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# taz.de -- Regionalwahl in Kalabrien: Ganz unten
> Mehr als auf die Politik hofft die Bevölkerung Kalabriens auf einen
> Wandel durch die Justizbehörden. Denn bislang gewinnt immer nur eine: die
> Mafia.
Bild: Lega Chef Salvini bei einem Wahlkampfauftritt in Kalabrien
Reggio Calabria taz | Wer Kalabrien in seiner Drastik und Dramatik
verstehen will, kommt vielleicht am besten am 5. Januar in den Norden der
Provinzhauptstadt Cosenza. Dort, am zentralen Omnibusbahnhof nahe der
Autobahn, versammeln sich alle Jahre wieder Tausende junge Leute wie
Zugvögel: Studierende und Arbeitende, die die Weihnachtsfeiertage bei ihren
Familien verbracht haben und nun einigermaßen günstig zu ihrem eigenen
Leben im Norden zurückkehren, fern von ihren Lieben.
Wann sie es sich leisten können, wiederzukommen, hängt nicht nur von ihren
Arbeitgebern ab. Es gibt Tage im Jahr, da kostet der Flug Mailand–Reggio
Calabria mehr als der von Mailand nach New York.
Nach dem letzten Eurostat-Bericht liegt Kalabrien unter den europäischen
Regionen ganz hinten, mit einer Arbeitslosenquote der 15- bis 24-Jährigen
von 52,7 Prozent. Der Mittelwert in der EU liegt bei 15,2 Prozent. Fast ein
Viertel der Erwerbsfähigen ist ohne Arbeit, auch hier liegt die südlichste
Region des Stiefels weit „vorn“. Einer von fünf Jugendlichen geht hier ohne
Abschluss von der Schule, 180.000 junge Menschen haben ihre Heimat in den
letzten 15 Jahren verlassen – und zwar vor allem die besser Ausgebildeten,
die keine adäquate Beschäftigung finden.
Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit – das sind die Hauptübel, von
denen Kalabrien heimgesucht wird, gleichauf mit der totalen Herrschaft
[1][der Mafiaorganisation] ’Ndrangheta, der sich niemand entziehen kann,
der hier lebt, die einem die Luft zum Atmen nimmt.
Wie in der Kleinstadt Limbadi in der Provinz Vibo Valentia, wo die
’Ndrangheta am 9. April 2018 unter dem Auto des 42-jährigen Matteo Vinci
eine Bombe platzierte, ihn ermordete und seinen 70-jährigen Vater schwer
verletzte, weil sie dem mächtigen lokalen Clan Mancuso keine Grundstücke
verkaufen wollten. Zu den Mancusos sagt niemand nein, war die Botschaft,
die gehört wurde: Keiner in Limbadi half den Ermittlungsbehörden.
## Ein Netz aus Abhängigkeiten
Und doch haben die jüngsten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und
insbesondere der regionalen Abteilung der Antimafiabehörde (Direzione
distrettuale antimafia, DDA) unter Leitung von Nicola Gratteri in der
kalabrischen Hauptstadt Catanzaro ein Netz von Beziehungen und
Abhängigkeiten aufgedeckt, auf das die Mafia bauen kann: von Politikern,
Unternehmern, Selbstständigen und sogar Priestern. Organisiert in
Freimaurerlogen – die mit der Ursprungsidee nichts mehr zu tun haben – wird
das öffentliche Leben kontrolliert, werden staatliche Gelder abgezweigt.
Das sind die Umstände, unter denen Kalabrien am Sonntag ein neues
Regionalparlament wählt. Die Augen der italienischen Medien sind dabei –
wie immer, muss man sagen – vor allem nach Norden gerichtet, auf die
gleichzeitig stattfindenden Wahlen in der reichen Region Emilia-Romagna.
Und doch sind diese Wahlen für Kalabrien die vielleicht letzte Chance, der
wirtschaftlichen, politischen, sozialen und nicht zuletzt der moralischen
Depression etwas entgegenzusetzen.
Der scheidende Präsident Mario Oliverio wird mit einem solchen dringend
nötigen Aufbruch nichts mehr zu tun haben. Der Politiker der
sozialdemokratischen PD (Partito Democratico) stellt sich nicht zur
Wiederwahl. Er hat in seiner fünfjährigen Legislaturperiode nichts bewegt,
zudem ermittelt die Justiz gegen ihn wegen zahlreicher vermuteter
Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung.
Für das als klarer Favorit in die Abstimmung gehende rechte Lager tritt
Jole Santelli an, seit 33 Jahren im Politgeschäft, die das Handwerk von
ihrem Förderer Silvio Berlusconi gelernt hat und von [2][Lega-Führer Matteo
Salvini] unterstützt wird. Die Lega, die als „Lega Nord“ für den Süden
Italiens früher nur rassistische Beleidigungen übrig hatte, kann sich
inzwischen über breite Unterstützung aus der Bevölkerung freuen – auch wenn
prominente Kandidaten der Santelli unterstützenden Liste „Casa delle
Libertà“ (Haus der Freiheiten) kürzlich vom italienischen Rechnungshof zur
Rückerstattung von jeweils 60.000 Euro verurteilt wurden, weil sie für die
Gruppen im Regionalparlament bestimmte Gelder widerrechtlich verwendet
hatten.
Solche negativen Nachrichten dürften den Erfolg der Rechten kaum gefährden.
Im Gefühl des bevorstehen Triumphs hat Salvini sich auch einen
Wahlkampfauftritt in Riace nicht nehmen lassen – dem Ort, wo Bürgermeister
Mimmo Lucano über Jahre ein Symbol der Hoffnung und der Integration von
Migranten gesetzt hatte.
Der PD setzt auf den Unternehmer Pippo Calippo, seine
Thunfischkonservenfabrik ist eines der wenigen erfolgreichen Beispiele in
Kalabrien. Die Firma sponsert auch eine Volleyballmannschaft, die in der
höchsten italienischen Liga spielt, die Wahl Calippos zum Spitzenkandidaten
musste aber trotzdem von oben, vom PD-Vorsitzenden Nicola Zingaretti
durchgesetzt werden. Der Unternehmer Calippo gilt vielen in der Partei als
wirtschaftlich zu rechts, aber vor allem als moralisch zu „unflexibel“ –
hat er doch Kandidaturen von juristisch Vorbelasteten kategorisch
ausgeschlossen und will sich auch nicht mit Leuten umgeben, die schon seit
Jahrzehnten in der heimischen Politik mitmischen.
Bei der 5-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5S) war lange nicht klar,
ob sie überhaupt an den Wahlen teilnehmen würde. Schließlich einigte man
sich doch noch auf den Unidozenten Francesco Aiello. Der gefällt so einigen
in der Bewegung allerdings gar nicht, insbesondere nicht dem Vorsitzenden
der Nationalen Antimafiakommission Nicola Morra, der Aiello für nicht
kandidabel hält, weil er verschwieg, dass einer seiner Cousins der
’Ndrangheta zugerechnet wird. Die Großen des M5S haben sich denn auch kaum
blicken lassen im kalabrischen Wahlkampf.
## Die Chance auf Befreiung
Der stärkste Gegner aller Parteien dürfte aber die niedrige Wahlbeteiligung
werden. Jahre der Misswirtschaft und Korruption haben das Vertrauen, dass
sich durch Politik und Wahlen etwas an den katastrophalen
Lebensverhältnissen in der Region ändern ließe, tief erschüttert.
Weil er das Netzwerk zwischen Kriminellen und Teilen der wohlhabenden
Gesellschaft Stück für Stück offenlegt und zerstören will, sehen viele in
Kalabrien in der Justiz, in Nicola Gratteri und seinen Ermittlungen die
einzige Chance für die Befreiung Kalabriens. So kam es zu der doch
ungewöhnlichen Begebenheit, dass Tausende Bürger nicht etwa für einen
Politiker oder eine Partei auf die Straße gingen, sondern zur Unterstützung
der Arbeit der Justizbehörden – so geschehen in Catanzaro am vergangenen
Samstag.
„Alle für Gratteri“ jubelten die Menschen vor seinem Amtssitz dem Juristen
zu. Und doch versteht Kalabrien nur zur Hälfte, wer nicht klar sieht, dass
sich unter diese Bürger auch scheinheilige Politiker mischten, die kein
Problem damit haben, Mafiaverdächtige auf ihren Listen kandidieren zu
lassen, Leute, die öffentliche Gelder unterschlagen haben, oder solche, die
bereits verurteilt wurden, weil sie ihre politische Tätigkeit für
kriminelle Zwecke nutzten.
Richtig freie Wahlen gibt es in Kalabrien ohnehin nicht: Schon immer ist es
der ’Ndrangheta gelungen, den Sieger zumindest teilweise für die eigenen
Zwecke einzuspannen oder gleich die ihr zur Verfügung stehenden Stimmpakete
dem gewünschten Kandidaten zuzuschanzen.
Wer allerdings glaubt, der Mob würde sich damit begnügen, die Stiefelspitze
Europas zu beherrschen, der verkennt den internationalen Charakter der
’Ndrangheta. Folgt man der Spur des Geldes, [3][kommt man unweigerlich
auch nach Deutschland,] einem der beliebtesten Investitionsziele der Mafia.
Und dass seit dem Massaker von Duisburg, wo 2007 zwei verfeindete Clans
sechs Tote zurückließen, nicht mehr geschossen wird, sollte die Deutschen
nicht beruhigen. Denn das bedeutet vielmehr, dass die Geschäfte der
’Ndrangheta glänzend laufen.
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
25 Jan 2020
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## AUTOREN
Claudio Cordova
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