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# taz.de -- Organisierte Kriminalität in Italien: Corona und die Mafia
> Ausblick ins Unbekannte: Wo der Staat sich in der Coronakrise
> zurückzieht, lässt er Raum für die Mafias – ob in Italien oder in
> Ostdeutschland.
Bild: Neapel: Wer etwas geben kann, gebe; wer etwas braucht, nehme – so brauc…
Mehr als 20.000 Tote sind in Italien inzwischen wegen des Coronavirus zu
beklagen. Während die Pläne für eine Aufhebung des Lockdowns seitens der
Regierung noch am Anfang stehen, gibt es Anzeichen, dass sich die
italienischen Mafiaorganisationen schon bereit machen, um alte
Herrschaftsbereiche zu sichern und neue Gebiete zu erobern.
Die durch die Pandemie verursachte Wirtschaftskrise ist der Moment für die
Mafia, um zu ihrer angestammten Rolle als Ersatz für den schwachen Staat
zurückzukehren, da dieser die Menschen mit ihren wirtschaftlichen
Schwierigkeiten alleinlässt. Und wer immer sich für immun gegen diese
Bedrohung hält, wird möglicherweise schon sehr bald ein böses Erwachen
erleben.
„Wir haben die Antikörper gegen die Mafia“, hieß es etwa Anfang der 2000er
Jahre in Reggio Emilia. In der reichen und auf ihre antifaschistische
Tradition stolzen Stadt in Norditalien war man überzeugt, dass das Virus
des organisierten Verbrechens keine Chance habe. Ab und zu ein in Brand
gestecktes Auto oder ein gelegentlicher Mord, über den lediglich die
Lokalpresse berichtete, wurden von den meisten mit einem Achselzucken
abgetan: „Das sind Sachen zwischen den Kalabresen.“ Oder: „Sie bringen si…
ja nur gegenseitig um.“
Doch an einem kalten Morgen im Januar 2015 weckten Hubschrauber und Sirenen
Reggio Emilia auf: Die Operation „Aemilia“ begann, die zum größten
Antimafiaprozess in Norditalien führen sollte. Unter den 148 Angeklagten
waren eben nicht nur Angehörige der aus Kalabrien stammenden
Mafiaorganisation ’Ndrangheta, sondern Polizisten, Verwaltungsangestellte,
Journalisten und Kommunalpolitiker. Alles war so sauber und geordnet
erschienen und der Feind immer einem Außen zuzuordnen – und nun das: Die
Mafia war in Reggio zu Hause!
## Empfängliche Wirtschaft
Heute ist die Emilia-Romagna zusammen mit dem Rest Norditaliens rote Zone,
in die Knie gezwungen vom Virus Sars-CoV-2. Unternehmen sind geschlossen,
die Menschen erleben die dritte Katastrophe innerhalb von zehn Jahren, nach
der Wirtschaftskrise von 2009 und dem Erdbeben von 2012. In den Krematorien
sind noch die Särge aufgereiht, aber die Sorgen richten sich schon auf eine
wirtschaftlich unsichere Zukunft voller Pleiten und mit hoher
Arbeitslosigkeit.
In einer Mitteilung vom 4. April betonen die Behörden, wie wichtig es sei,
sich bereits jetzt einen Überblick über die potenziellen Aktionsfelder der
Mafia zu verschaffen. „Es ist notwendig“, schreibt Francesco Messina,
Direktor des DAC, der Zentralstelle der Staatspolizei für die Bekämpfung
des organisierten Verbrechens, „mit den Wirtschaftsverbänden vor Ort
zusammen die Sektoren zu identifizieren, die der kriminellen Infiltration
besonders ausgesetzt oder für sie ‚empfänglich‘ sind.“
Wenn auch die genauen Ziele der Mafias noch nicht bekannt sind – die
Methoden sind es bereits; und zwar aus den Akten des Aemilia-Prozesses. Da
liest man etwa von Fabrizio Maffioletti, Geschäftsführer eines Stahlwerks
in der Provinz Bergamo, von Roberta Tattini, Finanzberaterin aus Bologna,
spezialisiert auf Unternehmenskrisen, und von Antonio Gualtieri aus
Kalabrien, wohnhaft in Reggio Emilia. Gualtieri sitzt inzwischen für 12
Jahre im Gefängnis für die Verbrechen, die er als rechte Hand von Nicolino
Grande Aracri, Boss der ’Ndrina Grande Aracri, der Nummer zwei der
’Ndrangheta in der Welt, begangen hat.
Als Maffioletti sich an die Beraterin wendet, ist sein Unternehmen bereits
in Schwierigkeiten: Seit Beginn der Wirtschaftskrise fehlt es an Aufträgen
und seine Schuldner zahlen nicht. Roberta Tattini bringt Gualtieri ins
Spiel. Der erbittet die Liste der Schuldner und versichert: „Ich werde mich
darum kümmern.“ Durch Gewalt und Einschüchterung gelingt es Gualtieri, die
Schulden einzutreiben. Aber das Geld gelangt nicht in die Taschen von
Maffioletti, der im Gegenteil nach und nach die Kontrolle über sein
Unternehmen verliert.
## Mafien als soziale Player
Das Beispiel zeigt, wie die guten Bürger der Emilia nur zu gern zu
Komplizen werden, wenn, wie im Fall der Finanzberaterin Tattini, sich die
’Ndrangheta als Businesspartner präsentiert. [1][Das Risiko, das die
kommende Krise darstellt, ist konkret, sagt Nicola Gratteri, Chef der
Staatsanwaltschaft im kalabrischen Catanzaro]: „Wir würden bei der
Sicherung und Kontrolle des von der organisierten Kriminalität
beanspruchten Territoriums viele Rückschritte machen, wenn es den Mafias
gelänge, weitere Unternehmen zu kaufen.“
Federico Varese, Professor für Kriminologie an der Universität Oxford, sagt
der taz: „Die Sorge ist, dass die Mafias Konsens und Legitimität erlangen
als soziale Player. Die von der Krise am stärksten betroffenen Gruppen
werden die illegal Beschäftigten sein, die ihre Arbeit verlieren und keinen
Zugang zu den von der Regierung bereitgestellten Finanzhilfen haben. Wenn
die Regierung keine ausreichenden Maßnahmen ergreift, wird die Mafia die
einzige Institution sein, an die sich die Schwarzarbeiter wenden können.“
Dass die Mafia sich längst an die Arbeit gemacht hat, dafür gibt es
Anzeichen: Vor Kurzem gab die Polizei von Neapel bekannt, dass sie ihre
Präsenz in denjenigen Stadtvierteln verstärkt hat, wo Mitglieder der
Camorra, der neapolitanischen Mafia, Tüten mit Lebensmitteln verteilen.
In Palermo, Sizilien, genügt ein Blick auf die Fotos der leeren Straßen des
zentralen Ballarò-Markts, um zu verstehen, dass die nächsten Monate hart
werden. Mit einer Petition haben sich die Menschen an ihren Bürgermeister
gewandt: Die Reliquien der Heiligen Rosalia, die Palermo 1625 von der Pest
befreit haben soll, mögen in einer Prozession durch die Stadt geführt
werden. In der Zwischenzeit, an irdischeren Lösungen interessiert,
organisiert Giuseppe Cusimano, Bruder eines gerade im Gefängnis sitzenden
Bosses, den Einkauf für Familien in Schwierigkeiten. Öffentlich legt er
sich mit einem Journalisten an, der darüber berichtet: „Meine Herren, der
Staat will nicht, dass wir Almosen geben, weil wir Mafiosi sind? Ich bin
stolz darauf, ein Mafioso zu sein“, schreibt Cusimano auf seiner
Facebook-Seite.
## Distanzierung als Privileg
Und aus Kalabrien, aus der so fruchtbaren wie von der ’Ndrangheta
beherrschten Ebene von Gioia Tauro [2][erzählt der Priester Don Pino De
Masi von der Antimafia-Organisation Libera] von den Migranten, die für 30
Euro am Tag Orangen pflücken: Allesamt informelle Arbeiterinnen und
Arbeiter, die unter prekären gesundheitlichen Bedingungen in Zelten mit
mindestens acht Personen leben (und uns daran erinnern, dass soziale
Distanzierung ein Privileg ist). „Die Erntesaison hier geht zu Ende“, sagt
De Masi, „es besteht die Gefahr, dass die Arbeiter sich jetzt an die
’Ndrangheta wenden, um zu überleben.“
Die ’Ndrangheta hat genug Geld aus dem Drogenhandel gebunkert – und
Nachschub ist schon unterwegs: Vor einer Woche wurde ein aus Osteuropa
ankommender Lieferwagen mit 500.000 Euro Bargeld an der italienischen
Grenze angehalten. Am Steuer saßen Männer, die der Polizei wegen ihrer
Kontakte mit der ’Ndrangheta bekannt waren. Ein eindeutiges Zeichen dafür,
dass sich die Clans darauf vorbereiten, die Krise mit Liquidität zu
bekämpfen.
In Italien also wird die Gefahr inzwischen klar gesehen und benannt. In
Deutschland ist man noch nicht so weit. Ein Artikel in der Welt von letzter
Woche mit dem Titel „Die Pandemie ist der ideale Nährboden für die Mafia“
löste in ganz Italien Empörung aus.
„Man liest dort, dass die italienischen Mafias mit offenen Armen auf das
Geld aus Europa warten, konkret auf die Eurobonds“, sagt Francesco Varese,
[3][„aber genau das Gegenteil ist der Fall.] Hilfe für die Bevölkerung
verhindert gerade, dass die Mafia an die Stelle des Staates tritt. Es wird
notwendig sein, nicht nur mit Krediten, sondern auch mit Gutscheinen für
die Güter des täglichen Bedarfs zu intervenieren, die für die
Wiederbelebung des Konsums sehr wichtig sind.“
## In Deutschland zu Hause
Deutschland verfügt über die Mittel, angemessen auf die Pandemie zu
reagieren. Die Gefahr der Infiltration besteht aber auch hier, die Mafia
ist seit über 50 Jahren in Deutschland zu Hause. Sie hat auch unter den
angeblich superkorrekten Amtsträgern „Freunde“ gefunden; und wie im Fall
Reggio Emilia waren es auch hier die Krisenmomente, insbesondere der
Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft nach 1990, in denen sich die
Mafias ihren Platz sichern konnten.
Jede Krise ist erst einmal ein Ausblick ins Unbekannte. Diese Pandemie hat
bereits jetzt epische Ausmaße der Tragik und Trauer erreicht. Sie muss
nicht auch noch zum Grund für die Spaltung Europas und zur Chance für das
organisierte Verbrechen werden. „In dem Moment, in dem die legale
Wirtschaft schrumpft, schrumpft auch die illegale“, erklärt Varese aus
Oxford. „Auch der Cashflow der Mafias ist nicht unbegrenzt. Aber die
Bedrohung ist da.“
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
17 Apr 2020
## LINKS
[1] /!264551/
[2] https://www.radioinblu.it/2020/04/07/don-pino-de-masi-libera-con-covid-19-l…
[3] /Solidaritaet-in-der-Corona-Pandemie/!5677958/
## AUTOREN
Ambra Montanari
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