# taz.de -- Der Hausbesuch: Stimme gegen die Grausamkeit | |
> Binta Fatty aus Gambia wird als Kind beschnitten und später | |
> zwangsverheiratet. Heute lebt sie in Berlin und engagiert sich für | |
> Frauenrechte. | |
Bild: In Europa begreift Binta Fatty, was man ihr angetan hat | |
Binta Fattys Leben hat viele Facetten. Manche sind grausam. Die hätten sie | |
stark gemacht, sagt die 32 Jahre alte Frau. Binta Fatty wuchs in Gambia | |
auf, erlebte in Polen ihre Befreiung und wohnt jetzt in Berlin. | |
Draußen: Das mehrgeschossige Haus liegt versteckt hinter einem Wohnblock | |
mit Kindergarten, Pflegeheim und Spielplatz im Norden von Berlin, weit weg | |
von der U-Bahn. „Wenn ich ein Taxi rufe, sag ich denen einen Treffpunkt, | |
damit die mich überhaupt finden“, sagt sie und lacht. | |
Drinnen: Die Zweizimmerwohnung ist im Erdgeschoss, sie hat Fußbodenheizung | |
und einen kleinen Garten hinterm Wohnzimmer. Überall liegen Spielsachen der | |
vierjährigen Tochter, hängen Fotos ihrer Familie, stehen Skulpturen ihres | |
belgischen Mannes. Der pendelt zwischen Berlin und Polen, wo er arbeitet. | |
Ein riesiger Bildschirm hängt an einer Wand. Musikvideos von ihrer | |
Lieblingsband O Boy and Gambian Child laufen. Lieder in ihrer Muttersprache | |
Mandinka werden gesungen. Das Szenario in den Videos ist farbenfroh. | |
Frauen, die traditionell gekleidet sind und sich mit Tüchern und Perücken | |
gestylt haben, tanzen mit den Männern. | |
Glatte Haare: Binta Fatty trägt auch eine Perücke, weil sie lange Haare | |
mag, ihre eigenen aber kurz und kraus sind. „Viele Schwarze Frauen tragen | |
Perücke.“ Sie posiert für die Fotografin, während sie es sagt. | |
Westafrikanische Herkunft und glatte Haare, das sei für viele Frauen wie | |
ein Spiel mit unterschiedlichen Kulturen. „So bringt man, was sich fremd | |
ist, zusammen.“ Eine Voraussetzung dafür sei Neugier, sagt sie. | |
Neugierig sein: Sie ist vier Jahre alt, als sie sieht, dass ältere Kinder | |
etwas bekommen, was sie nicht hat: jeden Freitag Milch, Brot und | |
Süßigkeiten in der Dorfschule. Das will sie auch. Sie geht zum | |
Schuldirektor und sagt, dass sie in die Schule wolle. Und der Direktor | |
antwortet: „Okay.“ „Ich habe mich selbst eingeschult, obwohl ich noch so | |
jung war.“ | |
In der Stadt: Als sie sieben ist, zieht ihre Mutter mit ihr in die Stadt | |
Brikama, um dort als Verkäuferin zu arbeiten. Die Familienstrukturen sind | |
komplex. Der Vater lebt in Italien, aber da in ihrer Volksgruppe, den | |
Mandinkas, innerhalb der Familie geheiratet wird, ist ohnehin überall | |
Familie. „Wir haben verschiedene Lebensstile angenommen“, sagt sie, „aber | |
alte Traditionen dabei mitgenommen.“ | |
Traditionen: Es gebe, sagt Binta Fatty, gute Traditionen, solche, die die | |
Gemeinschaft stärken. Taufen und Hochzeiten findet sie gut. Aber es gebe | |
auch schlechte Traditionen: „Kinderehen, Genitalverstümmelung, | |
Zwangsheirat“, zählt sie auf. Auch absichtlich herbeigeführte Vernarbungen | |
gehörten dazu. Mehrere dieser schlechten Traditionen werden in ihrer | |
Kindheit zu Fallen für sie. | |
Trauma: Sie ist sieben Jahre alt und sie denkt, es sei ein Fest für die | |
Mädchen. Süßigkeiten werden versprochen, Musik, Tanz, neue, wunderbare | |
Kleidung. Natürlich will sie das. Andere wollen es auch. Man müsse das | |
machen, ohne sei man nicht sauber, ohne kriege man keinen Mann, wird ihr | |
gesagt. „Deine Mutter hat das auch“, sagen sie. Sie fahren zurück ins Dorf. | |
An einer Stelle ist das Fest, dann werden die Mädchen weggeführt in die | |
Schule, eine nach der anderen. Dort wird sie von fünf Leuten festgehalten, | |
eine Beschneiderin schneidet ihr die Klitoris ab. Ein Schmerz durchfährt | |
sie, so groß, bis heute steckt er ihr im Hals, sie will schreien. „Was die | |
Beschneiderin genommen hat, ein Messer, eine Rasierklinge, ich weiß es | |
nicht.“ | |
Vergiftetes Fest: Binta Fatty kann heute darüber sprechen, und sie benennt | |
es auch sofort: „Mir wurde Gewalt angetan.“ Nach der Beschneidung werden | |
die Mädchen in einen Raum gebracht und bleiben dort, bis die Wunden, die | |
mit traditionellen Heilkräutern versorgt werden, einigermaßen verheilt | |
sind. Fatty will tagelang nicht aufs Klo, will nicht pinkeln vor Schmerz. | |
Ein Mädchen sei fast gestorben, sagt sie. Drei Monate dauert es, bis es | |
wieder gesund ist. Erst danach wird das Fest zu Ende gefeiert. Für Fatty | |
ist das alles nur noch Betrug. Als später jemand sieht, dass ihre Klitoris | |
nicht ganz weggeschnitten ist und ihr sagt, sie müsse noch mal zur | |
Beschneidung, wehrt sie sich: „No way.“ | |
Nicht die einzige Falle: Binta Fatty geht ein paar Jahre weiter zur Schule. | |
Als sie – sie ist in der neunten Klasse und 14 Jahre alt – eines Tages vom | |
Unterricht zurückkommt, sitzen viele Leute im Haus. „Was ist los?“, fragt | |
sie. „Du bist verheiratet“, antwortet ihre Mutter. Fatty weiß nicht, mit | |
wem, es ist ein Mann, der im Ausland lebt, sie weiß nicht wann, wo und | |
warum sie geheiratet hat. Sie heult ein wenig, muss aber gehorchen. „Als | |
Frau hatte ich keine Stimme.“ Auch ihre Mutter kann nichts machen. „Es ist | |
ja alles Familie, wir sind mit allen verwandt.“ | |
Verheiratet wider Willen: Erst mal bleibt alles noch beim Alten, sie geht | |
weiter zur Schule. „Aber es kommt der Tag, an dem du ins Haus der Familie | |
deines Mannes musst.“ Und dann? Sie wickeln sie in ein weißes Laken, damit | |
sie das Blut sehen. „Er sagte: ‚Mach deine Beine auseinander, wenn nicht, | |
mach ich es mit Gewalt.‘“ Für sie war das so oder so Vergewaltigung. | |
Die Schule: Eines hat niemand Binta Fatty nehmen können: Dass sie lernen | |
und zur Schule gehen will, und sie geht. Ihr Mann ist wieder im Ausland und | |
sie schwanger. Manchmal schickt er Geld, sie nimmt es für die Schule. Im | |
neunten Monat macht sie den Mittelschulabschluss, zwei Monate nach der | |
Geburt geht sie zum Gymnasium. Das Kind, ein Junge, bleibt bei ihrer | |
Mutter, ab und zu nimmt sie ihn mit in die Schule. Manchmal macht man sich | |
über sie lustig, weil ihr Milch aus den Brüsten tropft und das Shirt ganz | |
nass ist. | |
Das Studium: Nach dem Abitur belegt sie Kurse in Internationalem | |
Wirtschaftsmanagement. „Ich erzählte niemandem mehr, dass ich ein Kind | |
habe.“ Ein Dozent schlägt ihr vor, an einem Studienprogramm in Polen | |
teilzunehmen. Sie fragt ihren Mann, der sagt ja, „wahrscheinlich weil er | |
dachte, ich bekomme sowieso kein Visum“. Aber sie bekommt eines, sagt, sie | |
gehe, er sagt, sie müsse sich entscheiden, er oder das Studium, sie sagt, | |
das Studium, er sagt, dann sind wir geschieden, sie sagt, umso besser. Sie | |
geht, ihr Sohn bleibt. | |
Alles ganz anders: Sie habe, bis sie in Polen ankam, immer gedacht, sie | |
fahre nach Holland. „Poland, Holland – sie sagten es auf Englisch – für | |
mich klang das gleich.“ Außerdem dachte sie, bis sie in Polen war, dass | |
alle Frauen auf der Welt beschnitten sind. In einem Empowerment-Programm, | |
wo sie lernt, wie sie Menschenrechtsaktivistin wird, begreift sie, dass das | |
nicht stimmt. „Der Kulturschock in Polen war für mich Empowerment“, sagt | |
sie. „Da habe ich kapiert, was die mir angetan haben. Was sie Kindern | |
antun. Polen ist kalt, aber ich vergaß die Kälte. Genitalverstümmelung ist | |
nicht normal, Kinderehen sind nicht normal. Schwanger so jung. Polen hat | |
mir eine Stimme gegeben, und ich konnte nach Gambia zurückgehen und fragen, | |
warum?“ | |
Neue Liebe: In Polen schließt sie nicht nur die Uni ab und macht noch ein | |
Diplom in Internationaler Diplomatie. Sie lernt auch ihren jetzigen Mann | |
kennen, wird schwanger, dieses Mal, weil sie es will, zieht nach Berlin. | |
Sie will, dass das Kind in einer multikulturelleren Umgebung aufwächst. | |
„Meine Tochter ist wie mein erstes Kind. Ich musste alles lernen. Sie ist | |
jetzt vier. Wir müssen unsere Töchter schützen.“ | |
Botschafterin sein: „Als ich jung war, wollte ich immer Botschafterin | |
sein“, erzählt sie. Jetzt ist sie eine. Sie ist Aktivistin für Frauen- und | |
Menschenrechte, arbeitet für Terre des Femmes. Sie reist nach Gambia, fährt | |
in Dörfer, geht in Schulen, spricht mit Müttern, klärt auf, welche | |
schlimmen Folgen Genitalverstümmelung, Kinder- und Zwangsehen haben: | |
Schmerzen ein Leben lang. Physische und seelische. „In Gambia ist | |
Genitalverstümmelung seit 2015 verboten, aber es passiert, in | |
traditionellen Zusammenhängen passiert es oft.“ | |
Immer weiter: Binta Fatty hat mehrere Auszeichnungen bekommen für ihr | |
Engagement. In Gambia hat sie aber auch Ärger gekriegt deshalb. Mit ihrer | |
westlichen Bildung sei sie gehirngewaschen, werde ihr gesagt. Die Probleme | |
seien erst da, seit sie im Westen lebe. Man spreche über sie. Sie lässt | |
sich nicht beirren. Ihren Kritikern sagt sie: „You people can not stop me.“ | |
26 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Nyima Jadama | |
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