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# taz.de -- Der Hausbesuch: Freunde eben
> Chemnitz hat einen schlechten Ruf. Eine WG zeichnet ein anderes Bild: Ali
> Hassan aus Syrien und Felix Krieglstein aus dem Erzgebirge wohnen dort.
Bild: Sie kochen, lachen, weinen zusammen: Ali Hassan (links) und Felix Kriegls…
Klingelschilder sind eine interessante Sache, Name an Name, manchmal
hingekritzelt, etwas dazugeklebt, überschrieben oder in feinster
Hausverwaltungsordnung säuberlich ausgedruckt. Klingelschilder lassen
erahnen, wer hier zu Hause ist und wie hier gelebt wird, sie verraten viel
über ein Haus. Und manchmal verraten sie uns auch etwas über eine ganze
Stadt.
Draußen: Nicht zu akkurat, nicht zu schludrig steht auf dem Klingelschild
„Hassan“ und daneben, ohne Strich getrennt, „Krieglstein“. Das Haus, ein
schnörkelloser Altbau, steht im studentischen Chemnitzer Stadtteil
Bernsdorf. Im Erdgeschoss ein Lieferservice: „Homies“, Freunde, steht auf
dem Firmenlogo am Fenster.
Drinnen: In der Wohnküche eine Pinnwand, an der hängen Bilder von
durchfeierten Nächten, Leuchtarmbänder aus der Discothek und eine
Weihnachtspostkarte, auf der Ali und Felix als Nikolaus verkleidet in die
Kamera grinsen. Die Wohnung ist aufgeräumt. In jedem der Zimmer ist das
Bett gemacht.
Unterschiedlich: Ali Hassan ist 27 Jahre alt, in Syrien geboren und wohnt
seit etwas mehr als zwei Jahren in Chemnitz. Seine Familie lebt noch immer
in Syrien, in Aleppo, 3.472 Kilometer entfernt. Ali hat sie seit seiner
Flucht vor fünf Jahren nicht mehr gesehen. Felix Krieglstein ist 22 Jahre
alt, in Deutschland geboren und wohnt seit drei Jahren in Chemnitz. Seine
Familie lebt in Gornsdorf, einem 2.000-Seelen-Dorf im Erzgebirge, wo Kühe
auf Weiden grasen. 18 Kilometer entfernt. Felix braucht eine halbe Stunde
mit dem Zug dorthin.
Gleich: Was klingt wie ein Gegensatz, der größer nicht sein könnte, hört
sich, sobald man die Wohnung betritt, so an: „Mist, sauschwer war das,
oder? Ich habe richtig verkackt“, sagt Ali. „Was hast du bei Aufgabe drei
geschrieben, die fand ich hart“, fragt Felix. Worum es hier geht?
Mensch-Computer-Interaktion 2. Die Klausur von heute Vormittag, die letzte
vor der Bachelorarbeit. Die beiden jungen Männer studieren gemeinsam
Medienkommunikation an der Universität Chemnitz, fünftes Semester.
WG-Talk: In der Wohnküche unterhalten sich die beiden über die Klausur und
darüber, auf welche Party sie heute Abend gehen wollen. Felix löffelt
Himbeereis, Ali kippelt mit dem Stuhl. Seit zwei Jahren wohnen die beiden
hier, sie kannten sich aus der Uni, zogen zusammen, wurden Freunde. Beide
mögen Chemnitz, beide leben gerne in der Stadt.
Erinnerungen: Die [1][rechten Ausschreitungen vor einem Jahr] haben Ali und
Felix live erlebt. „Das war krass“, sagt Ali, „aber trotzdem hat es mein
Gefühl zu der Stadt nicht verändert.“ Felix sah bei den Aufmärschen
Menschen mitlaufen, die er kannte. „Das hat mich ehrlich erschüttert“, sagt
er. Danach säuberte er erst mal seine Facebook-Freundesliste. Die jungen
Männer glauben, dass gegenseitiges Kennenlernen der Schlüssel zu allem ist.
„Die Menschen müssen sich begegnen, erst dann verstehen sie, dass sie mehr
verbindet, als sie trennt“, sagt Ali
Pauschalisierung: Im Alltag erlebt Ali immer wieder Dinge, von denen er
nicht weiß, ob er sie Rassismus nennen will, aber weiß, dass sie ihm in
anderen Städten auch passiert sind. Die Oma auf der Straße, die im
Vorbeigehen zischt „verpiss dich dahin, wo du herkommst“. Die komischen
Blicke von Passanten, wenn er mit seiner Freundin Becci shoppen ist. „Daran
bin ich gewöhnt“, sagt er. Die meisten solcher Vorfälle verletzten ihn
nicht mehr. Die Menschen hätten Angst und er verstehe sie, er sei für diese
Leute Projektionsfläche, sagt er. Gleichzeitig hasst Ali Pauschalisierung.
Von allen Seiten. „Weder sind alle Flüchtlinge gefährlich, noch alle
Chemnitzer rechts“, sagt er. Das sei wichtig zu verstehen.
Genug: Nur einmal sei er ausgeflippt. Auf einer Uniparty lernte er einen
Kommilitonen kennen. Am Tag darauf bekam er von ihm eine Nachricht auf
Facebook: „Verkaufst du Gras?“ stand darin. Da wurde Ali wütend. „Das war
der dritte Kerl in einem Monat, der mich das gefragt hat. Nur weil ich
Araber bin, bin ich doch nicht automatisch ein Drogendealer“, sagt Ali. Der
Typ bekam eine wütende Antwort. Wenn Ali ihn heute sieht, ist es dem
anderen immer noch peinlich.
Scham: Felix schüttelt bei Alis Erzählungen den Kopf. Es berührt ihn, was
sein Freund da sagt; die Anfeindungen, die er erlebt, machen ihn wütend.
Als die beiden neulich gemeinsam feiern gehen wollten, wurde Ali vom
Türsteher abgewiesen. Die beiden Jungs sagen, der Grund sei seine Hautfarbe
gewesen. Ali ärgerte sich nur kurz, Felix konnte danach nicht schlafen und
schrieb im Bett eine wütende Mail an den Clubbetreiber. „Ich habe mich
geschämt, obwohl ich nichts dafür konnte“, sagt Felix.
Das andere Chemnitz: Dabei ist das nur ein Teil dessen, was Chemnitz
ausmacht, sagen die jungen Männer. Die Menschen seien freundlich, offen,
zugewandt. Für viele sei es überhaupt kein Thema, dass Ali eben Ali ist.
Dann ist alles, wie es sein sollte: selbstverständlich.
Alltag: Die Uni, die Freunde, die WG. Ali unterscheidet seine private Welt
von der auf der Straße. Auch wenn ihre Biografie, Herkunft, Familie
verschieden sind, wissen Felix und Ali auch, wie viel sie verbindet. Wie
gleich sie sind. Egal was andere denken. Sie hören dieselbe Musik, gehen
zusammen ins „Fitti“ zum Sportmachen, kochen, lachen, weinen miteinander
oder trösten und beschützen einander. Ali tröstet Felix bei Liebeskummer.
Felix Ali bei einer verkackten Klausur.
Der Erste: Für Ali ist es das erste Mal, dass er mit einem Deutschen
zusammenwohnt. „Felix war mein erster Deutscher“, sagt Ali und grinst. „U…
Ali mein erster Syrer“, sagt Felix. Was sie voneinander gelernt haben:
„Wenn man etwas wirklich will, kann man alles erreichen – das hat Ali mir
beigebracht“, sagt Felix. „Ordnung“, sagt Ali und boxt Felix lachend gegen
die Schulter.
Zukunft: Ali will bald weiterziehen. Seine Freundin geht im Herbst nach
Bremen, auch er hat Lust auf etwas Neues. „Ich mag es, neu anzukommen,
Menschen und Orte kennenzulernen“, sagt Ali. „Das Gefühl von Heimat ist f�…
mich seit meiner Flucht aus Syrien vorbei“, sagt er. Neues kennenlernen,
sich frei bewegen – das ist es, was ihn heute glücklich macht. Felix
hingegen will noch ein bisschen bleiben in Chemnitz und an der Uni. Bis
sich ihre Wege trennen, wollen die beiden aber noch einiges zusammen
erleben, im Hier und Jetzt, in ihrer Stadt.
Das Leben feiern: Ali und Felix lieben den Chemnitzer Rapper Trettmann.
Wenn im Club sein Song [2][„Knöcheltief“] kommt, dann sucht der eine den
anderen, holt ihn vom Klo oder zieht ihn von einem Mädchen weg. Manche
Lieder kann man eben nur zu zweit feiern. Das klingt dann so: „Ahne dieses
Leben, hombre, beste Zeit. Hier und jetzt hoffen wir, dass es so bleibt.“
7 Dec 2019
## LINKS
[1] /Ein-Jahr-Chemnitzer-Ausschreitungen/!5625339
[2] https://www.youtube.com/watch?v=c4xvNpAlsws
## AUTOREN
Sara Tomšić
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