# taz.de -- Der Hausbesuch: Das Exil immer dabei | |
> Jihan El-Tahri war Nahost-Korrespondentin, Kriegsfotografin und | |
> Dokumentarfilmerin. Jetzt ist sie in Berlin angekommen – beinahe. | |
Bild: Sie sei ein „wandelndes Pulverfass in einem festen Beruf“, sagt Jihan… | |
Sie sieht sich als Brückenbauerin zwischen zwei Welten und zwei | |
Identitäten. Zu Besuch bei Jihan El-Tahri. | |
Draußen: Es ist ruhig abseits der Hauptstraßen um die Eisenacher Straße im | |
Stadtteil Berlin-Schöneberg. Gesichtslose Neubau-Wohnhäuser reihen sich an | |
Wohnblöcke, selbst der Supermarkt an der Ecke trägt keinen Markennamen, er | |
heißt „Supermarkt“. Auch Jihan El-Tahris Klingel trägt keinen Namen, | |
zumindest nicht ihren, denn sie wohnt hier nur übergangsweise. | |
Drinnen: Im Wohnungsflur liegt ein roter Teppich, auf einem Sessel im | |
Wohnzimmer eine reich verzierte blaue Decke aus dem Senegal. Sie sind | |
El-Tahris einzige persönliche Einrichtungsgegenstände in der Wohnung. Sie | |
nutzt die Räume hauptsächlich zum Schlafen und Arbeiten. Wenn es die | |
Temperaturen zulassen, sitzt sie auf dem Balkon in der Sonne, vor ihr der | |
Laptop, links ein Glas Orangensaft, rechts eine Zigarettenschachtel rote | |
Gauloises. | |
Ein neues Kapitel: Seit beinahe einem Jahr hat El-Tahri den ersten festen | |
Job ihres Lebens. Sie arbeitet jetzt bei [1][Dox Box], einer NGO, die junge | |
afrikanische und arabische Filmschaffende fördert. „Ich habe gefragt, ob | |
sie sicher sind, dass sie eine 55-jährige Frau anstellen wollen, die noch | |
nie einen Job hatte“, sagt El-Tahri und lacht. „Ich bin doch ein wandelndes | |
Pulverfass in einem festen Beruf.“ Aber sie glaubt an das Projekt und vor | |
allem stehe die Organisation, genau wie sie selbst, mit einem Bein im Nahen | |
Osten und in Afrika und mit dem anderen in Europa. | |
Berlin: Hier sei es wichtiger, Neues zu schaffen, als Altes vorzuzeigen. | |
„Ich liebe die Stadt. Du kannst alles sein, was du willst, und trotzdem ist | |
es nicht so unpersönlich wie beispielsweise New York“, sagt El-Tahri und | |
zündet sich eine Zigarette an. Vor allem schreibe einem hier kaum jemand | |
etwas vor. [2][Das merke sie bei der Sprache]. In Berlin habe ihr noch | |
niemand aufdrängen wollen, Deutsch zu lernen. Dadurch sei von selbst der | |
Wunsch entstanden, es zu tun. „Die Menschen hier nehmen mich an, also | |
sollte ich auch sie annehmen.“ | |
Kindheit unterwegs: Als Kind eines ägyptischen Diplomaten kam El-Tahri in | |
Beirut zur Welt und wuchs in Panama, Finnland, England und Tunesien auf. | |
„Ich kam unterwegs auf die Welt und das Problem ist, dass ich nie | |
angehalten habe“, sagt sie. Ägypten sah sie zum ersten Mal mit 13 Jahren. | |
Ironie der Geschichte: Nach dem Politikstudium in Kairo wollte El-Tahri | |
Akademikerin werden, sie hatte bereits ein Stipendium für Oxford. Dann | |
entschied ihr Vater, seine Tochter solle als Frau nicht alleine im Ausland | |
leben. El-Tahri folgte stattdessen ihrer anderen Leidenschaft, der | |
Fotografie, und heuerte bei der Presseagentur Reuters an. Indem er sie dazu | |
bringen wollte, bei der Familie zu bleiben, hatte ihr Vater unabsichtlich | |
den Grundstein für ihr ständiges Weiterziehen gelegt. | |
Kriegsfotografin: Einer ihrer ersten Jobs war die Berichterstattung aus dem | |
libanesischen Bürgerkrieg. Es war ein rauer Start für El-Tahri, aber auch | |
eine gute Schule. Sie wurde Nordafrika-Korrespondentin für die | |
[3][Washington Post] und begann, in ganz Nordafrika und im Nahen Osten zu | |
arbeiten. | |
Die Macht der Bilder: Es war während des Golfkrieges 1990, als El-Tahri zu | |
dem Schluss kam, dass bewegte Bilder mächtiger sind als geschriebene Texte | |
und Radiobeiträge. Mehr als alles andere prägten die Fernsehbeiträge der | |
KollegInnen die Nachrichten. Nachrichten, die unter Zeitdruck zwangsläufig | |
oft ungenau waren. El-Tahri entschied: „Ich wollte da nicht mehr | |
mitmachen.“ Sie begann, Dokumentarfilme zu drehen. „Da hatte ich Zeit und | |
die Möglichkeit, tiefer zu gehen und trotzdem mit bewegten Bildern Menschen | |
zu erreichen.“ | |
Familie: 15 Jahre lang gab es einen Ehemann in El-Tahris Leben, jetzt sind | |
sie geschieden. Ihre zwei Töchter wohnen gerade in England und Frankreich. | |
Deshalb brauche sie immer zwei Schlafzimmer, sagt sie und deutet über den | |
Flur auf zwei Zimmertüren: eines für sie, eines für ihre Töchter. | |
Zu Hause: El-Tahri überlegt lange. Zuhause, das sei Ägypten, dessen Pass | |
sie habe und wo sie sieben Jahre gelebt hat. Aber selbst dort fragten die | |
Leute, wo sie herkommt. „Das Konzept Exil ist mir immer sehr bewusst, auch | |
wenn ich mich nie als Exilantin betrachte.“ Das Exil sei ein Ort in sich, | |
den man dabei habe. „Ich glaube, ich trage mein Zuhause immer in mir.“ | |
Weltbürgerin: Sie lebte in über 30 Ländern, spricht sieben Sprachen und | |
kann sich überall einfügen. „Das Konzept der Weltbürgerin war für mich | |
nicht nur ein Klischee“, sagt El-Tahri. Ihr kam nie ein anderer Gedanke – | |
bis zum 11. September 2001. Plötzlich musste jeder klassifizierbar sein, | |
Muslim oder Christ, arabisch oder nicht? Sie lehnt diese Idee der | |
Zugehörigkeit ab. „Ich gehöre voll und ganz dazu, wo auch immer ich mich im | |
Moment befinde.“ | |
„Wir“ und „ihr“: Wenn El-Tahri von Europa und Afrika spricht, springt s… | |
zwischen Identitäten. Sie sagt „wir“ und „ihr“. „Wir“, weil sie si… | |
Teil des globalen Südens sieht, und doch gehört sie gleichzeitig ebenso zum | |
„ihr“, zu Europa. „Ich werde aber nie ganz ein Teil des ‚ihr‘ sein, w… | |
ich hier nie so gesehen werde“, sagt sie. In Ägypten hingegen fühle sie | |
sich zwar zugehörig, dafür könne sie dort nicht frei sprechen und arbeiten. | |
Zwei Seiten: Im Laptop sucht sie dazu eine Zeile des palästinensischen | |
Dichters Mahmud Darwisch über die Göttin Anat, gleichzeitig zuständig für | |
Krieg und Liebe: „Zwei Frauen, unversöhnlich, die eine bringt Wasser zu den | |
Quellen, die andere treibt Feuer in die Wälder.“ So sehe sie auch sich | |
selbst. „Es sind zwei getrennte Teile, aber beide sind ich“, sagt sie. Wie | |
ein Symbol dafür habe sie bei einem Spaziergang zwei alte Stempel gefunden, | |
die zwei Frauen von hinten zeigten. Die wolle sie jetzt für ein | |
Kunstprojekt verwenden. | |
Eine Brücke: Ihre Aufgabe sieht El-Tahri darin, eine Brücke zu sein | |
zwischen Afrika, dem Nahen Osten und Europa, zwischen dem „Wir“ und dem | |
„Ihr“. Es gehe darum, im globalen Zusammenleben die Perspektive des | |
globalen Südens zu hören, eine gemeinsame Sprache zu finden. „In der | |
Vergangenheit hat der Norden dem Süden immer wieder erzählt, was wir sind | |
oder zu sein haben“, sagt El-Tahri. „Wir sehen uns darin aber nicht.“ Sie | |
spreche die Sprache des Nordens und könne dadurch der Perspektive des | |
Südens Gehör verschaffen. | |
Der Bruch: El-Tahris Filme haben oft einen ähnlichen Kern. Ob im Südafrika | |
nach Nelson Mandela, in Kuba oder in Ägypten. Immer steht der Moment im | |
Mittelpunkt, an dem ein Bruch stattfindet, an dem Visionen von Freiheit und | |
Unabhängigkeit zusammenbrechen oder sich ins Gegenteil verkehren. „Es ist | |
ein Versuch, festzuhalten, wie alles schiefging“, erklärt sie. „Weil es | |
nicht schiefgehen sollte. Weil am Anfang immer die Vision einer | |
wundervollen Welt stand.“ | |
Ankommen: Eines Tages würde sie gerne einen Ort zum Ankommen finden. Wo, | |
weiß sie nicht. Nur dass viel Platz für all ihre Bücher, Bilder und | |
Schallplatten da sein müsste, die gerade auf mehreren Kontinenten verstreut | |
sind, von Jordanien bis Johannesburg. „Aber das wäre auch ein Wunsch nach | |
Stabilität – und noch habe ich überhaupt kein Verlangen danach.“ | |
9 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://dox-box.org/ | |
[2] /Kosmopolitisches-Berlin/!5436976 | |
[3] https://www.washingtonpost.com/gdpr-consent/?destination=%2f%3f | |
## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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