# taz.de -- Der Hausbesuch: Vollstens zufrieden | |
> Bariş Cengiz liebt Asphalt, Beton, Licht und Lärm. Also lebt der | |
> gebürtige Istanbuler nun in Berlin und legt auf. Manchmal sogar im | |
> Kindergarten. | |
Bild: Draußen: Baris Cengiz im Bergmannkiez, Berlin | |
Wer sagt, dass DJs nur für die partyaffine Generation auflegen? Bariş | |
Cengiz, 40, ist auf der Suche nach neuen Zielgruppen, denen Musik Freude | |
macht und so etwas wie Freiheit gibt. | |
Draußen: Kein Spätkauf, kein Kiosk, kein Dönerladen, keine Kneipe ist in | |
der Straße. Das ist untypisch für Berlin. Nichts gibt es hier, nur Autos | |
auf den Straßen und traumhafte Aussichten auf gepflegte Altbauwohnungen mit | |
großen Balkonen und Terrassen. In den Seitenstraßen im Kreuzberger | |
Bergmannkiez ist ein Hauch Barcelona, ein Hauch Paris. | |
Drinnen: Die Sonne flutet die Wohnung. Wie in einer Lounge sieht es aus, | |
zum Entspannen lädt leiser Elektrosound ein. Durch das kleine Wohnzimmer | |
geht es ins Schlafzimmer mit Balkon. Im Sommer wachsen hier Wassermelonen | |
im Topf. | |
Markthalle: Unweit der Wohnung ist die [1][Marheineke-Markthalle]. Früher | |
ein Ort für viele Menschen, jetzt einer für Hipster und | |
Berlinbesucher*innen. „Eine normale Familie kann nicht mehr in der | |
Markthalle einkaufen. Zu teuer, zu touristisch und es schmeckt nicht | |
einmal“, sagt Bariş. „Ich esse lieber zu Hause.“ | |
Alles ist Zutat: Vom Leckersten gibt es in der Küche von Bariş Cengiz alles | |
zweimal. Das ist sein Küchencredo. Zwei verschiedene Arten [2][Olivenöl] – | |
für Salate und Kaltspeisen und zum Braten. Zwei Gläser mit Honig – Kastanie | |
und Akazie. Haferflocken – grob und fein. Getrocknetes Basilikum – grün und | |
rot. Und eine Menge Trockenfrüchte. Maulbeeren und Feigen – von Natur aus | |
süße oder leicht saure, manche hellrosa, andere rötlich braun. Und weil | |
alles Zutat ist, gilt das auch für die Musik: Der Mix enthält vor allem | |
Elektro- und Popmusik, gewürzt mit orientalischen Elementen. | |
Frieden: Bariş’ Eltern trennten sich, als seine Mutter im dritten Monat | |
schwanger war. Bei seiner Geburt war der Vater dann doch dabei. Auf dass | |
der neugeborene Sohn die beiden Eltern wieder vereine, gibt der Arzt in der | |
Istanbuler Klinik dem Baby den Namen Bariş. „Frieden“ heißt das auf | |
Deutsch. „Es hat geklappt“, sagt Bariş, „seither sind meine Eltern wieder | |
zusammen.“ | |
Alevitisch: Bariş ist in Istanbul in einer kurdisch-alevitischen Familie | |
groß geworden, seine Eltern kommen aus Tunceli, einer kleinen Stadt in der | |
ostanatolischen Türkei. Seine Großeltern waren Waisenkinder. „Ich vermute, | |
dass meine Großmutter sogar eine islamisierte christliche Armenierin | |
gewesen sein könnte“, sagt Bariş. Mit diesem ethnischen und kulturellen | |
Erbe ist es für ihn schwierig, sich irgendwo einzuordnen. „Alevitisch ist | |
sexy“, sagt er, obwohl seine Vorfahren umgebracht wurden, und zwar deshalb, | |
weil sie Aleviten waren. | |
Massaker in Tunceli: In den Jahren 1937 und 1938 ging die türkische | |
Regierung brutal gegen die alevitische Bevölkerung in der ostanatolischen | |
Provinz Dersim vor. Dersim wurde später in Tunceli umbenannt. Bis zu 70.000 | |
Menschen wurden umgebracht, so Schätzungen, Tausende wurden deportiert. Bis | |
heute leugnet die Türkei das Massaker in Dersim und erkennt die Aleviten | |
nicht als konfessionelle Minderheit an. Bariş will nicht mehr über die | |
Ereignisse in Tunceli reden. Weil die Menschen in Berlin nicht immer die | |
Hintergründe kennen, führe das schnell zu politischen Missverständnissen. | |
Zazaki: Die Einheimischen in Dersim empfanden sich nicht als Kurden, | |
sondern als Dersimli oder alevitische [3][Zaza], weil sie eine eigene | |
Sprache sprechen: Zazaki. Es unterscheidet sich von kurdischen Dialekten | |
und gilt als eigenständige Sprache. Bariş spricht auch Zazaki. | |
Das Verbot: Auf Zazaki hieße Bariş nicht Bariş, sondern „Sılamet“. Das … | |
das Wort für Frieden. „Den brauchen die Türkei und der Nahe Osten | |
dringend“, sagt er. Seine Muttersprache war ihm für lange Zeit verboten. | |
„Wir sollten uns nicht verraten, deswegen musste ich die Zähne | |
zusammenbeißen“, sagt er. „Mein Vater hatte viel Angst und wollte uns | |
schützen, deshalb verlangte er von uns, dass wir unsere Sprache einfach | |
vergessen.“ Bariş erzählt, wie er gebrochenes Türkisch sprach, ständig auf | |
der Hut, kein Wort auf Zazaki darunterzumischen. „Meine Sprache klang | |
lustig, komisch, undeutlich. Ich wirkte wie ein gestörtes Kind – es war | |
eine Taktik des Überlebens“, sagt er. „Wir taten so, als ob wir gläubige | |
Türken wären. Meine Mama entzündete während des Ramadan zu Hause fünf | |
Lampen, wie Sunniten beim Fasten. Ich vermisse oft diese Tricks, die für | |
mich wie ein Rollenspiel waren.“ | |
Berlin ist verrückt: In Berlin braucht er nichts zu verheimlichen. Das hat | |
Bariş vor zehn Jahren verstanden, als er aus Istanbul in die deutsche | |
Hauptstadt zog. Auch Zazaki darf er hier sprechen. „Diese Stadt toleriert | |
alle und alles“, sagt er. „Berlin ist die Stadt der Menschen mit | |
ungewöhnlichem Aussehen und verrückten Ideen. Diese Menschen brechen die | |
Stereotype und vermitteln neue Werte und Normen in der modernen | |
Gesellschaft.“ | |
Licht und Beton: „Asphalt, Beton, Licht und Lärm – das sind Lebenszeichen | |
für mich, ich fühle mich lebendig, modern, in einem ständig wechselnden | |
Rhythmus“, sagt Bariş. Ganz anders geht es ihm in der Natur: „Dort kriege | |
ich die Krise vor lauter Langeweile und Stille. Ich will sofort abhauen.“ | |
Er fühle sich der Natur ausgeliefert, weil er sie nicht kontrollieren | |
könne. Zeit vergehe in der Natur irrsinnig langsam. „Ich habe Panik, in | |
meinem Leben etwas Wichtiges zu verpassen.“ | |
Auftreten: „Ich liebe Orte, wo viel los ist. Ich brauche Menschenmassen um | |
mich. Mich ruft die Party in der Stadt“, sagt Bariş. Die Fans kennen seine | |
Musik; er legt auf in Clubs wie dem [4][SchwuZ], im Kater Blau, im SO36 und | |
bei Techno-Türken. Er pfeift und tanzt selber hinter seinem DJ-Pult, bringt | |
die Menschen auf der Tanzfläche in Bewegung. Er lächelt alle an und wedelt | |
mit seinem riesigen Fächer. Bei seinen Auftritten begleitet ihn seit | |
einigen Monaten oft ein Trompeter, der live mitspielt. „Mein neuer Style in | |
der Clubkultur“, sagt er. | |
Der neue Mix: Auch alevitische Musik mischt er in seine Sets. In seinen | |
Ohren klingt alevitische Musik sehr melancholisch, auch ein wenig mystisch. | |
Er sucht nach guten Volksliedern, die er rhythmisch und dynamisch verändert | |
und mixt, sodass man dazu tanzen kann. | |
Party: „Jeder Mensch sollte tanzen, ganz egal was sein sozialer Status | |
ist“, sagt Bariş. „Tanzen macht gesund, aber Party macht kaputt.“ Viele | |
verlören die Kontrolle durch Alkohol und Drogen. So eine Lebensweise findet | |
er falsch. Nicht aber das Tanzen, das bedeutet für ihn Freiheit. „Wenn | |
Zehntausende Menschen zusammen tanzen, zeigt das, wie frei eine | |
Gesellschaft lebt“, sagt er. | |
Christopher Street Day: Bei Festivals treffen in Berlin manchmal sogar noch | |
mehr Menschen zusammen. Oder auf dem Christopher Street Day, dem Feiertag | |
der Homosexuellen, Queeren, sonst wie Seienden. Die Menschen tanzen | |
kostümiert, mit bizarrem Make-up oder auch fast nackt – alles und alle | |
werden akzeptiert. „Auf den CSD-Partyflächen begegne ich Anwälten, | |
Polizisten, Lehrern und Ärzten – ja, die gehen hier auch alle mal tanzen. | |
In einer geschlossenen Gesellschaft, wie etwa in der Türkei, gilt: Solche | |
Menschen haben auf der Tanzfläche nichts verloren.“ | |
Disco in der Kita: Bariş legt sogar im Kindergarten auf. „Es hört sich ein | |
wenig abwegig an, oder?“ Nach seiner Ausbildung zum Erzieher machte er ein | |
Praktikum in einer Kita. „Ich bin selber Kind mit Kindern“, erklärt er. Er | |
malt mit ihnen, macht Sport und tanzt. Seine Partymusik testet er zuerst | |
oft im Kindergarten. Die Drei- bis Fünfjährigen tanzen dann zu seinen | |
Mixtapes: „Meine Musik macht Kinder glücklich.“ | |
Gelungenes Experiment: Die Eltern der Kita-Kinder finden gut, was er macht. | |
Einige haben Bariş sogar weitere Locations vorgeschlagen: eine | |
Zahnarztpraxis, einen Friseursalon. Und die Kindergartenleitung schrieb | |
ihm ins Praktikumszeugnis, dass sie „vollstens“ zufrieden sei mit ihm. | |
Bariş will weiter mit Kindern arbeiten. Er hat schon eine neue Stelle. | |
13 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://meine-markthalle.de/ | |
[2] /Junger-Olivenoelproduzent-in-Slowenien/!5581832/ | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Zaza | |
[4] https://www.schwuz.de/ | |
## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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