Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Familienzusammenführung I: Das neue Leben kann beginnen
> Vier Jahre war der Syrer Bakri Kamurgi von Frau und Kindern getrennt.
> Zehntausende Familien warten weiter auf ihre Zusammenführung.
Bild: Bakri Kamurgi mit Sohn Yahia, Ehefrau Rahaf Haimousa und den Töchtern Ta…
Berlin taz | „Endlich haben wir Glück!“ Bakri Kamurgi sitzt strahlend im
Gastraum des Restaurants „Kreuzberger Himmel“ und zeigt mit dem Zeigefinger
nach oben. „Hier drüber liegt unsere neue Wohnung.“ Wenn sie dort im neuen
Jahr einziehen können – praktischerweise direkt über Kamurgis Arbeitsplatz
–, geht eine vier Jahre währende Odyssee zu Ende. So lange war der
Rechtsanwalt aus Aleppo von seiner Frau und den drei Kindern getrennt: Er
war in Berlin, sie lebten in der Türkei. „Eine schreckliche Zeit, meine
Frau hat jeden Tag am Telefon geweint“, erzählt er der taz. Erst im Oktober
konnten Ehefrau Rahaf Hajmousa, die Töchter Lima (14) und Talia (12) und
Sohn Yahia (11) nachkommen. Und dann so schnell ein Mietvertrag? Der
schmächtige Mann mit dem Schnäuzer scheint es noch gar nicht fassen zu
können. „Jetzt haben wir wirklich ein neues Leben!“
Die Krisen und Kriege dieser Welt reißen viele Familien auseinander: etwa
weil der Mann – wie Kamurgi – Hals über Kopf fliehen muss, die Kinder aber
nicht der gefährlichen Flucht übers Mittelmeer ausgesetzt werden sollen.
Dass Familien jedoch über Jahre getrennt sind, hat oft weniger mit
internationalen Krisen als vielmehr mit europäischer Abschottung tun.
In Deutschland bekamen Syrer, die vor allem seit dem „Flüchtlingssommer“
2015 zu Zehntausenden über den Balkan kamen, zunächst meist „richtiges“
Asyl, sprich: Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention, zugesprochen –
und hatten damit das Recht, ihre Familien nachzuholen. Doch je mehr es
wurden, desto lauter wurden die Rufe von „besorgten Bürgern“ und ihren
politischen Einheizern, etwas dagegen zu unternehmen. So wurde im Zuge von
Gesetzesverschärfungen bei Flüchtlingen, die keinen Flüchtlingsschutz,
sondern nur „subsidiären Schutz“ bekommen, der Familiennachzug im März 20…
für zwei Jahre ausgesetzt; der Stichtag wurde später bis August 2018
verschoben. Die damalige SPD-Spitze, die diesen Teil des „Asylpakets II“
angeblich nicht wollte, beschwichtigte, dies beträfe ja nur wenige
Geflüchtete.
Mit dem neuen Gesetz änderte sich allerdings spürbar die Anerkennungspraxis
des Bamf: Auf einmal bekamen immer mehr Syrer „subsidiären Schutz“ (siehe
Kasten) – und Zehntausende Familien saßen in der Türkei und anderswo fest.
## Am überfüllten Lageso
So wie die Kamurgis. Es ist Sommer 2015: Bakri, der als Anwalt Regimegegner
verteidigt, weiß, als ein Namensvetter von ihm verhaftet und gefoltert
wird, dass er akut in Gefahr ist – und flieht auf der Balkanroute. Im
September kommt er nach Berlin und ist einer von Tausenden, die am
überfüllten Lageso in der Turmstraße kampieren müssen, um auf ihre
Registrierung und Versorgung als Asylbewerber zu warten.
In dieser verzweifelten Lage – ohne Schlafplatz, Essen, Geld – hat Bakri
Kamurgi das erste Mal Glück: Er lernt Andreas Tölke vom Verein Be an Angel
kennen. Tölke und andere Flüchtlingshelfer organisieren um die Ecke vom
Lageso beim Sozialgericht Sammelklagen von Flüchtlingen gegen das Amt,
damit es seiner gesetzlichen Pflicht zur Unterbringung nachkommt. „Ohne
Andreas hätte ich keine Chance gehabt, ich hätte all das nicht
durchgehalten“, sagt der Syrer im Rückblick.
Tölke besorgt ihm einen Schlafplatz, später ein WG-Zimmer, schließlich
sogar Arbeit im vom Verein initiierten Restaurant „Kreuzberger Himmel“, das
von Flüchtlingen betrieben wird. Doch zunächst hilft der ehemalige
Journalist, der seit 2015 ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer ist (siehe
Interview Seite 23), dem Anwalt dabei, seine Familie aus Syrien
rauszuholen. An Weihnachten 2015, erinnert sich Tölke, können Kamurgis Frau
und Kinder nach Beirut fliehen und von dort in die Türkei fliegen. Über
Helfer-Netzwerke besorgt Be an Angel eine Wohnung, unterstützt die Familie
mit Geld. Dass dieser Zustand fast vier Jahre dauern wird, wissen die
Beteiligten da noch nicht.
Die ersten eineinhalb Jahre hofft Bakri Kamurgi auf seinen Asylantrag. Doch
je länger sich das Verfahren zieht, desto depressiver wird seine Stimmung,
desto verzweifelter werden die Anrufe aus der Türkei. Frau und Kinder
können nicht verstehen, warum das so lange dauert. „Viele Syrer haben in
der Zeit ihren Aufenthalt bekommen, wieso ich nicht? Meine Frau dachte, es
muss meine Schuld sein, ich hätte irgendwelche Papiere nicht eingereicht.
Doch beim Bamf hieß es immer nur: Sie müssen warten.“
## Klage gegen das Bamf
Im Frühjahr 2017 kommt die Entscheidung: subsidiärer Schutz – also kein
Familiennachzug bis Sommer 2019. Die Verzweiflung wächst ins Unermessliche.
„Ich wollte zurück in die Türkei“, erzählt Kamurgi. „Ich dachte, besse…
als Jahre ohne Familie. Aber ich habe kein Visum bekommen.“ Seine Frau wird
krank „von dem ganzen Stress“, wie sie sagt: die Kinder waren zwar
inzwischen in der Schule, lernten Türkisch, „aber ich fand keine Arbeit,
war allein und konnte nur daran denken, wie wir wieder zusammen sein
können“.
In Berlin erhebt Kamurgi derweil Klage gegen das Bamf. Viele Flüchtlinge
tun das, und in mehr als 40 Prozent der Fälle bekommen die Kläger Recht und
einen besseren Flüchtlingsschutz. Doch Kamurgis Klage zieht sich, das
Berliner Verwaltungsgericht ist mit den vielen Klagen überfordert, erst
nach über zwei Jahren wird es seinen Fall entscheiden.
Da hat die Familie – wieder mit Hilfe von Be an Angel – längst den
Familiennachzug beantragt. Seit August 2018 können Angehörige von
„subsidiär Geschützten“ dies wieder tun, ein Kontingent von monatlich 1.0…
Angehörigen darf seither nachziehen. Das seien viel zu wenig, sagen
Kritiker, zudem sei das Procedere zu langwierig: Den Antrag müssen die
Angehörigen bei einer deutschen Auslandsvertetung abgeben, dafür gebe es
derzeit aber Wartezeiten von mehr als 12 Monaten, sagt etwa Sebastian Muy
vom Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und
Migrant*innen. Danach muss in Deutschland die lokale Ausländerbehörde
ihre Zustimmung geben, dann entscheidet das Bundesverwaltungsamt, wer zu
den 1.000 Glücklichen des Monats gehört.
Allerdings reichten die Auslandsvertretungen regelmäßig viel zu wenig
Anträge ein, so Muy, sodass die Regierung ihr selbst gestecktes Ziel von
1.000 nachgeholten Angehörigen pro Monat regelmäßig unterschreite. Muys
Fazit: „Das neue Gesetz gibt nur einigen wenigen eine Chance auf baldigen
Familiennachzug, für die meisten bedeutet es weiter warten in
Unsicherheit.“ [1][Auch die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Ulla
Jelpke, kritisierte dieser Tage erneut,] die „Kontingentierung des
Menschenrechts auf Familienleben“ auf 1.000 Visa pro Monat, die zudem nicht
mal ausgeschöpft werden, sei „inakzeptabel“.
## Später Anruf vom Konsulat
Bei Kamurgis Frau Rahaf Hajmousa kommt der ersehnte Anruf im Juni 2019: Sie
und die Kinder können ihren Antrag im deutschen Konsulat in Istanbul
stellen. Zwei Monate später haben sie ihre Visa. „Es war ein Traum! Wir
dachten nicht, dass das noch klappt“, sagt Bakri Kamurgi und lächelt jetzt
wie ein Honigkuchenpferd.
Seither lebt die Familie in Tölkes Wohnung, inzwischen umso leichter, als
das Ende dieser Übergangszeit nun absehbar ist. Die Kinder gehen zur
Schule, erst einmal in Willkommensklassen zum Deutschlernen, nachmittags
kommen zwei ehrenamtliche Helferinnen von Be an Angel zum Sprachunterricht
vorbei, eine für die Kinder, eine für Rahaf.
Im November gibt das Verwaltungsgericht Kamurgi mit seiner Klage recht: Das
Bamf hätte ihm den „großen“ Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention
zusprechen müssen. „Die verhinderte Familienzusammenführung war am Ende
also eine Fehlentscheidung“, sagt Tölke – und der Ärger über das Bamf
klingt immer noch nach. Dennoch ist jetzt erst mal Zufriedenheit und Ruhe
eingekehrt im Kreuzberger Himmel.
24 Dec 2019
## LINKS
[1] /Wenige-Visa-fuer-Familiennachzug/!5647600&s=Jakob/
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Willkommensklasse
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt UN-Migrationspakt
Familiennachzug
Sea-Watch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausländerbehörde wird Einwanderungsamt: Weniger Abschiebungen
2019 weniger „Rückführungen“ als alle anderen Jahre unter R2G. Beim neuen
Landesamt für Einwanderung ist der Name Programm, sagt der Behördenchef.
Kinder ohne Schulplatz: Der nötige Nachdruck kommt spät
In Tempelhof-Schöneberg sind 90 Kinder ohne einen Schulplatz – einige schon
seit den Herbstferien. Wie kann das sein? Ein Wochenkommentar.
Flüchtlinge und Weihnachten: Überzeugend ist das alles nicht
Es gibt keine gute Zeit für Flüchtlinge, auch nicht an Weihnachten, wie
sich dieser Tage wieder zeigt. Ein Wochenkommentar.
Familienzusammenführung III: „Das war Karma“
Flüchtlingshelfer Andreas Tölke über seinen Fulltimejob beim Verein „Be an
Angel“, die Widrigkeiten des Asylsystems und beglückende Momente.
Familienzusammenführung II: Ein zähes Mädchen
Narges Zahra* ist ohne ihre Familie von Griechenland nach Berlin geflohen.
Die Behörden dort kümmerten sich gar nicht um Flüchtlinge.
UN-Flüchtlingspolitik 2019: Ein schlechtes Jahr
Das UN-Hochkommissariat hat sich den verbesserten Schutz der Flüchtlinge
weltweit auf die Fahnen geschrieben. Die Realität hingegen ist
deprimierend.
Wenige Visa für Familiennachzug: Regierung lässt Familien warten
Geflüchtete, die Kinder oder Partner zu sich nach Deutschland holen wollen,
brauchen Geduld. Nicht mal 1.000 Anträge pro Monat werden bearbeitet​.
Rettungsschiff darf wieder fahren: Leinen los für die Sea-Watch
Sechs Monate lang wurde das Flüchtlingsboot in Italien festgesetzt. Zu
Unrecht, entschied nun ein Gericht. Die Crew will schnell zurück auf See.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.