# taz.de -- Autorin über ihre Traumatisierung: „Erinnerungen überfluteten m… | |
> Anja Röhl wurde als Kind „von der Kasse verschickt“, wie es in den | |
> 1960ern hieß. Nun streitet sie mit anderen Betroffenen für eine | |
> Aufarbeitung. | |
Bild: Wurde kurz vor ihrem 6. Geburtstag nach Wyk auf Föhr verschickt: Anja R�… | |
taz: Frau Röhl, wie kam es dazu, dass Sie sich an Ihren Aufenthalt in einem | |
Verschickungsheim erinnerten? | |
Anja Röhl: Ich arbeite als Dozentin für Sozialpädagogik. Eines Tages sagte | |
eine junge Schülerin, sie wolle nie in einer Kita arbeiten. Denn sie habe | |
als Kind Schlimmes erlebt. Ihr wurden beim Mittagsschlaf die Augen | |
zugeklebt. | |
Von der Erzieherin? | |
Ja. Ich war erschüttert, dass es diese Methoden noch gibt. Auch mir war das | |
passiert: Mir wurde als Kind der Mund mit einem Pflaster zugeklebt. Auf der | |
Rückfahrt im Auto musste ich weinen. Die Erinnerungen überfluteten mich. | |
Ich schrieb dann einen literarischen Beitrag über meinen Aufenthalt in Wyk | |
auf Föhr, den ich auf meine Homepage stellte. Das war 2009. Mit den Jahren | |
gab es dazu immer mehr Zuschriften. So organisierte ich schließlich den | |
Kongress im vergangenen November auf Sylt. | |
Wann war Ihre Verschickung? | |
Kurz vor meinem 6. Geburtstag. Ich kam nach Wyk auf der Insel Föhr ins | |
Hamburger Kinderheim. | |
Woran erinnern Sie sich? | |
Ich stand mit Schild um den Hals an einem Bahnhof. Wir saßen in einem Zug. | |
Hunderte von Kindern. Keine Betreuerin. Das Brot, dass wir mit hatten, | |
durften wir nicht essen. Wir kriegten dann was ausgeteilt. Das mochte ich | |
nicht. | |
Was gab es denn? | |
Erinnere ich nicht mehr. Nur, dass da ab und zu eine reinkam und meckerte. | |
Und dann einen Schlafsaal. Ich sah, dass Erzieherinnen aus der Zimmerecke | |
kommen. Ich sehe die Lichtverhältnisse, wie die Betten standen, wie die | |
Tanten aussahen. Das ist alles fotografisch da. | |
Was taten die Frauen? | |
Gingen von Bett zu Bett, nahmen die Hände der Kinder und guckten da was. | |
Und ab und zu nahmen sie die Hände, steckten sie in Handschuhe, die keine | |
Finger hatten, und banden die unterm Bett fest. Also sie fesselten die | |
Kinder, wie im Film „Das weiße Band“. Das ging ganz schnell. Ich kriegte | |
Angst, weil ich noch am Daumen nuckelte. Dann stellte ich mich tot, indem | |
ich die Augen zumachte. Später machte ich sie auf und merkte, dass die | |
Tante an mir vorbeigegangen war. Ich lag die ganze Nacht in starrer Angst. | |
Gab es Druck beim Essen? | |
Meine Nachbarinnen beim Essen weinten. Sie hatten sich übergeben und wurden | |
traktiert, dass sie weiter essen sollen. | |
Erinnern Sie weitere Sprengsel? | |
Wie wir nackt im Treppenhaus in Reihen standen oder hoch liefen. Man sah | |
hinten das nächste Treppenhaus, da liefen die Jungs, auch nackt. Ich | |
schämte mich und die Tanten lachten darüber. Oben unter dem Dach gab es | |
Höhensonne für uns. Dass wir mal draußen waren erinnere ich nicht. Es gab | |
eine Szene, wo wir ein Foto machten am Strand. Das war für die Eltern. | |
Erzählten Sie Ihren Eltern davon? | |
In Andeutungen. Ich weiß aber, dass ich zurückkam und irgendwas von | |
„Folterheim“ sagte. Und als ich 1963 noch mal verschickt werden sollte, | |
wehrte ich mich mit Händen und Füßen. Meine Eltern sagten: „Du schreibst | |
uns einfach, wenn es da nicht gut ist.“ Ich sagte: „Die lassen einen da | |
nicht schreiben.“ Das muss ich von Wyk gewusst haben. | |
Durften Sie schreiben? | |
Nein. Man wies mir dort von Anfang an eine merkwürdige Rolle zu. Das war | |
häufig so und passierte auch anderen. | |
Und zwar? | |
Am ersten Tag übergab ich mich am Tisch. Daraufhin haute mir Tante | |
Anneliese eine Ohrfeige und schrie: „So etwas gehört ja zu den | |
Zweijährigen.“ Da hatte ich so eine Angst, dass ich zu den Zweijährigen | |
muss. Ich musste aufwischen und ohne Essen ins Bett. Als ich da im | |
Schlafsaal alleine lag, vergaß ich, dass ich Eltern hatte. Ich bestand nur | |
noch aus Angst. Auch bei hellem Tag waren wir ständig drin. Beim | |
Mittagsschlaf durfte ich mir als einzige kein Buch holen, weil ich mich ja | |
wie ein Baby verhalten hätte. | |
Das Piesacken hatte Methode? | |
Ich vermute ja. Die Kinderverschickung ist noch nicht erforscht, wir haben | |
deshalb einen kleinen Forschungsverein gegründet. Wir haben bei uns mehrere | |
Professoren mit Doppelexpertise. | |
Die auch betroffen sind? | |
Ja. Wir haben sogar schon einen Fragebogen entwickelt, den haben in 14 | |
Tagen über 1.000 Leute ausgefüllt. Es muss viele Betroffene geben. Ich bin | |
Jahrgang 1955, da wurde in Hamburg jeder verschickt. In dem zweiten Heim | |
passierten schlimme Sachen. Wer schwatzte, wurde auf einen Stuhl mit einer | |
Decke rausgesetzt und saß die ganze Nacht im Kalten. | |
Wo lag dieses Heim? | |
Im Teutoburger Wald, Bad Rotenfelde. Als ich bei der Abfahrt aus dem Bus | |
guckte, wollte ich diese Tante Anneliese bei der Polizei anzeigen. Deswegen | |
prägte ich mir dieses Haus ein. | |
Erzählten Sie das den Eltern? | |
Die hatten eigene Sorgen. Beide Eltern holten mich am Bahnhof ab. Meinem | |
Vater entschlüpfte: „Du siehst ja ganz grün aus im Gesicht.“ Da dachte ic… | |
„Mein Gott, er sieht es.“ Aber mehr redeten wir darüber nicht. | |
Erwachsene gaben früher Kinder oft irgendwo ab. | |
Stimmt, das war üblich. Diese Generation meiner Eltern hat das selber | |
erlebt. Die Methode der NS-Erziehung war, Kinder früh aus der | |
Eltern-Bindung zu lösen. Diese bindungsfreien Kapazitäten lenkten sie dann | |
auf Hitler. Mein Vater war ab zehn fast nur noch in | |
Wehrertüchtigungslagern, meine Mutter war bei den Jungmädeln. Die waren oft | |
von ihren Eltern weg. Auch ich wurde als Kind viel allein gelassen. Ich war | |
gewohnt, mit mir selber zu diskutieren. Hab gedacht, hier stimmt was nicht, | |
das muss man anzeigen. Aber die meiste Zeit war ich in Angst. Davon habe | |
ich immer noch Albträume. | |
Was für Träume? | |
Ich hetze durch Häuser und verirre mich. In letzter Zeit träume ich anders. | |
Ich werde nicht mehr gejagt, sondern tue mich mit andern zusammen. | |
Erinnern Sie sich an mehr Erzieher? | |
Eine Praktikantin war nett. Sie las mir eine Karte meiner Mutter vor, die | |
ich nicht entziffern konnte. Meine Eltern hatten mir gesagt, ich soll | |
schreiben, die Wolken sind schlecht, wenn es da schlecht und gut, wenn es | |
gut sei. Meine Mutter schrieb: „Sind die Wolken da auch gut?“ Ich hatte | |
diese Abmachung vergessen. | |
Wie schade. | |
Man vergisst dort. Ich war paralysiert durch die ständige Angst vor Tante | |
Anneliese. | |
Waren das dort Pädagogen? | |
Eher Schwestern, Kinderpflegerinnen und Unausgebildete. Die Verschickungen | |
wurden von den Kassen verordnet. Ein Kurarzt war der Leiter. Es war erst 16 | |
Jahre nach Kriegsende. Wenn wir Namen haben, werde ich im Bundesarchiv | |
nachfragen, ob es zu der Person eine SA-, SS- oder Parteiakte gibt. Mich | |
interessiert, ob diese Kinderheime gezielt genutzt wurden, um | |
KZ-Wächterinnen zu beschäftigen. Dafür spricht die Ähnlichkeit der Vorfälle | |
und der sadistischen Ausführungen. | |
Wann reflektierten Sie diese Methoden? | |
Wir Kinder diskutierten das schon in der Schule. Allen war klar: Verschickt | |
zu werden, verhieß nichts Gutes. Wenn wir zurückkamen, erschien uns jedes | |
Elternhaus als Paradies. Aber als ich dann als Dozentin erlebte, dass | |
manche heute noch so sind, hat mich das wütend gemacht, sodass ich 2009 | |
diesen Text schrieb. | |
Sie waren 2009 auf Föhr? | |
Die Insel ist bedrückend. Ich mag die Nordseeinseln, aber Wyk war für mich | |
Horror. Und dann sah ich das Hamburger Kinderheim von außen an. Dieses | |
martialische Gebäude. Ich fahre nie wieder dorthin, außer wenn wir im | |
Rahmen der Recherchen das Heim von Innen angucken. Als ich die Idee zum | |
Kongress hatte, schrieb ich übrigens alle Inselbürgermeister an, ob sie uns | |
einen Raum stellen. Daraufhin meldete sich nur Sylt. | |
Wie viele kamen zum Kongress? | |
80 Leute. Es gab sehr gute Referenten. Es wurde nicht gejammert, sondern | |
konstruktiv gearbeitet. Wir haben schon 24 Heimortgruppen. Wir fordern nun | |
eine bundesweite Beratungs- und Vernetzungsstelle und Geld für die | |
Forschung. | |
Wie viele Kassenheime gab es? | |
Laut einer alten Drucksache 839 mit einer Bettenkapazität von 56.000 | |
Betten, die wurden alle sieben Wochen neu belegt. Es betrifft also | |
Millionen Kinder. | |
Welches war sehr schlimm? | |
Seehospitz Norderney. Dann Salzdetfurth, wo es drei Todesfälle gab, Borkum, | |
Adolphinenheim, auch ganz schlimme Berichte. Und in Wyk waren allein 18 | |
oder 20 Kinderheime. Ich lese einen Bericht und denke, der ist ja noch | |
schlimmer als alle anderen. Und es ist wieder ein Heim, das ich nicht | |
kenne. Also die Methoden sind überall dieselben. | |
Und zwar? | |
Füttern bis zum Erbrechen. Dann das wieder unterrühren, noch mal einführen, | |
die Kinder zum Teil festgebunden am Stuhl. Die Methode Schlafentzug. Also | |
bei quatschen draußen hinsetzen oder mit nackten Füßen im Flur stehen oder | |
als Steigerung: im Waschraum schlafen mit dem Bett. Für Kinder besonders | |
grausam. | |
Warum? | |
Kinder reagieren darauf, wie grausam die Erwachsenen sich verhalten. Wenn | |
die mit drohendem Ton sagen, „Dann kommt ihr in den Waschraum!“, dann | |
erscheint es auch als das Schlimmste. Ich las aber später, dass in der | |
NS-Zeit nach Ende der offiziellen Euthanasie-Aktion in Einrichtungen für | |
Kinder die wilde Euthanasie so praktiziert wurde. Verstießen die Kinder am | |
Abend gegen die Disziplin, schob man sie mit Bett in den Waschraum. Und | |
dort bekamen sie am nächsten Morgen die Spritze. Ob das noch durchschien | |
und wir deswegen so viel Angst hatten, das weiß ich nicht. | |
Eine grausame Vorstellung. | |
Und einer der schlimmsten Gutachter der „T4-Behörde“, die die Euthanasie | |
organisierte, machte nach 1945 an der Uniklinik in Kiel Karriere. Er | |
verantwortete Medikamentenversuche in den 1960er-Jahren in | |
Kinderkurkliniken. | |
Welche Hinweise gibt es dafür? | |
Er hat dazu publiziert. Das hat eine Referentin auf dem Kongress belegt. | |
Die Kurkliniken schienen besonders geeignet. Die Eltern waren nicht da. Die | |
Kinder kriegten sowieso Medikamente, da fiel das nicht auf. Auch das müssen | |
wir erforschen. | |
Leben einige Betreuer noch? | |
Es lebt unter Umständen die Generation, die damals ganz jung war. Außerdem | |
haben wir Berichte von Kindern, die noch in den 1990ern verschickt wurden. | |
Da leben noch Betreuer. Der Geist, dass man die Kinder als Feinde sieht, | |
ist erstaunlich virulent. | |
Wie erklären Sie das? | |
Für institutionelle Gewalt gibt es viele Ursachen-Stränge. Es gab auf 30 | |
Kinder vielleicht eine Person. Also, wenn die Dreijährigen da ankamen und | |
als erstes einkoteten, einnässten, weinten, erbrachen, dann war das | |
Personal überfordert. Aber die Sadismen kann man damit nicht erklären. | |
Sondern? Mit der NS-Zeit? | |
Vielleicht? Muss erforscht werden. Wenn man einer Gesellschaft angehört | |
hat, die niederging, und es wächst nun eine neue Generation heran, die es | |
besser hat, dann führt das zu einer Eifersucht auf die Kinder. Ein Teil des | |
Ursachengemisches, der diesen Sadismus speist. | |
Gab es auch wohlwollende Motive für die Verschickungen? Gesunde Luft? | |
Ja, klar. Dass die schöne Seeluft die Keime beseitigt und so weiter. Aber | |
was völlig unklar ist: Warum der Massenboom Anfang der 1960er? Aus der Zeit | |
habe ich die meisten Zuschriften. Die Kinder waren nicht alle krank. Zu | |
dünn, zu dick, bisschen blass, blutarm, die abenteuerlichsten Diagnosen. | |
Wir vermuten, dass es Prämien gab. Und 57 Prozent der Heime waren 1963 in | |
privater Trägerschaft. Das ist ein Hinweis auf hohe Gewinnspannen. | |
Was ist jetzt Ihr Ziel? | |
Die Anerkennung des Leids und die Unterstützung der Aufarbeitung. | |
13 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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