| # taz.de -- Migration von Vietnam nach Europa: Die Reise in den Tod | |
| > Im Oktober 2019 entdeckt die britische Polizei in einem Kühlcontainer 39 | |
| > Tote. Die Vietnamesen sind erstickt. Die taz rekonstruiert ihre Reise. | |
| Bild: Rückkehr im Sarg: Bui Van Diep mit einem Bild seiner verstorbenen Schwes… | |
| London/Berlin/Brüssel/Zeebrügge taz | Durch die Eastern Avenue des | |
| Waterglade Industrieparks in Grays, einer Stadt östlich von London, fährt | |
| selbst am helllichten Tag nur gelegentlich ein Fahrzeug. Die gigantischen | |
| Kühllagerhallen mit ihren Dutzenden Anlaufstellen für Lastwagen scheinen | |
| schon länger leer zu stehen. Hier bot sich am frühen Morgen des 23. Oktober | |
| 2019 ein schrecklicher Anblick: In einem Kühlcontainer fand die britische | |
| Polizei [1][39 Leichen]. Ein verwelkter Blumenstrauß am Rande der Straße | |
| neben am Boden liegenden leeren Bierdosen ist heute der einzige Hinweis auf | |
| die Tragödie. | |
| Bei den Todesopfern handelte es sich ausschließlich um Vietnamesen, fand | |
| die Polizei rasch heraus, 31 Männer und 8 Frauen. Kurz vor ihrem Ziel war | |
| den Menschen in dem abgedichteten Container buchstäblich die Luft | |
| ausgegangen. Das geht auf eine Textnachricht einer der Opfer hervor. Pham | |
| Thi Tra My, sie war 26 Jahre alt, meldete sich um 22.28 Uhr britischer Zeit | |
| bei ihrer Mutter in Vietnam. Sie schrieb: „Mama, es tut mir wirklich sehr | |
| leid. Mein Weg ins Ausland ist gescheitert. Ich liebe dich so sehr. Ich | |
| sterbe, denn ich kann nicht mehr atmen. Entschuldige, Mama.“ | |
| Ein in Berlin lebender vietnamesischer Migrant, der gegenüber einem | |
| vietnamesischsprachigen Journalisten nur anonym auftreten wollte, vermutet, | |
| dass die 39 Menschen an Bord einfach zu viele für einen einzigen Lastwagen | |
| gewesen seien: Der Sauerstoff würde normalerweise über einen Schlauch von | |
| der Zugmaschine in den Anhänger geleitet. Nach Berichten, die er von | |
| anderen Flüchtlingen erhalten habe, würde der Sauerstoff aber nur zur | |
| Versorgung von höchstens sechs Personen ausreichen. | |
| An der Straße, in der der Container mit seiner menschlichen Fracht vor | |
| knapp drei Monaten aufgefunden worden war, geht der 40-jährige Tony mit | |
| seiner Schäferhündin spazieren. Der Kranführerausbilder, der seinen | |
| Nachnamen nicht veröffentlicht sehen möchte, lebt nicht weit entfernt in | |
| einer der alten Siedlungen für Hafenangestellte. Die Kräne, an denen Tony | |
| arbeitet, heben und senken die Container im Hafen. | |
| ## An mangelnder Luftzufuhr qualvoll erstickt | |
| Tony zeigt auf einen am Straßenrand abgestellten Kühlanhänger ohne | |
| Kennzeichen, der an der gleicher Stelle abgestellt ist, wo im Oktober der | |
| Anhänger mit den Toten parkte. Er erklärt: „An der Seite eines normalen | |
| Containers sind Luftschächte angebracht, nicht jedoch bei solchen | |
| Kühlcontainern. Da kommt nichts rein oder raus. So können Spürhunde auch | |
| keine Gerüche wittern, die auf darin verborgene Menschen deuten könnten“, | |
| meint er. | |
| Jakub Sobik von der Organisation Anti-Slavery UK betont, dass gerade die | |
| Verschärfungen an den Grenzen dazu führten, dass MigrantInnen auf derartige | |
| lebensgefährlichen Überfahrten von Menschenschugglern zurückgreifen müssen. | |
| Die taz hat mit einem Reporterteam herauszufinden versucht, welchen Weg die | |
| bei London verstorbenen Menschen von Vietnam nach Großbritannien genommen | |
| hatten. | |
| Wir wollten wissen, was die Verstorbenen motiviert hat, wie die Route | |
| organisiert ist und welche Schlepper dabei eine Rolle spielen. Nicht alle | |
| Fragen können in diesem Text beantwortet werden. Aber einige. | |
| Kinder mit Blumen in den Händen und Tüchern um den Hals säumen den | |
| Straßenrand. Die Einwohner schießen Fotos, als ein Leichenwagen, flankiert | |
| von mehreren Polizisten, in die Gemeinde Do Thanh in der | |
| zentralvietnamesischen Provinz Nghe An einfährt. [2][Videos] auf der | |
| Facebook-Seite der Gemeinde halten fest, wie das Auto an Reisfeldern und | |
| Villen vorbei zum Vorplatz einer großen Kirche fährt. Als sich der Laderaum | |
| öffnet, sind mehrere Särge zu sehen. Die Menschen singen Kirchenlieder. | |
| Eine Trauerrede wird gehalten. Die Glocken der Kirche läuten. Von den bei | |
| London in dem Kühlcontainer aufgefundenen 39 toten Vietnamesen kamen fünf | |
| aus der 15.000 Einwohner zählenden Gemeinde Do Thanh. Ihre Reise endete auf | |
| dem Industriegelände von Grays bei London. | |
| Maurice „Mo“ Robinson lautet der Name des 25-jährigen Fahrers des | |
| Lastwagens, in dem die Toten aufgefunden wurden. Das entsprechende Fahrzeug | |
| ist in Bulgarien registriert, Besitzer ist eine irische Firma. Robinson | |
| hatte den Container, der um 0.30 Uhr in Purfleet am Unterlauf der Themse | |
| angekommen war, um 1.10 Uhr aus dem Hafen in die Eastern Avenue in Grays | |
| gefahren. Um 1.40 Uhr wurden von dort aus die Rettungsdienste verständigt – | |
| von wem, will die Polizei nicht sagen. | |
| Robinson, der wie zwei weitere Beschuldigte aus Nordirland stammt, ist der | |
| mehrfachen fahrlässigen Tötung und der Beihilfe zur illegalen Einwanderung | |
| angeklagt. Letztere hat er vor einem englischen Kriminalgericht gestanden. | |
| Er ist in Haft und hat sich bislang nicht umfangreich geäußert. Nach | |
| Presseberichten hätten die drei Verdächtigen jeweils 1.000 Euro für jede | |
| geschmuggelte Person erhalten sollen – also 39.000 Euro. | |
| Die [3][Gemeinde Do Thanh] in Zentralvietnam war vor zwanzig Jahren ein | |
| armes Dorf von Reisbauern und Tischlern. Dass manche Bewohner heute in | |
| Villen wohnen und neue Autos fahren, liegt an den 10 Prozent der ehemaligen | |
| Dorfbewohner, die heute im Ausland leben und von dort Geld an ihre | |
| Familien, die Kirchengemeinde und an die mit den Lokalbehörden vernetzten | |
| Schlepper und Geldverleiher schicken. Die Gemeinde selbst spricht in | |
| vietnamesischen Medien von 1.450 Personen, die in Europa leben, überwiegend | |
| in Großbritannien, aber auch in Polen, Tschechien und Deutschland, sowie | |
| in Taiwan, Laos und Südkorea. | |
| ## Großbritannien, das gelobte Land | |
| Die Vorstellung der Migranten ist, im Ausland reich werden und ihre | |
| Familien in Vietnam mit Geld unterstützen zu können. Nur den wenigsten | |
| gelingt das. Doch speziell in Großbritannien lockt eine Chance: Dort | |
| betreiben vietnamesische Auswanderer Cannabisplantagen auf verlassenen | |
| Bauernhöfen. Wer in die Führungsetage dieser Plantagen aufsteigt, kann | |
| richtig Geld machen. | |
| Wer Großbritannien erreicht, findet dort eine Gemeinschaft von aus Vietnam | |
| stammenden Menschen. Nach Schätzungen der Denkfabrik Runnymede Trust | |
| lebten schon 2007 an die 55.000 Vietnamesen in dem Land, unter ihnen 20.000 | |
| ohne Anmeldung. Die offizielle Statistik weist allerdings für 2014 nur | |
| 28.000 Personen aus, die in Vietnam geboren wurden. | |
| Simon Thang Duc Nguyen, 52, zählt zur ersten Generation der vietnamesichen | |
| Einwanderer. Sie kamen in den 1970er und 1980er Jahren, als Westeuropa und | |
| Amerika viele Boatpeople aufnahmen. Heute arbeitet Simon als Pfarrer in | |
| Ostlondon. Er nennt einen weiteren Grund dafür, dass Vietnamesen gerade | |
| Großbritannien zum Ziel haben: „Die Behörden und die Polizei sind hier | |
| angenehmer als in anderen europäischen Ländern“, sagt er. Ihm geht es | |
| deshalb in seinen Predigten darum, dass seine Landsleute der britischen | |
| Gesellschaft keinen Schaden zufügen und insbesondere nicht auf den | |
| Cannabisfarmen arbeiten sollen. „Ich betone immer wieder, dass die Briten | |
| gut zu uns sind und dass wir mit dem, was wir hier tun, nicht Unheil | |
| bringen dürfen“, sagt er. | |
| In Berlin ist es dem vietnamesischsprachigen Journalisten Trung Khoa Le | |
| gelungen, mit [4][einem Mann zu sprechen], der seit knapp einem Jahr | |
| illegal in der deutschen Hauptstadt lebt und gemeinsam mit dreien der 39 | |
| später in dem Container Erstickten von Zentralvietnam nach Berlin gereist | |
| war. Die Geschichte, die der Mann erzählt, den wir Quynh nennen, klingt | |
| glaubwürdig. Die taz findet die Namen der von ihm genannten Personen, | |
| zweier Männer im Alter von 24 und 26 Jahren und einer 18 oder 19 Jahre | |
| alten Frau, auf der polizeilichen Liste der Todesopfer. Mit der taz mochte | |
| sich Quynh allerdings nicht treffen: Als Illegaler habe er für ein zweites | |
| Interview keine Zeit. | |
| Quynh erzählt über die Verdienstmöglichkeiten in Großbritannien: „Bereits | |
| in Vietnam wussten wir, dass man in Großbritannien von allen europäischen | |
| Staaten das meiste Geld verdienen kann und dass die Gefahr, in eine | |
| Behördenkontrolle zu geraten und dann zurückgeschickt zu werden, viel | |
| kleiner ist als in Deutschland.“ Wer in eine Cannabisfarm einsteigt, | |
| erhalte die ersten sieben Monate zwar nur etwas zu essen. Die Pflanzen | |
| müssen erst wachsen. „Aber danach kann man alle drei Monate mit einer Ernte | |
| rechnen.“ | |
| Als einfachen Zimmergärtnern hätten Quynhs Mitreisenden pro Ernte ein | |
| Gewinn von 10.000 bis 15.000 Euro in Aussicht gestanden. Wer aber aus | |
| wohlhabenden Gemeinden wie Do Thanh stamme, deren Vertreter es im illegalen | |
| Cannabisanbau in Großbritannien weit nach oben gebracht hätten, übernehme | |
| Führungsaufgaben und könne mit bis zu 40.000 Euro pro Monat rechnen. | |
| Philip Ishola, Geschäftsführer der britischen Hilfsorganisation Love146, | |
| glaubt, dass die Betroffenen mit ziemlicher Sicherheit auf Cannabisfarmen, | |
| in Nagelstudios, Restaurants oder in Bordellen gelandet wären, hätten sie | |
| die Fahrt überlebt. Einige wären vielleicht auch bei Bekannten | |
| untergekommen. | |
| ## Russland, Polen, Deutschland, Belgien | |
| Der Kühlcontainer, in dem die 39 Menschen, die in der Hoffnung auf ein | |
| besseres Leben in Europa erstickt sind, kam aus dem belgischen Hafen | |
| Zeebrugge über den Ärmelkanal nach Großbritannien, das ist sicher. Aber wie | |
| sind die Migrantinnen und Migranten von Vietnam nach Europa gelangt? | |
| Nach Quynhs Bericht seien er und drei der späteren Todesopfer zunächst | |
| legal mit dem Flugzeug von Vietnam nach Russland geflogen. Dort seien | |
| andere Mitglieder der ursprünglich viel größeren Gruppe geblieben: Sie | |
| hätten Verwandte in Russland gehabt und wollten dort Geld verdienen. Die | |
| vier reisten aber weiter. | |
| An der Grenze zur Ukraine habe man zwischen einem VIP-Tarif und dem | |
| Billigtarif zur Weiterreise wählen können. Sie wählten den Billigtarif. Das | |
| bedeutete mehrere Tagesmärsche zu Fuß. Über die Ukraine, Polen und | |
| Tschechien kamen die vier schließlich nach Berlin und fanden dort Arbeit. | |
| Physiklehrer Quynh hilft seitdem Privatpersonen bei ihren Computerproblemen | |
| und repariert elektrische Geräte. Damit kann er genug Geld verdienen, um | |
| die fälligen Raten an seine Schlepper zu zahlen. | |
| Seine drei Mitreisenden hätten weniger Glück gehabt, berichtet Quynh. Die | |
| Frau landete als Anzulernende in einem vietnamesischen Nagellackstudio und | |
| habe lediglich 500 bis 800 Euro im Monat erhalten, das Einkommen der Männer | |
| sei ähnlich niedrig gewesen. Mit derartig dürftigen Löhnen aber hätten sie | |
| niemals die Raten für ihre Schlepper abzahlen können. | |
| ## Berlin: Zwischenstation und Ziel | |
| Berlin gilt als wichtige Station für vietnamesische Migranten. Eine ganze | |
| Reihe der in dem Container erstickten Menschen hatte hier Zwischenstation | |
| gemacht, nicht nur die drei Mitreisenden von Quynh. Der Berliner | |
| Rundfunksender [5][RBB] stieß durch Abgleich von Facebook-Profilen auf eine | |
| Frau. Die taz fand eine weitere Person, einen 26-jährigen Mann, der drei | |
| Monate in Berlin gelebt hatte, aber in der Stadt keinen festen Job fand. | |
| Der Berliner Polizei liegen hingegen nach Angaben eines Sprechers keine | |
| belastbaren Informationen darüber vor. | |
| Für einige der vietnamesischen Migranten ist Berlin allerdings nicht nur | |
| Zwischenstation, sondern auch Ziel. Dies gilt besonders dann, so die | |
| Erfahrung von Sozialberatern und Dolmetschern, wenn sie Verwandte in | |
| Deutschland haben oder wenn Frauen auf der Reise von Südostasien nach | |
| Europa schwanger werden. Dass es vor allem Frauen sind, die in Berlin | |
| stranden und ihren Weg in das gelobte Land Großbritannien nicht mehr | |
| fortsetzen, schlägt sich in der amtlichen Statistik der deutschen | |
| Hauptstadt nieder: In Berlin leben 9.300 Frauen und nur 7.300 Männer mit | |
| vietnamesischer Staatsangehörigkeit. Gut 80 Prozent der Vietnamesinnen, | |
| die sich 2019 neu als Asylbewerberinnen in Berlin anmeldeten, [6][waren | |
| schwanger.] | |
| Quynh behauptet, er habe sein Heimatland nach dem Studienabschluss | |
| verlassen, weil er keine Arbeit gefunden habe. „In eine Stelle im | |
| öffentlichen Dienst oder in einem großen Unternehmen hätte ich mich mit | |
| umgerechnet 8.000 Euro Bestechungsgeld einkaufen müssen“, sagt er. Verdient | |
| hätte er maximal 1.000 Euro im Monat. | |
| Quynh nennt auch einen Betrag, die die Schlepper für die Reise nach Europa | |
| verlangen würden: 20.000 Euro hätte die Fahrt bis nach Großbritannien | |
| kosten sollen. Für ihn sei es deutlich billiger geworden, weil er in Berlin | |
| ausstieg. Eine exakte Summe nennt er nicht. Doch für ihn war diese | |
| Investition in ein illegales Leben in Deutschland immer noch attraktiver | |
| als eine Stelle in Zentralvietnam. | |
| Quynh erzählt, wie ausreisewillige VietnamesInnen die Schlepperkosten | |
| aufbringen: Ein häufiger Weg sei ein Bankkredit, für den das Haus oder das | |
| Reisfeld der Familie als Sicherheit dient. Wer wie die 39 dann Umgekommenen | |
| kein Geld verdienen konnte, dessen Familie kann die gesamte Habe verlieren. | |
| Es gebe aber auch inoffizielle Geldverleiher, die hohe Zinsen nehmen. | |
| Früh am Morgen des 23. Oktober wurde die belgische Staatsanwältin Ann | |
| Lukowiak über die 39 Toten in dem Kühlcontainer informiert. „Wenn es einen | |
| Zusammenhang mit Belgien gibt, müssen wir Verantwortung übernehmen“, ist | |
| ihr gleich klar. Den gibt es: Der Container wurde in Zeebrugge verschifft, | |
| im einzigen Hafen des Landes mit Verbindung nach Großbritannien, der daher | |
| bei klandestiner Migration über den Kanal eine wichtige Rolle spielt. Heute | |
| leitet Ann Lukowiak auf belgischer Seite die Ermittlungen, für die sich ein | |
| Joint Investigation Team mit britischen, französischen und irischen | |
| Kollegen gebildet hat. | |
| Belgien, so Ann Lukowiak, ist geografisch bedingt ein logistisches Zentrum | |
| des Schmuggels vietnamesischer Migranten. Die Staatsanwältin bestätigt | |
| den Preis, den der in Berlin lebende Quynh für den Menschenschmuggel | |
| genannt hat. „Wer über Land von Russland aus hierherkommt und unterwegs | |
| arbeitet, kann dafür zwei Jahre brauchen. Auch die Balkanroute wird hier | |
| benutzt. Wer mehr Geld hat, fliegt von China zuerst nach Paris. Diese Route | |
| kostet 40.000 Dollar, die russische 25.000. Das Stück von Brüssel nach | |
| England kostet 5.000 Euro. Hier sind auch kurdische Netzwerke beteiligt. In | |
| letzter Zeit sehen wir noch eine südliche Route: per Flugzeug von Vietnam | |
| nach Abu Dhabi und weiter nach Marokko oder Spanien. Von dort geht es nach | |
| Paris und Brüssel, mit Bus, Zug, Lkw oder Auto oder mit falschen Dokumenten | |
| mit dem Flugzeug.“ | |
| 2016 rollte die belgische Polizei ein Schmuggelnetzwerk auf, das aus fünf | |
| Vietnamesen bestand. Über ein Safe House in Brüssel schleusten sie | |
| vietnamesische Migranten, aus der Ukraine kommend, nach England. Weil es | |
| dabei auch um Minderjährige ging, wurde der Hauptverdächtige zu zehn Jahren | |
| Haft verurteilt. Derzeit, so Ann Lukowiak, intensiviere man die | |
| Zusammenarbeit mit Vietnam, Polen und der Ukraine. Man untersuche, ob | |
| Schmuggler in Belgien auch auf Safe Houses in Frankreich zurückgreifen. | |
| „Klar ist: Die Vietnamesen sind keine Parkplatzleute. Sie haben eigene | |
| Orte, wo sie in Lkws steigen, oft direkt hinter der französischen Grenze. | |
| Das kann irgendeine Sackgasse sein oder eine Wiese.“ | |
| Informationen über die Weiterreise der drei später bei London Verstorbenen | |
| aus seinem Dorf von Berlin nach Großbritannien besitzt Quynh nur in | |
| Bruchstücken: Von Berlin sei es zuerst mit dem Auto nach Ostfrankreich | |
| gegangen, dort seien die drei einer neuen Schleuserorganisation übergeben | |
| worden. Erneut hätten sie zwischen einer VIP- und der Billigroute wählen | |
| können. Weil seine drei Bekannten die beschwerlichen Fußmärsche der | |
| Billigroute bis Berlin in unangenehmer Erinnerung hatten, wählten sie | |
| diesmal die VIP-Route: mit dem Kühlcontainer. | |
| Eine der Spuren, die Einzelne der Opfer auf ihren Wegen durch Europa | |
| hinterlassen haben, führt in das Dorf Cadier en Keer in einem entlegenen | |
| Winkel der Niederlande. Gleich der erste Hügel östlich von Maastricht | |
| beherbergt eine Ansammlung von Einrichtungen: ein Jugendgefängnis, eine | |
| Suchtklinik und einige eingezäunte, in den Hang gebaute Backsteinhäuser, wo | |
| Jugendliche mit familiären Problemen untergebracht sind. „Die beiden | |
| einzigen ohne Zaun haben wir vermietet. Dort sind junge Asylbewerber | |
| untergebracht“, sagt ein Mitarbeiter, der eine Runde mit dem Hund dreht. | |
| Nichts weist darauf hin, dass hier schutzbedürftige jugendliche Geflüchtete | |
| untergebracht sind, die, wie es heißt, vor Menschenschmugglern verborgen | |
| werden sollen. Am Abend des 16. August verschwinden hier sechs | |
| vietnamesische Teenager: zwei Mädchen und vier Jungen. Ein internes | |
| Dokument der Heimleitung, das der taz vorliegt, zeigt, dass Mitarbeiter an | |
| jenem Tag im Oktober Zeichen eines bevorstehenden Aufbruchs wahrnehmen. Da | |
| das Heim jedoch kein geschlossenes ist, kann dieser nicht verhindert | |
| werden. | |
| In der Nacht sucht ein niederländischer Polizeihubschrauber vergeblich ein | |
| nahes Maisfeld ab. Laut dem Report hätten sich die Jugendlichen dort | |
| versteckt, bis sie von einem Auto abgeholt wurden. Der Report ist nicht | |
| öffentlich und macht keine näheren Angaben, genau wie die Heimleitung und | |
| die für die Unterbringung von Asylbewerbern zuständige Behörde. Außer dass | |
| Letztere einen Monat nach dem Fund des Containers bekannt gibt, dass einer | |
| der sechs Teenager unter den 39 Toten von Grays ist. Sein Name wird nicht | |
| bekannt gegeben. | |
| In den Niederlanden [7][verschwanden seit 2013 über 60 junge Vietnamesen | |
| aus solchen Heimen]. | |
| Staatsanwältin Ann Lukowiak weiß, dass oft vor Fragezeichen steht, wer sich | |
| mit vietnamesischer Transitmigration nach Großbritannien beschäftigt. | |
| „Vietnamesen sind eine besondere Gruppe. Ihr Transport geschieht im | |
| Verborgenen“, erklärt die mit Menschenschmuggel befasste Expertin am Sitz | |
| ihrer Behörde in Brüssel. „Meist gelingt es ihnen, unter unserem Radar zu | |
| bleiben. Aber seit einigen Jahren treffen wir ab und zu eine Gruppe in | |
| Containern oder Lkws an, immer etwa 10 bis 15 Personen.“ | |
| ## In Zeebrugge wird jetzt schärfer kontrolliert | |
| Am 22. Oktober um 14.49 Uhr wird der Kühlcontainer mit seiner menschlichen | |
| Fracht bei der Ankunft in Zeebrugge nach Auskunft der belgischen | |
| Staatsanwaltschaft registriert. Noch am selben Nachmittag verlässt er den | |
| Hafen wieder an Bord eines Schiffs. Es geht nach Purfleet in England. Da | |
| sind die in dem stählernen Sarg eingeschlossenen 39 Menschen noch am Leben. | |
| Es überrascht nicht, dass die Lkw-Fahrer auf dem großen Parkplatz beim | |
| Hafen von Zeebrugge noch nie einen Vietnamesen gesehen haben. Wenige | |
| Hundert Meter weiter ragen die blauen Krananlagen der Terminals in den | |
| Himmel, an denen die Container verladen werden. Anders als in Calais wird | |
| die Fracht hier nur abgeliefert, verschifft und an der anderen Seite des | |
| Kanals von einem anderen Fahrer abgeholt. „Seit 2016 der [8][‚Jungle‘ von | |
| Calais] geräumt wurde, ist Zeebrugge sehr wichtig“, erzählt Nick, ein | |
| Fahrer aus Nordengland, beim Tanken. „Wobei wir schon weit vorher auf der | |
| Hut sein müssen. Schon wenn ich in Luxemburg oder Deutschland geladen habe, | |
| probiere ich, bis hierher nicht mehr anzuhalten.“ | |
| Auch Sascha, ein junger mazedonischer Fahrer, berichtet, dass ihm unterwegs | |
| in Richtung Küste regelmäßig Geld dafür angeboten wird, Menschen mit nach | |
| England zu nehmen – „an Raststätten, Autohöfen oder auf einfachen | |
| Parkplätzen“. In Zeebrugge selbst werde seit dem Tod der 39 Vietnamesen | |
| wesentlich strenger und vor allem flächendeckend kontrolliert, sagt Sascha. | |
| Andere Fahrer bestätigen das. Eine Sprecherin des Hafens will sich dazu am | |
| Telefon nicht äußern. „Wir geben zurzeit keinen Kommentar zu dem Thema.“ | |
| GPS-Daten zeigen, dass der in Irland gemietete Anhänger, in dem die 39 | |
| Vietnamesen in den Nacht von 22. auf den 23. Oktober starben, acht Tage | |
| zuvor nach Nordirland und dann zurück über Dublin zum Hafen Holyhead Wales | |
| an der walisischen Küste fuhr. Am 16. Oktober war er unterwegs nach | |
| Dünkirchen, Lille und Brügge, zwei weitere Reisen absolvierte er zwischen | |
| dem europäischen Festland und Großbritannien am 17. und 22. Oktober – bevor | |
| die tödliche Überquerung des Ärmelkanals am Abend dieses 22. Oktober 2019 | |
| begann. | |
| Der in Berlin lebende Mann, den wir den Namen Quynh gegeben haben, sagt, | |
| dass sich weiterhin Menschen aus Zentralvietnam auf den Weg nach Europa | |
| machen werden, trotz des Tods der 39 Menschen, „solange die Regierung nicht | |
| dafür sorgt, dass man ohne Bestechungsgeld einen Jobbekommt“. | |
| Die Britin Debbie Beadle, Mitautorin eines Berichts über vietnamesische | |
| Migration und Programmdirektorin der Organisation Ecpat, ist skeptisch, | |
| dass Vietnam wirklich gegen die Migration vorgehen wird. Denn immerhin 6,6 | |
| Prozent, des vietnamesischen Bruttosozialprodukts stammten aus den | |
| Geldüberweisungen von Migrant*innen. | |
| Pfarrer Simon Thang Duc Nguyen in Ostlondon sieht nur eine Lösung des | |
| Problems: „Das endet erst mit dem Ende des korrupten kommunistischen | |
| Regimes“, glaubt er. | |
| Wenn es einen Punkt gibt, in dem sich alle Organisationen, mit denen die | |
| taz in Großbritannien über das Schicksal der 39 VietnamesInnen sprach, | |
| einig waren, dann ist es die dringende Notwendigkeit einer legalen | |
| Einreisemöglichkeit für Menschen, die sich in Großbritannien oder Europa | |
| mit harter Arbeit Geld verdienen wollen. | |
| 7 Jan 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.essex.police.uk/news/essex/news/news/2019/october/murder-invest… | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=YWitLxvbKtc&feature=youtu.be&fbclid… | |
| [3] https://news.zing.vn/biet-thu-xe-sang-o-xa-co-1500-nguoi-xuat-khau-lao-dong… | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=HxPZTUPhgj0&feature=youtu.be&fbclid… | |
| [5] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2019/11/essex-vietnamesen-in-containe… | |
| [6] /Opfer-von-Menschenhandel/!5614621/ | |
| [7] https://www.theguardian.com/global-development/2019/mar/30/trafficked-vietn… | |
| [8] /Dschungel-in-Calais/!5349565/ | |
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