# taz.de -- 10 Jahre Mafia-Morde von Duisburg: Die graue Zone | |
> Am Dienstag jähren sich die Morde von Duisburg. In ihrer Ursprungsregion | |
> Kalabrien ist die ’Ndrangheta eher noch mächtiger geworden. | |
Bild: Der Schauplatz der Mafia-Morde von Duisburg, das ehemalige Restaurant „… | |
Wer sich als Journalist mit der italienischen Mafia beschäftigt, genießt | |
Privilegien. In Reggio Calabria etwa, der Zentrale der ’Ndrangheta, wo ich | |
seit 2010 regelmäßig recherchiere, scheint fast immer die Sonne; und welch | |
verwüstete Landschaften man den Tag über auch gesehen, was für | |
ungeheuerliche Geschichten von in Säure aufgelösten Leichnamen man auch | |
gehört haben mag: Zwischendurch gibt es immer einen Espresso, es gibt | |
Menschen, die Engagement nicht mit schlechter Laune verwechseln und abends | |
ein Essen, das man in Berlin nicht mal beim Spitzenitaliener bekommt. | |
Und doch hat sich in den Jahren ein Unwohlsein eingestellt. Manchmal fühle | |
ich mich wie gefangen [1][in den grauen Zonen] des mittelmeerhellen | |
Kalabriens. Dann erscheint mir Reggio als Avantgardestadt der „Fake News“, | |
wo die Unterwanderung aller Institutionen total ist, wo Verwirrung und | |
Verleumdung herrschen, wo der Feind gewonnen hat. | |
Der Feind: Ich weiß, dass ich mit Mitgliedern der ’Ndrangheta am | |
Interviewtisch beziehungsweise in einem [2][Gerichtssaal] zusammengesessen | |
habe – [3][mitten in Deutschland], wie man so schön sagt. Aber ich weiß | |
nicht, ob das in Reggio und Umgebung der Fall war. Ich bin mir nur ziemlich | |
sicher. Ich kenne im Umfeld des „[4][Osservatorio sulla ’Ndrangheta“], dem | |
in der konfiszierten Protzvilla eines Mafiabosses beheimateten | |
Anti-Mafia-Zentrum in Reggio, ein halbes Dutzend Menschen, denen ich | |
vertraue und deren Arbeit ich als Journalist begleitet habe. Es sind Leute | |
wie der Chefkoch [5][Filippo Cogliandro], Ehrenvorsitzender des | |
„Osservatorio“, der erpresserische Mafiosi angezeigt hat; wie [6][Claudio | |
La Camera], der mir geholfen hat, mit der ROS-Spezialeinheit der | |
Carabinieri den Mafiahafen von [7][Gioia Tauro] zu erkunden; oder die junge | |
Sozialarbeiterin und Präsidentin des „Osservatorio“, Antonella Bellocchio, | |
die Kindern aus ’Ndrangheta-Familien unermüdlich eine Alternative zum | |
Aufwachsen in einem brutalen und ignoranten Milieu aufweist. | |
Aber dann wird es schon schwierig. Eine Einladung zu einem privaten | |
Abendessen kann mit dem vertraulichen Hinweis beginnen, ich solle nicht zu | |
offen sein, es nehme da jemand teil, der einen problematischen | |
Familiennamen habe, einen Clannamen. | |
Der Präsident des Landwirtschaftsverbands in Reggio sagt einem, auf die | |
massiven, von der ’Ndrangheta kontrollierten Subventionsbetrügereien in der | |
mafiaverseuchten Ebene von Gioia Tauro angesprochen, ja, ja, davon habe er | |
schon gehört – aber das beträfe keine Mitglieder seines Verbands; und | |
wischt sich den Schweiß von der Stirn. | |
Die [8][ausgebeuteten migrantischen Erntearbeiter] schweigen, wenn sie auf | |
das „capolarato“ angesprochen werden, die Abgabepflicht an die ’Ndranghet… | |
die die Akten der zuständigen Staatsanwaltschaft in Palmi füllt. Es | |
schweigen die Geschäftsleute, die Restaurant- und Pensionsbesitzer, die | |
durch die Bank an die Mafia zahlen. Aber alle sind sehr freundlich. | |
## Ist es Krieg? | |
Noch undurchsichtiger als das Schweigen kann sein, worüber eigentlich | |
geredet wird. Ende 2015 kam der Frauenfußballverein Sporting Locri weltweit | |
in die [9][Schlagzeilen]. Der Präsident des Vereins behauptete, Drohungen | |
von der ’Ndrangheta erhalten zu haben, und trat in angeblicher Furcht um | |
sein Leben zurück. Nachdem der empört-solidarische Medien- und | |
Funktionärstross wieder abgereist war, bestätigte sich die Behauptung | |
einer Bedrohung durch die Mafia nicht. Der Verein organisierte sich neu, | |
mit den Medien will man nichts mehr zu tun haben. | |
Dass kurz danach in Locri vierzehn Überlandbusse in Flammen aufgingen, die | |
in einer ohnehin abgeschnitten Region als einziges öffentliches | |
Verkehrsmittel fungieren und somit das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit | |
garantieren, interessierte außerhalb Kalabriens niemanden mehr. Nach | |
weiteren Attacken steht die Firma mit über 200 Beschäftigten inzwischen vor | |
der Schließung. Die ’Ndrangheta möchte nicht, dass Menschen sich bewegen. | |
Wie soll man die Lage im Süden Kalabriens also beschreiben? Als Krieg? Die | |
’Ndrangheta gegen Staat und Bürger? Als jüngst ein Mafiaboss in seinem | |
Wohnungsversteck aufgespürt wurde, küsste ein Nachbar dem Verhafteten zum | |
Abschied die Hand, die Empörung war groß. Also die ’Ndrangheta mit weiten | |
Teilen der Bevölkerung gegen den, im Süden traditionell abwesenden, Staat? | |
Ist dann der Mut der Leute etwa aus dem Osservatorio und einiger anderer | |
Aktivisten nicht einfach verlorene Liebesmüh? | |
Klar ist nur, dass in einer potenziell reichen (Landwirtschaft, | |
hochwertiger Tourismus) und mit einer 3.000-jährigen Geschichte gesegneten | |
Region der EU den Einwohnern fundamentale Grundrechte verweigert werden: | |
ein freies Leben, mit der Möglichkeit zur auch wirtschaftlichen | |
Selbstentfaltung, eine Existenz ohne ständige Bedrohung durch | |
[10][faschistoide] Kriminelle. | |
Der italienische Staat regiert auf diese Herausforderung mit Repression und | |
der fortgeschrittensten Anti-Mafia-Gesetzgebung der Welt. Die Besetzung der | |
Posten im Justizapparat wird in Reggio diskutiert wie anderswo der lokale | |
Sport oder eben: die Politik. | |
Die aber gilt als total diskreditiert, weil, wie der Historiker Enzo | |
Ciconte im [11][seinem taz-Beitrag] zur Mafia nach Duisburg zitiert wurde, | |
es ohne Verbindungen in die Institutionen überhaupt keine Mafia geben | |
würde, sondern nur bewaffnete Banden von ultrabrutalen Soziopathen. So | |
wie es – um ein für Deutsche möglicherweise eindringliches Bild zu wählen … | |
keinen NSU-Komplex ohne die sympathisierende Zuarbeit, die Unterlassung und | |
die Lügen deutscher Geheimdienste gegeben hätte. | |
Wer über die Mafia recherchiert, ist auf die Zusammenarbeit mit den | |
Justizbehörden angewiesen, vor allem den ermittelnden Staatsanwaltschaften. | |
Sie bestimmen, welche Akten man einsehen kann, und führen damit den | |
Diskurs. Die italienische Staatsanwaltschaft, die sehr viele Menschen im | |
Kampf gegen den Mob verloren hat und deren Vertreter im Kriegsgebiet oft | |
genug nur unter den massiven Einschränkungen des Personenschutzes ihrer | |
Arbeit nachgehen können – diese magistratura, die stolz auf ihre | |
Selbstverwaltung ist, hat seit den Hochzeiten Berlusconis ein Problem. | |
## Staatsanwälte als Stars | |
Da die linke Opposition sich komplett abmeldete oder, wenn doch an der | |
Regierung, komplett versagte, wurde die Staatsanwaltschaft mit ihren | |
Ermittlungen gegen den „Cavaliere“ zum Heilsbringer ausgerufen – und die | |
Staatsanwälte selbst mutierten zu Stars: „Die Parteinahme, die Dauerpräsenz | |
mancher Staatsanwälte in den Medien und ihre Versuche, Karriere in der | |
Politik zu machen – dieses ganze Spektakel muss aufhören.“ So drastisch | |
beschrieb Francesco Forgione, Autor zahlreicher Bücher über die | |
organisierte Kriminalität und ehemaliger Präsident der | |
Anti-Mafia-Kommission des italienischen Parlaments, die Lage im | |
[12][Interview] mit der taz. | |
Tatsächlich kann man in Italien kein Gespräch mehr über die Rolle und die | |
demokratische Kontrolle des Justizapparates führen, ohne dass als Erstes | |
ritualisiert der Satz fiele: „Wir haben volles Vertrauen in die | |
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.“ Wer denen aber erst mal ausgesetzt | |
ist – und das sind in den letzten Jahren verstärkt Menschen aus der | |
Anti-Mafia-Bewegung –, dessen Ruf ist auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte | |
ruiniert: Italien nimmt den 157. von 183 vergebenen Plätzen in der | |
Rangfolge der Länder mit dem ineffektivsten Justizsystem ein. | |
Viele mutige Leute haben inzwischen Angst vor einer Institution, die auf | |
ihrer Seite stehen sollte. Aktivisten sehen sich als Spielball in den | |
Karrierekämpfen ehrgeiziger Staatsanwälte. Der politische Diskurs in | |
Italien über die Mafia hingegen, in dem Repression eben nur einen Teil, | |
neben einer konkreten gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen | |
Agenda für Kalabrien und die anderen Mafia-Regionen, darstellt, ist tot. | |
Die existierenden Mafiosi werden in Italien konsequent verfolgt. Aber das | |
Umfeld, aus dem die zukünftigen Mafiosi erwachsen, bleibt unverändert | |
desolat und hoffnungslos. Die ’Ndrangheta ist mit der bisherigen | |
obrigkeitsstaatlichen Strategie weder in ihrer Herkunftsregion geschwächt | |
worden noch konnte ihre weltweite Ausbreitung gestoppt werden. | |
Diesen Diskurs auf Deutsch zu führen, ist natürlich nur bedingt sinnvoll. | |
Ohne ihn fehlt dem Kampf gegen die ’Ndrangheta hierzulande aber die | |
Grundlage. Und um nicht missverstanden zu werden: Wenn wir ihn | |
[13][verlieren] – und danach sieht es aus –, dann leben auch wir hier bald | |
in der grauen Zone. | |
15 Aug 2017 | |
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[1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5364216 | |
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[8] http://www.barbara-lochbihler.de/fileadmin/user_upload/pdf/2017/BL_Menschen… | |
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## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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