| # taz.de -- Literatur-Initiative über Hass: „Wir haben zu lange zugeschaut“ | |
| > Was können Kunst und Kultur in Zeiten des Hasses bewirken? Das erklärt | |
| > Anna Kaleri, Gründerin von „Literatur statt Brandsätze“. | |
| Bild: „Es ist wichtig, draußen sichtbar und hörbar zu sein“, sagt Anna Ka… | |
| taz: Im Frühjahr 2016 haben Sie in Sachsen die Initiative „Literatur statt | |
| Brandsätze“ begründet. Was hat den Impuls dazu gegeben? | |
| Anna Kaleri: Fast auf den Tag genau vor vier Jahren, am 18. Februar 2016, | |
| wurden ankommende Geflüchtete in Clausnitz daran gehindert, aus einem Bus | |
| auszusteigen. Ich habe auf dem Rückweg aus dem Urlaub von dieser | |
| pogromartigen Stimmung gehört und hätte am liebsten das Radio | |
| ausgeschaltet. Aber dann dachte ich, wir müssen uns dem stellen, was in | |
| Sachsen offenbar in Schieflage geraten ist. Ich wollte etwas tun. | |
| Was war das Konzept von „Literatur statt Brandsätze“? | |
| Unser Anliegen war es, mit Literatur [1][Weltoffenheit und Empathie zu | |
| stärken]. Wir wollten wegkommen von der klassischen Wasserglaslesung nach | |
| dem Motto „Der Autor gibt sich die Ehre, dem Publikum Fragen zu | |
| beantworten“ – und hin zu einem Austausch, der auf gegenseitigem Interesse | |
| und auf Wertschätzung beruht. Sehr schnell haben sich 60 Autorinnen und | |
| Autoren aus Sachsen oder mit Sachsenbezug bereit erklärt, ehrenamtlich aus | |
| ihren Büchern zu lesen. Es gab 2016 insgesamt 30 Lesungen in ganz Sachsen, | |
| auch an stigmatisierten Orten. In Zwickau hat einer unserer Autoren, | |
| Christian Fuchs, aus seinem Buch „Die Zelle“ zum NSU-Komplex gelesen. | |
| Sie sind selbst Autorin. Aus welchem Ihrer Bücher haben Sie gelesen? | |
| Ich habe aus „Der Himmel ist ein Fluss“ gelesen. Der Roman spielt in der | |
| Nazizeit in Masuren und behandelt einen Teil meiner Familienbiografie. | |
| Meine Großmutter war Masurin und hatte in der Zeit nach 1938/39 ein | |
| Verhältnis mit einem polnischen Zwangsarbeiter, der aufgrund dieser | |
| Verbindung hingerichtet wurde. Sie selbst wurde im Januar 1945 von den | |
| Russen erschossen. Die Lesung war für Schülerinnen und Schüler, sie fand in | |
| der Stadtbibliothek in Bautzen statt. Die Gespräche danach waren sehr gut. | |
| Ich hatte den Eindruck, dass es in Sachsen ganz viele Menschen gibt, die | |
| unter den Vorfällen und dem Rechtsruck leiden. Wir haben uns vernetzt und | |
| gegenseitig bestärkt. Mit Rat und Tat, aber auch emotional. | |
| Erreichen Sie auch Zuhörer außerhalb der Kulturblase? | |
| Uns wurde immer wieder vorgehalten, dass wir Leute mit verfestigten rechten | |
| Meinungen nicht erreichen, sondern nur die, die eh schon kulturaffin sind. | |
| Da ist was dran. Aber auch kulturaffine Leute haben zum Teil rechte | |
| Einstellungen, und es ist wichtig, mit ihnen im Gespräch zu bleiben, bevor | |
| sie abdriften. Lesungen und somit Literatur finden sonst oft in | |
| geschlossenen Räumen statt. Wir haben aber in den Monaten gemerkt, dass es | |
| wichtig ist, draußen sichtbar und hörbar zu sein, auch um Menschen zu | |
| erreichen, die gerade auf dem Weg zum Shopping sind. Deshalb machen wir nun | |
| auch Kunstaktionen im öffentlichen Raum. | |
| Inzwischen haben Sie „Lauter Leise e. V. – Kunst und Demokratie in Sachsen�… | |
| gegründet, wovon „Literatur statt Brandsätze“ ein Teil ist. Wie kam es | |
| dazu? | |
| „Literatur statt Brandsätze“ kam uns vor wie ein Tropfen auf den heißen | |
| Stein. Wir haben überlegt, ob und wie wir weitermachen können. Als Verein | |
| sind wir spendenberechtigt und können Fördergelder beantragen. Wir haben | |
| das Angebot breiter aufgestellt und machen auch künstlerische Workshops, | |
| Ausstellungen und Mitmachaktionen. Sachsen ist groß, unser Verein klein. | |
| Wir sind nur sechs Mitglieder. 30 Veranstaltungen im Jahr stemmen wir | |
| ehrenamtlich, wobei wir immer mit anderen Kulturschaffenden kooperieren. | |
| Wir gehen weiterhin in den ländlichen Raum, arbeiten aber auch in | |
| sogenannten Brennpunktbezirken wie Leipzig-Paunsdorf mit Initiativen und | |
| Institutionen zusammen. | |
| Nach Anschlägen wie in Halle oder nun in Hanau heißt es immer wieder, die | |
| Zivilgesellschaft müsse stärker miteinander ins Gespräch kommen und rechten | |
| Einstellungen anders begegnen. Was können Ihre Veranstaltungen dazu | |
| beitragen? | |
| Meine Erfahrung ist, dass Kunstaktionen emotionale Räume öffnen. Bei einer | |
| Ausstellung zum Flüchten und Ankommen auf dem Augustusplatz in Leipzig hat | |
| der Journalist und Autor Hans Ferenz Fotografien von Menschen, die die DDR | |
| verlassen haben, und Menschen, die heute ihre Länder verlassen müssen, | |
| spiegelbildlich gegenübergehängt. Sogenannte besorgte Bürger hatten davon | |
| in der Zeitung gelesen und kamen, um uns die Meinung zu sagen. Wir haben | |
| aber auch viele Passanten erreicht. Manche sind äußerlich unberührt | |
| durchgegangen, andere kamen mit Tränen in den Augen raus oder brachen den | |
| Besuch ab. Wir standen immer für Gespräche bereit, auch um die Emotionen | |
| aufzufangen, die in Bezug auf Mauer und Wende bei uns Ostdeutschen | |
| aufkommen. Es gab auch Leute, die aufgebracht waren und meinten, das könne | |
| man nicht vergleichen. Dann haben wir gefragt: Wieso denn nicht? Dadurch | |
| haben sich Gespräche ergeben, die zum Teil eine Stunde dauerten. Ich habe | |
| beobachtet, dass es in jedem kontroversen Gespräch immer Momente gibt, in | |
| denen man dem anderen zustimmen muss. Es gibt etliche Sachen, speziell in | |
| der Sozialpolitik, mit denen ich unzufrieden bin. | |
| Zum Beispiel? | |
| Ich bin unzufrieden damit, dass Orte in Sachsen vom Schienennetz abgehängt | |
| wurden. Dass es vielerorts kein Kino mehr gibt, die Bibliothek nur noch | |
| einen Nachmittag pro Woche geöffnet hat und die Sparkasse ihre einzige | |
| Filiale schließt. Dass der Wohnraum immer teurer wird und viele Menschen | |
| prekär bezahlt werden. Durch die rechten Destabilisierungsversuche | |
| gegenüber unserer Demokratie bin ich in die paradoxe Situation geraten, | |
| unser demokratisches Staatswesen zu verteidigen, wobei ich zugleich | |
| politisch einigen Nachbesserungsbedarf sehe. Das sind Punkte im Gespräch, | |
| die mein Gegenüber aufmerken lassen im Sinne von: Die sieht das ein | |
| bisschen differenzierter und jubelt nicht alles hoch, was „die da oben“ | |
| machen. Wenn dann ein Punkt kommt, an dem es etwa gegen Geflüchtete oder | |
| gegen Angehörige von Minderheiten geht, dann kann ich sagen: Stopp, das | |
| sehe ich anders. Ich denke, nur so kann Auseinandersetzung gelingen. Es | |
| gibt leider auch Menschen, bei denen es dafür zu spät ist. Da kommen nur | |
| noch Hass und Hetze. Da können wir als Kulturmenschen nichts mehr machen. | |
| Da müssen Gesetze verschärft werden, müssen die Instrumente besser greifen, | |
| um Volksverhetzung auch in ihrer latenten Form besser zu erkennen. Wir | |
| haben viel zu lange zugeschaut, auch die Verantwortlichen in der Justiz. | |
| Hasko Weber, Intendant des Deutschen Nationaltheaters in Weimar, betont | |
| immer wieder, dass er insbesondere die jungen Leute in den ländlichen | |
| Regionen erreichen will. Auch Sie machen viele Projekte mit Jugendlichen. | |
| Wir und die Leute, mit denen wir zusammen arbeiten, kommen selbst oft aus | |
| dem ländlichen Raum. Eins unserer Projekte waren die literarischen | |
| Thementage „Arrive“ an Schulen im Landkreis Bautzen. Dazu gehörten Lesungen | |
| mit Gesprächen, Schreibwerkstätten und ein Literaturwettbewerb. Die Idee | |
| war, sich aktiv damit auseinander zu setzen, dass jeder in seinem Leben | |
| erfahren hat, wie schwer es sein kann, in einer neuen Gruppe oder in einer | |
| neuen Schule anzukommen. Das ermöglicht den empathischen Brückenschlag zu | |
| Menschen, die heute bei uns ankommen. Es sind sehr bewegende Texte | |
| entstanden, Kurzgeschichten, aber auch Gedichte zu den verschiedensten | |
| Facetten des Ankommens, von philosophischen Umkreisungen des Begriffs bis | |
| hin zu Mobbing-Erfahrungen. | |
| Sind diese Texte publiziert wurden? | |
| Ich würde das Projekt gern vertiefen, aber dazu bräuchten wir eine | |
| kontinuierliche Förderung. Es ist überfällig, Demokratieförderung zu | |
| verstärken, insbesondere in Hinblick auf notwendige Sofortmaßnahmen | |
| angesichts des grassierenden Rassismus. Es gibt auf Bundesebene eine | |
| Modellförderung, die maximal fünf Jahre läuft. Darum bewerben sich viel | |
| mehr Vereine, als am Ende den Zuschlag bekommen können. Sich von | |
| Projektförderung zu Projektförderung hangeln, wie wir das als Verein tun, | |
| kostet sehr viel Kraft, die wir gern in Ideen und Konzepte investieren | |
| möchten. | |
| Wie finanziert sich der Verein momentan? | |
| Über Spenden und Förderung. In Sachsen gibt es zwei Arten von | |
| Demokratieförderung: Zum einen über das Landesprogramm „Weltoffenes Sachsen | |
| für Demokratie und Toleranz“. Da kann man Förderung für Projekte | |
| beantragen, die innerhalb eines Jahres stattfinden. Und es gibt lokale | |
| Verfügungsfonds aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“, über die jeder | |
| Zuschüsse für kleinere Veranstaltungen beantragen kann. Aber eine | |
| gesetzliche, dauerhafte Grundlage der Demokratieförderung gibt es noch | |
| nicht. | |
| Ihr Verein wurde 2016 mit dem Preis „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ der | |
| Bundeszentrale für Politische Bildung und 2018 mit dem Sächsischen | |
| Demokratiepreis ausgezeichnet. Wie wichtig sind solche Anerkennungen? | |
| Ich habe 2017 auch noch den Lessing-Förderpreis erhalten, für mein | |
| Schreiben und Wirken im Sinne Lessings. Solche Würdigungen helfen vor allem | |
| als Finanzspritze, weil wir bei fast allen Förderanträgen einen Eigenanteil | |
| in Höhe mehrerer 1.000 Euro haben. Als kleiner Verein nutzen wir die | |
| Preisgelder dafür. | |
| In welchem Verhältnis stehen der zeitliche Aufwand und Ihr ehrenamtliches | |
| Engagement im Verein? | |
| Phasenweise bin ich 30 bis 40 Stunden pro Woche für den Verein aktiv. In | |
| der ersten Zeit habe ich auch jeden Abend noch gesessen. Wenn Projekte | |
| klappen, gibt es dann etwas Geld. Aber auch die Konzept-, Antrags- und | |
| Abrechnungsphasen brauchen viel Zeit. | |
| Sie sind seit vier Jahren mit der Initiative und dem Verein aktiv. Was hat | |
| Sie positiv überrascht? | |
| Bei „Literatur statt Brandsätze“ haben wir schnell Unterstützer gefunden, | |
| auch aus der Wirtschaft. Das Gefühl der Solidarität trägt bis heute: Ich | |
| habe in Sachsen wunderbare Menschen kennengelernt, denen ich mich verbunden | |
| fühle, die in die gleiche Richtung denken. Wir rücken alle näher zusammen. | |
| Kam es bisher zu Zwischenfällen oder zu Anfeindungen von rechts? | |
| Nein, bei einer unserer Veranstaltungen ist noch nie etwas passiert. | |
| Manches fühlt sich unbehaglich an, etwa als wir beim Landesprogramm | |
| „Weltoffenes Sachsen“ einen Antrag stellten und es beim Verfassungsschutz | |
| eine Abfrage gab, ob unser Verein schon einmal negativ in Erscheinung | |
| getreten sei. Wir engagieren uns für unsere freiheitlich-demokratische | |
| Grundordnung, also was soll das? Es ergibt mehr Sinn, bei allen Anträgen, | |
| auch im Kulturbereich, die Inhalte von Projekten und die Träger dahinter zu | |
| prüfen, denn inzwischen muss man genau hinschauen, wer sich als | |
| demokratisch versteht. | |
| Was wünschen Sie sich noch von der sächsischen Politik? | |
| Ich wünsche mir einen aus der Initiativenlandschaft gewählten | |
| Demokratiesenat, der den Landtag zu Fragen der Demokratie und zur | |
| Deeskalation berät. Ich wünsche mir, dass an Schulen eine | |
| Stundenfreistellung für Lehrerinnen und Lehrer geschaffen wird, die sich in | |
| dieser Zeit gezielt um Angebote demokratischer und kultureller Bildung | |
| kümmern können. Bisher machen das die engagierten Menschen an Schulen neben | |
| alldem, um das sie sich ohnehin schon kümmern müssen. Und ich wünsche mir, | |
| dass alle antidemokratischen Bestrebungen konsequent geahndet werden. | |
| Mitte März ist die Leipziger Buchmesse. Wird es dort Programm vom Verein | |
| geben? | |
| Wir rufen am Eröffnungsabend wieder zum „Büchermeer für Weltoffenheit“ a… | |
| dem Augustusplatz auf. Bei dieser Fotoaktion geht es darum zu vermitteln, | |
| dass in Leipzig Pluralismus und Weltoffenheit zu Hause sind. Außerdem wird | |
| die Autorin Kerstin Hensel, die unseren Aufruf vor vier Jahren mit als | |
| Erste unterstützt hat, aus ihrem neuen Roman für uns lesen. Genial fände | |
| ich ein sachsenweites Lesefestival nach dem Motto „Sachsen liest“ in | |
| Anlehnung an „Leipzig liest“. Bei so etwas wäre ich gern dabei, auch wenn | |
| ich weiß, dass das wahnsinnig aufwendig ist. Ich bin Autorin und hoffe, | |
| neben aller Vereinsarbeit bald wieder etwas zwischen zwei Buchdeckel zu | |
| bringen. | |
| Müssen Verlage öfter Lesungen an kleineren Orten veranstalten? | |
| Mehr Angebote im ländlichen Raum sind immer begrüßenswert. Die Verlage | |
| brauchen Leute vor Ort, die ihre Autorinnen und Autoren einladen. Das | |
| Literarische Colloquium Berlin hat gerade ein neues Förderprogramm | |
| aufgelegt, in dem es darum geht, mit Lesungen an Orte mit unter 20.000 | |
| Einwohnern zu gehen. Wir haben einen Kooperationspartner, der das mit uns | |
| beantragt hat. Das würde die Idee von „Literatur statt Brandsätze“ | |
| fortsetzen. | |
| 2 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sarah Alberti | |
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