen Hysterie diagnostiziert, die nicht den normierten, | |
| gesellschaftlichen Konventionen entsprachen, sei es, weil sie unverheiratet | |
| blieben, weil sie aufmüpfiges Verhalten an den Tag legten oder sexuell | |
| selbstbestimmt leben wollten. | |
| Es ist also kein Zufall, dass Ende des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der | |
| Frauen begannen sich aufzulehnen und gegen ihre untergeordnete Rolle zu | |
| rebellieren, fast drei Viertel der weiblichen Bevölkerung als „hysterisch“ | |
| galt. | |
| ## Fast schon eine Pandemie | |
| Es war die Rede von einer regelrechten Pandemie. Die Genitalmassage wurde | |
| von damaligen Ärzten nicht etwa als erotische, sexuell stimulierende | |
| Erfahrung erlebt, sondern als komplizierte, lästige und langwierige | |
| Aufgabe. Eine Sitzung konnte mehrerer Stunden dauern! | |
| Abhilfe schaffte schließlich das elektromechanische Gerät des besagten | |
| Joseph Mortimer Granville, das mittels Vibrationen die beschriebenen | |
| „Krämpfe“ in wenigen Minuten auszulösen vermochte. Aus heutiger Sicht mag | |
| das absurd klingen, und man will vielleicht schmunzelnd den Kopf schütteln. | |
| Das Ganze war jedoch alles andere als lachhaft: In „besonders schweren | |
| Fällen der Hysterie“ wurde Frauen die Klitoris oder sogar die Gebärmutter | |
| vollständig entfernt, was nichts anderes ist als medizinisch verordnete | |
| Genitalverstümmelung. | |
| Ob organisch oder psychisch begründet, Hysterie als vornehmlich weibliche | |
| Krankheit gilt als die älteste psychische Störung, die hartnäckig über | |
| Jahrtausende im medizinischen Diskurs kursierte: Erst 1980 wurde Hysterie | |
| aus dem Diagnosehandbuch für Psychische Störungen (DSM), dem | |
| internationalen Standardwerk zur Klassifikation psychischer Erkrankungen, | |
| gestrichen. | |
| Gedankenverloren streiche ich über die weiche Oberfläche meines lila | |
| Vibrators, der tatsächlich mehr ist als das aktuell beliebteste | |
| Sexspielzeug in Deutschland. Er ist ein kulturhistorisches Artefakt. | |
| 8 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Henriette Freckmann | |
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