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# taz.de -- Umbau des Verkehrssystems: Kampf um Hamburgs Straßen
> Am Sonntag wird in Hamburg eine neue Bürgerschaft gewählt. Der Verkehr
> ist das Thema, das die Menschen am meisten bewegt.
Bild: Problemfall Mundsburger Damm: für eine Veloroute ist auf dem Gehsteig ni…
Hamburg taz | Das Wunder-Werkzeug heißt „Roads“ und befindet sich im Foyer
der Hamburger Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation am Alten
Steinweg, mitten in der City. Auf dem grauen Steinboden steht ein Rollwagen
aus Stahlprofilen, in den ein flacher Bildschirm eingehängt ist, der auf
Berührung preisgibt, was sich in Hamburgs Verkehrsinfrastruktur tut.
Auf der küchentischgroßen Glasplatte kann Kirsten Pfaue ein aktuelles
Satellitenbild der Stadt aufrufen, das sich verschieben und zoomen lässt.
Mit ein paar Fingertipps kann die Baustellenkoordinatorin einen Zeitrahmen
festlegen und nachschauen, wo gerade gebaut wird und wer etwas damit zu
schaffen hat. Kleine weiße Strecken zeigen an, wo etwas los ist.
Pfaue steht im Zentrum des Politikfeldes, das bei den Hamburgern im Vorfeld
der Bürgerschaftswahl am Sonntag die erste Geige spielt: Der Verkehr
beeinflusst unmittelbar die Lebensqualität der Städter, sei es als
Verkehrsteilnehmer oder als Anwohner, die unter Stickoxiden und Lärm
leiden.
Umfragen zufolge ist die Zeit reif für grundsätzliche Veränderungen. Sie
reichen von mehr Fahrradverkehr über attraktivere öffentliche
Verkehrsmittel bis hin zu Carsharing- und Sammeltaxidiensten, auch
alternative Antriebe und autonomes Fahren spielen mit hinein. Im kommenden
Jahre beherbergt Hamburg passenderweise den 28. Weltkongress für
Intelligente Transportsysteme (ITS). Doch vieles ist samt der
entsprechenden Konflikte schon heute in der Stadt zu besichtigen.
## Endlich mal mehr Radverkehr
Pfaue war als ehemalige Landesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen
Fahrradclubs (ADFC) eigentlich angetreten, die Infrastruktur für den
Fahrradverkehr zu verbessern. Als Radverkehrskoordinatorin sollte sie im
Auftrag des rot-grünen Senats dafür sorgen, dass bei allen Baustellen das
Fahrrad als Verkehrsmittel mitgedacht wurde.
Mit diesem Job steckte sie mitten im Geflecht der Interessenvertreter – von
den örtlichen Polizeikommissariaten über die Bezirksämter und
Landesbehörden bis hin zu den Versorgungsunternehmen und der Bahn. Nachdem
die Zuständigkeit für die Fernstraßen an die Autobahn-Gesellschaft des
Bundes übergangen war, lag es nahe, ihre Zuständigkeit zu erweitern.
„Wir müssen darauf achten, dass wir nicht gegeneinander arbeiten“, sagt die
Koordinatorin. Pfaue muss die laufenden Pläne zeitlich abstimmen – „nicht
dass wir asphaltieren und hinterher feststellen, wir haben die
Wasserleitung vergessen“. Und sie muss die Interessen der verschiedenen
Akteure ausgleichen, worin sich Pfaue, eine Frau mit offenem Gesicht, die
sehr entspannt wirkt, offenbar bewährt hat.
Dabei sind die Konflikte, mit denen sie es zu tun hat, durchaus knifflig
und nicht jeder ist mit ihrer Arbeit zufrieden. Pfaue kann auf Roads auch
das geplante Veloroutennetz – so etwas wie die Hauptstraßen für den
Fahrradverkehr – einblenden, etwa die Routen 5 und 6, die kurz vor der
Innenstadt [1][an einer Hauptstraße zusammenlaufen]. Doch statt wie
vorgeschrieben zwei Meter auf dem Gehsteig, soll der Radweg auf diesem
Abschnitt nur 1,62 Meter, an einer Engstelle sogar nur 1,37 Meter breit
sein.
Eine Veloroute soll nach den Vorgaben des Senats „attraktiv sowie sicher
und zügig zu befahren“ sein. Davon könne unter solchen Voraussetzungen
nicht die Rede sein, fand der ADFC und kündigte an: „Solche Planungen
werden wir nicht akzeptieren.“
Dass sich die Radler auf der Fahrbahn unter den Autoverkehr mischten, komme
angesichts der 41.000 Kraftwagen täglich nicht infrage, finden die Planer.
Das gelte auch für die Abtrennung eines Radfahr- oder Schutzstreifens auf
der Fahrbahn. Auch auf dem Gehsteig sei nichts zu machen, weil dafür Bäume
gefällt und Grundstücke gekauft werden müssten.
Mit der Planung werde die Veloroute in diesem Abschnitt aber wenigstens
optimiert. „Die Planung holt das Beste raus unter der Voraussetzung, dass
Kfz-Fahrstreifen und Bäume unangetastet bleiben“, tröstete Pressesprecherin
Susanne Meinecke.
„Wenn die Behörde so argumentiert, signalisiert sie, dass sie nicht
wirklich was ändern will“, kritisiert ADFC-Sprecher Dirk Lau. Sein Verband
findet, auf der Fahrbahn sollten baulich abgetrennte Radfahrstreifen
eingerichtet werden. Dass damit auf der stark befahrenen Straße beiderseits
ein Fahrstreifen wegfalle, sei nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern
erwünscht.
Das würde auch zum gerade fortgeschriebenen [2][Klimaschutzplan] des
rot-grünen Senat passen, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Zahl der mit
dem Auto zurückgelegten Wege bis zum Jahr 2030 zu halbieren und den Anteil
des Fahrradverkehrs auf 25 Prozent der täglichen Wege zu verdoppeln.
Wie der Radler-Alltag aussieht, illustriert die Stresemannstraße, ein
Abschnitt der B 4, der mitten durch Altona verläuft. Nachdem hier mehrfach
Kinder totgefahren worden waren, erstritten Anwohner Tempo 30. Kurz hinter
diesem Abschnitt entsteht ein Block mit Mikro-Appartments für junge
Erwachsene, der so dicht an die Straße gesetzt wird, dass der Bauzaun den
Geh- und Radweg blockiert.
Statt Tempo 30 zu verlängern, fiel der Polizei nur ein, das Radfahren auf
der Hauptstraße zu verbieten und die Radler auf einer Umleitung um den
Block zu schicken. Zwar konnte der grüne Bezirksabgeordnete Benjamin
Harders dagegen eine [3][einstweilige Anordnung] erwirken, doch die
Straßenverkehrsbehörde scherte sich darum nicht. Die Behörde arbeite „mit
allen juristischen Tricks, um den Autoverkehr nicht zu beeinträchtigen“,
sagt Harders. Viele Radler fahren trotzdem tapfer geradeaus.
Einen wesentlichen Schub bekam die Modernisierung des Radverkehrsnetzes
durch eine [4][Grundsatzenscheidung] des damaligen Bürgermeisters Olaf
Scholz, nachdem die SPD 2011 die absolute Mehrheit in der Bürgerschaft
errungen hatte. Er stoppte die Pläne, eine Stadtbahn zu bauen, also eine
Straßenbahn auf eigenem Gleiskörper.
Stattdessen versprach er das „modernste Bussystem Europas“ und legte ein
Busbeschleunigungsprogramm für 259 Millionen Euro auf. Das Programm
beinhaltetet einen Umbau von Haltestellen, Fahrbahnen und Kreuzungen –
wobei ganz im Sinne von Pfaues Baustellenkoordination jeweils mitgedacht
wurde, wie sich der Fahrradverkehr verbessern ließe.
Dabei sind zuweilen etwas unübersichtlich wirkende Fahrradabbiegespuren
herausgekommen, aber der Radverkehr ist heute auf jeden Fall sichtbarer,
schon allein deshalb, weil für ihn deutlich Raum abmarkiert wurde.
Der Senat begründete die Entscheidung, auf den Bus zu setzen, mit dem
Haushalt. „Für ein neues Verkehrssystem fehlt das Geld“, sagte der damalige
Verkehrssenator Frank Horch (parteilos). Inzwischen hat sich der Haushalt
prächtig entwickelt und der Senat hat nicht nur einen schicken U- und
S-Bahn-Knoten mit gläsernen Hallen an den Elbbrücken geschaffen, sondern
plant für viele Milliarden Euro neue U-Bahn-Linien.
Die Grünen haben die Stadtbahn im Wahlkampf wieder ins Spiel gebracht. Der
jetzige und wohl auch künftige Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) will
davon jedoch [5][nichts wissen]. „Wir haben eben erlebt, dass die konkrete
Planung einer Stadtbahn überall zu heftigen Bürgerprotesten führt, weil sie
den knappen Straßenraum zusätzlich in Anspruch nimmt“, sagte er der taz.
## Der Bürgermeister war Alltagsradler
Tschentscher war selbst Alltagsradler, bevor er Senatsmitglied wurde. Er
ärgert sich über die „Radfahrer absteigen“-Schilder an Baustellen. „Als…
man zum Vergnügen unterwegs wäre“, äzt er. Neben einem Bündnis für den
Radverkehr, bei dem sich verschiedene Behörden auf allen Ebenen
verpflichtet haben, den Anteil des Fahrradverkehrs zu erhöhen, hat der
Bürgermeister im Dezember den Plan für einen [6][„Hamburg-Takt“]
vorgestellt, der einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs
voraussetzt.
Der Takt werde dazu führen, „dass in Hamburg niemand mehr auf Fahrpläne
achten muss, sondern dass man überall spontan, flexibel und ohne Wartezeit
unterwegs sein kann“, sagte Tschentscher. Dazu will der Senat
X-Press-Busse fahren lassen, die nur an wenigen Stellen halten, und unter
anderem die unterentwickelten Tangentialverbindungen stärken, wie heute
schon zwischen Bergedorf und Harburg.
Für die Feinverteilung soll es kleine Quartiersbusse geben, sodass kein
Hamburger mehr als fünf Minuten zur nächsten Haltestelle gehen muss. Für
die quasi letzte Meile nach Hause sollen diese Busse flexibel auf
Bestellung fahren. Schon heute rollen die elektrischen Moia-Sammeltaxen des
VW-Konzerns gespenstisch leise durch Hamburg und machen dem Taxi-Gewerbe
das Leben schwer.
Die auf zehn Minuten getakteten Metrobusse sollen künftig alle fünf Minuten
fahren. Eine eigene Spur bekommen sie aber nur in Ausnahmefällen. Rückgrat
des Verkehrssystems wären jedoch die U- und S-Bahnen: Mit neuen Strecken,
besserer Elektronik, die dichtere Takte ermöglicht, und neuen Bahnhöfen auf
bestehenden Strecken soll das Bahnfahren attraktiver werden. Auch eine
fahrerlose U-Bahn soll es geben.
## Autoarme Innnenstadt en vogue
In der Endphase des Wahlkampfs haben die Koalitionspartner sich überdies
bei einem Thema Konkurrenz gemacht, das für die Sozialdemokraten lange tabu
war: eine autofreie oder zumindest autoarme Innenstadt. Nachdem die Grünen
in Altona ein paar halbe Straßen im Szenequartier Ottensen gesperrt hatten,
schlugen sie im August vor, Teile der City „weitgehend autofrei“ zu machen.
Zum Ärger seines Koalitionspartners legte Tschentscher kürzlich mit
Senatorinnenunterstützung das Konzept für eine autoarme Innenstadt vor, das
wie bei den Grünen abgeschrieben wirkte.
In der Bevölkerung gibt es Unterstützung für solche Vorhaben. In einer
[7][Umfrage im Auftrag des NDR] sprachen sich 67 Prozent der Befragten für
autofreie Innenstadtbereiche aus und 53 Prozent dafür, mehr Radwege
zulasten von Autofahrspuren zu bauen.
Die Grünen wollen diesen Schwung nutzen und schlagen ein
[8][Fahrradkomfortnetz] vor, auf dem man mit weniger lästigen Stopps
unterwegs sein kann. Intelligente Schilder sollen Radlern anzeigen, ob sie
schneller oder langsamer fahren müssen, um bei Grün an der nächsten Ampel
anzukommen. Es soll mehr baulich abgetrennte Fahrradspuren geben,
Radschnellwege ins Umland, gut ausgeschilderte Velorouten, die möglichst
als vier Meter breite Fahrradstraßen ausgelegt werden sollen.
Zwar ist die Verkehrsbehörde nicht in grüner Hand, trotzdem sagt die
Baustellen- und Radverkehrskoordinatorin Pfaue: „Die Rückendeckung hier im
Haus ist groß.“ Den zuständigen Staatsrat – so heißen die Staatssekretä…
im Stadtstaat – Andreas Rieckhof (SPD), könne sie jederzeit anrufen. Und
selbst dessen für Wirtschaft und Innovation zuständiger Kollege Torsten
Sevecke (SPD) kann sich für Pfaues Sache begeistern.
## Staatsrat mit Visionen
Er schiebt gerade sein Rennrad durchs Behörden-Foyer und bleibt kurz an dem
Rollwagen mit Roads stehen. Der Staatsrat freut sich darüber, wie schnell
und komfortabel die Fahrradstraße an der Außenalster sei. Als er sich über
Pfaues Bildschirm beugt, kommt er ins Schwärmen: „Man kommt ins Gespräch,
man kommt auf Visionen“, sagt er und zoomt auf eine Stelle, wo beidseits
der Außenalster Stichstraßen enden.
An dieser Stelle ließe sich doch ein Pendelverkehr einrichten, fantasiert
er. Dann müssen die Radler nicht mehr um den nördlichen Zipfel des Sees
herumkurven, sondern könnten auf direktem Weg nach Eimsbüttel brettern. In
seiner Zeit als Bezirksamtsleiter habe er schon die Grundstücke für die
Stadt gesichert.
Sicher sei noch vieles an der Infrastruktur verbesserungsfähig, räumt Pfaue
ein, sagt aber: „In den vergangenen Jahren haben wir die Strukturen
aufgebaut, jetzt läuft das Programm.“ Bei einer guten Infrastruktur und
guten Abstellanlagen würden die Leute auch aufs Rad umsteigen, glaubt
Pfaue. „Läuft“, sagt Sevecke und schiebt sein Rad hinaus in den Regen.
22 Feb 2020
## LINKS
[1] /Fahrradverkehr-in-Hamburg/!5645026
[2] https://www.hamburg.de/klimaschutz/
[3] https://twitter.com/bHrdrs/status/1106256418938724352
[4] /Neues-Bussystem-fuer-Hamburg/!5105940
[5] /Hamburgs-Buergermeister-ueber-Optionen/!5661385
[6] /Hamburger-Senat-verspricht-Verkehrswende/!5645806
[7] https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/wahl/buergerschaftswahl_2020/Hamburg…
[8] /Verkehrswende-in-Hamburg/!5653717
## AUTOREN
Gernot Knödler
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