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# taz.de -- Migration von Vietnam nach Europa: Die Reise in den Tod
> Im Oktober 2019 entdeckt die britische Polizei in einem Kühlcontainer 39
> Tote. Die Vietnamesen sind erstickt. Die taz rekonstruiert ihre Reise.
Bild: Rückkehr im Sarg: Bui Van Diep mit einem Bild seiner verstorbenen Schwes…
London/Berlin/Brüssel/Zeebrügge taz | Durch die Eastern Avenue des
Waterglade Industrieparks in Grays, einer Stadt östlich von London, fährt
selbst am helllichten Tag nur gelegentlich ein Fahrzeug. Die gigantischen
Kühllagerhallen mit ihren Dutzenden Anlaufstellen für Lastwagen scheinen
schon länger leer zu stehen. Hier bot sich am frühen Morgen des 23. Oktober
2019 ein schrecklicher Anblick: In einem Kühlcontainer fand die britische
Polizei [1][39 Leichen]. Ein verwelkter Blumenstrauß am Rande der Straße
neben am Boden liegenden leeren Bierdosen ist heute der einzige Hinweis auf
die Tragödie.
Bei den Todesopfern handelte es sich ausschließlich um Vietnamesen, fand
die Polizei rasch heraus, 31 Männer und 8 Frauen. Kurz vor ihrem Ziel war
den Menschen in dem abgedichteten Container buchstäblich die Luft
ausgegangen. Das geht auf eine Textnachricht einer der Opfer hervor. Pham
Thi Tra My, sie war 26 Jahre alt, meldete sich um 22.28 Uhr britischer Zeit
bei ihrer Mutter in Vietnam. Sie schrieb: „Mama, es tut mir wirklich sehr
leid. Mein Weg ins Ausland ist gescheitert. Ich liebe dich so sehr. Ich
sterbe, denn ich kann nicht mehr atmen. Entschuldige, Mama.“
Ein in Berlin lebender vietnamesischer Migrant, der gegenüber einem
vietnamesischsprachigen Journalisten nur anonym auftreten wollte, vermutet,
dass die 39 Menschen an Bord einfach zu viele für einen einzigen Lastwagen
gewesen seien: Der Sauerstoff würde normalerweise über einen Schlauch von
der Zugmaschine in den Anhänger geleitet. Nach Berichten, die er von
anderen Flüchtlingen erhalten habe, würde der Sauerstoff aber nur zur
Versorgung von höchstens sechs Personen ausreichen.
An der Straße, in der der Container mit seiner menschlichen Fracht vor
knapp drei Monaten aufgefunden worden war, geht der 40-jährige Tony mit
seiner Schäferhündin spazieren. Der Kranführerausbilder, der seinen
Nachnamen nicht veröffentlicht sehen möchte, lebt nicht weit entfernt in
einer der alten Siedlungen für Hafenangestellte. Die Kräne, an denen Tony
arbeitet, heben und senken die Container im Hafen.
## An mangelnder Luftzufuhr qualvoll erstickt
Tony zeigt auf einen am Straßenrand abgestellten Kühlanhänger ohne
Kennzeichen, der an der gleicher Stelle abgestellt ist, wo im Oktober der
Anhänger mit den Toten parkte. Er erklärt: „An der Seite eines normalen
Containers sind Luftschächte angebracht, nicht jedoch bei solchen
Kühlcontainern. Da kommt nichts rein oder raus. So können Spürhunde auch
keine Gerüche wittern, die auf darin verborgene Menschen deuten könnten“,
meint er.
Jakub Sobik von der Organisation Anti-Slavery UK betont, dass gerade die
Verschärfungen an den Grenzen dazu führten, dass MigrantInnen auf derartige
lebensgefährlichen Überfahrten von Menschenschugglern zurückgreifen müssen.
Die taz hat mit einem Reporterteam herauszufinden versucht, welchen Weg die
bei London verstorbenen Menschen von Vietnam nach Großbritannien genommen
hatten.
Wir wollten wissen, was die Verstorbenen motiviert hat, wie die Route
organisiert ist und welche Schlepper dabei eine Rolle spielen. Nicht alle
Fragen können in diesem Text beantwortet werden. Aber einige.
Kinder mit Blumen in den Händen und Tüchern um den Hals säumen den
Straßenrand. Die Einwohner schießen Fotos, als ein Leichenwagen, flankiert
von mehreren Polizisten, in die Gemeinde Do Thanh in der
zentralvietnamesischen Provinz Nghe An einfährt. [2][Videos] auf der
Facebook-Seite der Gemeinde halten fest, wie das Auto an Reisfeldern und
Villen vorbei zum Vorplatz einer großen Kirche fährt. Als sich der Laderaum
öffnet, sind mehrere Särge zu sehen. Die Menschen singen Kirchenlieder.
Eine Trauerrede wird gehalten. Die Glocken der Kirche läuten. Von den bei
London in dem Kühlcontainer aufgefundenen 39 toten Vietnamesen kamen fünf
aus der 15.000 Einwohner zählenden Gemeinde Do Thanh. Ihre Reise endete auf
dem Industriegelände von Grays bei London.
Maurice „Mo“ Robinson lautet der Name des 25-jährigen Fahrers des
Lastwagens, in dem die Toten aufgefunden wurden. Das entsprechende Fahrzeug
ist in Bulgarien registriert, Besitzer ist eine irische Firma. Robinson
hatte den Container, der um 0.30 Uhr in Purfleet am Unterlauf der Themse
angekommen war, um 1.10 Uhr aus dem Hafen in die Eastern Avenue in Grays
gefahren. Um 1.40 Uhr wurden von dort aus die Rettungsdienste verständigt –
von wem, will die Polizei nicht sagen.
Robinson, der wie zwei weitere Beschuldigte aus Nordirland stammt, ist der
mehrfachen fahrlässigen Tötung und der Beihilfe zur illegalen Einwanderung
angeklagt. Letztere hat er vor einem englischen Kriminalgericht gestanden.
Er ist in Haft und hat sich bislang nicht umfangreich geäußert. Nach
Presseberichten hätten die drei Verdächtigen jeweils 1.000 Euro für jede
geschmuggelte Person erhalten sollen – also 39.000 Euro.
Die [3][Gemeinde Do Thanh] in Zentralvietnam war vor zwanzig Jahren ein
armes Dorf von Reisbauern und Tischlern. Dass manche Bewohner heute in
Villen wohnen und neue Autos fahren, liegt an den 10 Prozent der ehemaligen
Dorfbewohner, die heute im Ausland leben und von dort Geld an ihre
Familien, die Kirchengemeinde und an die mit den Lokalbehörden vernetzten
Schlepper und Geldverleiher schicken. Die Gemeinde selbst spricht in
vietnamesischen Medien von 1.450 Personen, die in Europa leben, überwiegend
in Großbritannien, aber auch in Polen, Tschechien und Deutschland, sowie
in Taiwan, Laos und Südkorea.
## Großbritannien, das gelobte Land
Die Vorstellung der Migranten ist, im Ausland reich werden und ihre
Familien in Vietnam mit Geld unterstützen zu können. Nur den wenigsten
gelingt das. Doch speziell in Großbritannien lockt eine Chance: Dort
betreiben vietnamesische Auswanderer Cannabisplantagen auf verlassenen
Bauernhöfen. Wer in die Führungsetage dieser Plantagen aufsteigt, kann
richtig Geld machen.
Wer Großbritannien erreicht, findet dort eine Gemeinschaft von aus Vietnam
stammenden Menschen. Nach Schätzungen der Denkfabrik Runnymede Trust
lebten schon 2007 an die 55.000 Vietnamesen in dem Land, unter ihnen 20.000
ohne Anmeldung. Die offizielle Statistik weist allerdings für 2014 nur
28.000 Personen aus, die in Vietnam geboren wurden.
Simon Thang Duc Nguyen, 52, zählt zur ersten Generation der vietnamesichen
Einwanderer. Sie kamen in den 1970er und 1980er Jahren, als Westeuropa und
Amerika viele Boatpeople aufnahmen. Heute arbeitet Simon als Pfarrer in
Ostlondon. Er nennt einen weiteren Grund dafür, dass Vietnamesen gerade
Großbritannien zum Ziel haben: „Die Behörden und die Polizei sind hier
angenehmer als in anderen europäischen Ländern“, sagt er. Ihm geht es
deshalb in seinen Predigten darum, dass seine Landsleute der britischen
Gesellschaft keinen Schaden zufügen und insbesondere nicht auf den
Cannabisfarmen arbeiten sollen. „Ich betone immer wieder, dass die Briten
gut zu uns sind und dass wir mit dem, was wir hier tun, nicht Unheil
bringen dürfen“, sagt er.
In Berlin ist es dem vietnamesischsprachigen Journalisten Trung Khoa Le
gelungen, mit [4][einem Mann zu sprechen], der seit knapp einem Jahr
illegal in der deutschen Hauptstadt lebt und gemeinsam mit dreien der 39
später in dem Container Erstickten von Zentralvietnam nach Berlin gereist
war. Die Geschichte, die der Mann erzählt, den wir Quynh nennen, klingt
glaubwürdig. Die taz findet die Namen der von ihm genannten Personen,
zweier Männer im Alter von 24 und 26 Jahren und einer 18 oder 19 Jahre
alten Frau, auf der polizeilichen Liste der Todesopfer. Mit der taz mochte
sich Quynh allerdings nicht treffen: Als Illegaler habe er für ein zweites
Interview keine Zeit.
Quynh erzählt über die Verdienstmöglichkeiten in Großbritannien: „Bereits
in Vietnam wussten wir, dass man in Großbritannien von allen europäischen
Staaten das meiste Geld verdienen kann und dass die Gefahr, in eine
Behördenkontrolle zu geraten und dann zurückgeschickt zu werden, viel
kleiner ist als in Deutschland.“ Wer in eine Cannabisfarm einsteigt,
erhalte die ersten sieben Monate zwar nur etwas zu essen. Die Pflanzen
müssen erst wachsen. „Aber danach kann man alle drei Monate mit einer Ernte
rechnen.“
Als einfachen Zimmergärtnern hätten Quynhs Mitreisenden pro Ernte ein
Gewinn von 10.000 bis 15.000 Euro in Aussicht gestanden. Wer aber aus
wohlhabenden Gemeinden wie Do Thanh stamme, deren Vertreter es im illegalen
Cannabisanbau in Großbritannien weit nach oben gebracht hätten, übernehme
Führungsaufgaben und könne mit bis zu 40.000 Euro pro Monat rechnen.
Philip Ishola, Geschäftsführer der britischen Hilfsorganisation Love146,
glaubt, dass die Betroffenen mit ziemlicher Sicherheit auf Cannabisfarmen,
in Nagelstudios, Restaurants oder in Bordellen gelandet wären, hätten sie
die Fahrt überlebt. Einige wären vielleicht auch bei Bekannten
untergekommen.
## Russland, Polen, Deutschland, Belgien
Der Kühlcontainer, in dem die 39 Menschen, die in der Hoffnung auf ein
besseres Leben in Europa erstickt sind, kam aus dem belgischen Hafen
Zeebrugge über den Ärmelkanal nach Großbritannien, das ist sicher. Aber wie
sind die Migrantinnen und Migranten von Vietnam nach Europa gelangt?
Nach Quynhs Bericht seien er und drei der späteren Todesopfer zunächst
legal mit dem Flugzeug von Vietnam nach Russland geflogen. Dort seien
andere Mitglieder der ursprünglich viel größeren Gruppe geblieben: Sie
hätten Verwandte in Russland gehabt und wollten dort Geld verdienen. Die
vier reisten aber weiter.
An der Grenze zur Ukraine habe man zwischen einem VIP-Tarif und dem
Billigtarif zur Weiterreise wählen können. Sie wählten den Billigtarif. Das
bedeutete mehrere Tagesmärsche zu Fuß. Über die Ukraine, Polen und
Tschechien kamen die vier schließlich nach Berlin und fanden dort Arbeit.
Physiklehrer Quynh hilft seitdem Privatpersonen bei ihren Computerproblemen
und repariert elektrische Geräte. Damit kann er genug Geld verdienen, um
die fälligen Raten an seine Schlepper zu zahlen.
Seine drei Mitreisenden hätten weniger Glück gehabt, berichtet Quynh. Die
Frau landete als Anzulernende in einem vietnamesischen Nagellackstudio und
habe lediglich 500 bis 800 Euro im Monat erhalten, das Einkommen der Männer
sei ähnlich niedrig gewesen. Mit derartig dürftigen Löhnen aber hätten sie
niemals die Raten für ihre Schlepper abzahlen können.
## Berlin: Zwischenstation und Ziel
Berlin gilt als wichtige Station für vietnamesische Migranten. Eine ganze
Reihe der in dem Container erstickten Menschen hatte hier Zwischenstation
gemacht, nicht nur die drei Mitreisenden von Quynh. Der Berliner
Rundfunksender [5][RBB] stieß durch Abgleich von Facebook-Profilen auf eine
Frau. Die taz fand eine weitere Person, einen 26-jährigen Mann, der drei
Monate in Berlin gelebt hatte, aber in der Stadt keinen festen Job fand.
Der Berliner Polizei liegen hingegen nach Angaben eines Sprechers keine
belastbaren Informationen darüber vor.
Für einige der vietnamesischen Migranten ist Berlin allerdings nicht nur
Zwischenstation, sondern auch Ziel. Dies gilt besonders dann, so die
Erfahrung von Sozialberatern und Dolmetschern, wenn sie Verwandte in
Deutschland haben oder wenn Frauen auf der Reise von Südostasien nach
Europa schwanger werden. Dass es vor allem Frauen sind, die in Berlin
stranden und ihren Weg in das gelobte Land Großbritannien nicht mehr
fortsetzen, schlägt sich in der amtlichen Statistik der deutschen
Hauptstadt nieder: In Berlin leben 9.300 Frauen und nur 7.300 Männer mit
vietnamesischer Staatsangehörigkeit. Gut 80 Prozent der Vietnamesinnen,
die sich 2019 neu als Asylbewerberinnen in Berlin anmeldeten, [6][waren
schwanger.]
Quynh behauptet, er habe sein Heimatland nach dem Studienabschluss
verlassen, weil er keine Arbeit gefunden habe. „In eine Stelle im
öffentlichen Dienst oder in einem großen Unternehmen hätte ich mich mit
umgerechnet 8.000 Euro Bestechungsgeld einkaufen müssen“, sagt er. Verdient
hätte er maximal 1.000 Euro im Monat.
Quynh nennt auch einen Betrag, die die Schlepper für die Reise nach Europa
verlangen würden: 20.000 Euro hätte die Fahrt bis nach Großbritannien
kosten sollen. Für ihn sei es deutlich billiger geworden, weil er in Berlin
ausstieg. Eine exakte Summe nennt er nicht. Doch für ihn war diese
Investition in ein illegales Leben in Deutschland immer noch attraktiver
als eine Stelle in Zentralvietnam.
Quynh erzählt, wie ausreisewillige VietnamesInnen die Schlepperkosten
aufbringen: Ein häufiger Weg sei ein Bankkredit, für den das Haus oder das
Reisfeld der Familie als Sicherheit dient. Wer wie die 39 dann Umgekommenen
kein Geld verdienen konnte, dessen Familie kann die gesamte Habe verlieren.
Es gebe aber auch inoffizielle Geldverleiher, die hohe Zinsen nehmen.
Früh am Morgen des 23. Oktober wurde die belgische Staatsanwältin Ann
Lukowiak über die 39 Toten in dem Kühlcontainer informiert. „Wenn es einen
Zusammenhang mit Belgien gibt, müssen wir Verantwortung übernehmen“, ist
ihr gleich klar. Den gibt es: Der Container wurde in Zeebrugge verschifft,
im einzigen Hafen des Landes mit Verbindung nach Großbritannien, der daher
bei klandestiner Migration über den Kanal eine wichtige Rolle spielt. Heute
leitet Ann Lukowiak auf belgischer Seite die Ermittlungen, für die sich ein
Joint Investigation Team mit britischen, französischen und irischen
Kollegen gebildet hat.
Belgien, so Ann Lukowiak, ist geografisch bedingt ein logistisches Zentrum
des Schmuggels vietnamesischer Migranten. Die Staatsanwältin bestätigt
den Preis, den der in Berlin lebende Quynh für den Menschenschmuggel
genannt hat. „Wer über Land von Russland aus hierherkommt und unterwegs
arbeitet, kann dafür zwei Jahre brauchen. Auch die Balkanroute wird hier
benutzt. Wer mehr Geld hat, fliegt von China zuerst nach Paris. Diese Route
kostet 40.000 Dollar, die russische 25.000. Das Stück von Brüssel nach
England kostet 5.000 Euro. Hier sind auch kurdische Netzwerke beteiligt. In
letzter Zeit sehen wir noch eine südliche Route: per Flugzeug von Vietnam
nach Abu Dhabi und weiter nach Marokko oder Spanien. Von dort geht es nach
Paris und Brüssel, mit Bus, Zug, Lkw oder Auto oder mit falschen Dokumenten
mit dem Flugzeug.“
2016 rollte die belgische Polizei ein Schmuggelnetzwerk auf, das aus fünf
Vietnamesen bestand. Über ein Safe House in Brüssel schleusten sie
vietnamesische Migranten, aus der Ukraine kommend, nach England. Weil es
dabei auch um Minderjährige ging, wurde der Hauptverdächtige zu zehn Jahren
Haft verurteilt. Derzeit, so Ann Lukowiak, intensiviere man die
Zusammenarbeit mit Vietnam, Polen und der Ukraine. Man untersuche, ob
Schmuggler in Belgien auch auf Safe Houses in Frankreich zurückgreifen.
„Klar ist: Die Vietnamesen sind keine Parkplatzleute. Sie haben eigene
Orte, wo sie in Lkws steigen, oft direkt hinter der französischen Grenze.
Das kann irgendeine Sackgasse sein oder eine Wiese.“
Informationen über die Weiterreise der drei später bei London Verstorbenen
aus seinem Dorf von Berlin nach Großbritannien besitzt Quynh nur in
Bruchstücken: Von Berlin sei es zuerst mit dem Auto nach Ostfrankreich
gegangen, dort seien die drei einer neuen Schleuserorganisation übergeben
worden. Erneut hätten sie zwischen einer VIP- und der Billigroute wählen
können. Weil seine drei Bekannten die beschwerlichen Fußmärsche der
Billigroute bis Berlin in unangenehmer Erinnerung hatten, wählten sie
diesmal die VIP-Route: mit dem Kühlcontainer.
Eine der Spuren, die Einzelne der Opfer auf ihren Wegen durch Europa
hinterlassen haben, führt in das Dorf Cadier en Keer in einem entlegenen
Winkel der Niederlande. Gleich der erste Hügel östlich von Maastricht
beherbergt eine Ansammlung von Einrichtungen: ein Jugendgefängnis, eine
Suchtklinik und einige eingezäunte, in den Hang gebaute Backsteinhäuser, wo
Jugendliche mit familiären Problemen untergebracht sind. „Die beiden
einzigen ohne Zaun haben wir vermietet. Dort sind junge Asylbewerber
untergebracht“, sagt ein Mitarbeiter, der eine Runde mit dem Hund dreht.
Nichts weist darauf hin, dass hier schutzbedürftige jugendliche Geflüchtete
untergebracht sind, die, wie es heißt, vor Menschenschmugglern verborgen
werden sollen. Am Abend des 16. August verschwinden hier sechs
vietnamesische Teenager: zwei Mädchen und vier Jungen. Ein internes
Dokument der Heimleitung, das der taz vorliegt, zeigt, dass Mitarbeiter an
jenem Tag im Oktober Zeichen eines bevorstehenden Aufbruchs wahrnehmen. Da
das Heim jedoch kein geschlossenes ist, kann dieser nicht verhindert
werden.
In der Nacht sucht ein niederländischer Polizeihubschrauber vergeblich ein
nahes Maisfeld ab. Laut dem Report hätten sich die Jugendlichen dort
versteckt, bis sie von einem Auto abgeholt wurden. Der Report ist nicht
öffentlich und macht keine näheren Angaben, genau wie die Heimleitung und
die für die Unterbringung von Asylbewerbern zuständige Behörde. Außer dass
Letztere einen Monat nach dem Fund des Containers bekannt gibt, dass einer
der sechs Teenager unter den 39 Toten von Grays ist. Sein Name wird nicht
bekannt gegeben.
In den Niederlanden [7][verschwanden seit 2013 über 60 junge Vietnamesen
aus solchen Heimen].
Staatsanwältin Ann Lukowiak weiß, dass oft vor Fragezeichen steht, wer sich
mit vietnamesischer Transitmigration nach Großbritannien beschäftigt.
„Vietnamesen sind eine besondere Gruppe. Ihr Transport geschieht im
Verborgenen“, erklärt die mit Menschenschmuggel befasste Expertin am Sitz
ihrer Behörde in Brüssel. „Meist gelingt es ihnen, unter unserem Radar zu
bleiben. Aber seit einigen Jahren treffen wir ab und zu eine Gruppe in
Containern oder Lkws an, immer etwa 10 bis 15 Personen.“
## In Zeebrugge wird jetzt schärfer kontrolliert
Am 22. Oktober um 14.49 Uhr wird der Kühlcontainer mit seiner menschlichen
Fracht bei der Ankunft in Zeebrugge nach Auskunft der belgischen
Staatsanwaltschaft registriert. Noch am selben Nachmittag verlässt er den
Hafen wieder an Bord eines Schiffs. Es geht nach Purfleet in England. Da
sind die in dem stählernen Sarg eingeschlossenen 39 Menschen noch am Leben.
Es überrascht nicht, dass die Lkw-Fahrer auf dem großen Parkplatz beim
Hafen von Zeebrugge noch nie einen Vietnamesen gesehen haben. Wenige
Hundert Meter weiter ragen die blauen Krananlagen der Terminals in den
Himmel, an denen die Container verladen werden. Anders als in Calais wird
die Fracht hier nur abgeliefert, verschifft und an der anderen Seite des
Kanals von einem anderen Fahrer abgeholt. „Seit 2016 der [8][‚Jungle‘ von
Calais] geräumt wurde, ist Zeebrugge sehr wichtig“, erzählt Nick, ein
Fahrer aus Nordengland, beim Tanken. „Wobei wir schon weit vorher auf der
Hut sein müssen. Schon wenn ich in Luxemburg oder Deutschland geladen habe,
probiere ich, bis hierher nicht mehr anzuhalten.“
Auch Sascha, ein junger mazedonischer Fahrer, berichtet, dass ihm unterwegs
in Richtung Küste regelmäßig Geld dafür angeboten wird, Menschen mit nach
England zu nehmen – „an Raststätten, Autohöfen oder auf einfachen
Parkplätzen“. In Zeebrugge selbst werde seit dem Tod der 39 Vietnamesen
wesentlich strenger und vor allem flächendeckend kontrolliert, sagt Sascha.
Andere Fahrer bestätigen das. Eine Sprecherin des Hafens will sich dazu am
Telefon nicht äußern. „Wir geben zurzeit keinen Kommentar zu dem Thema.“
GPS-Daten zeigen, dass der in Irland gemietete Anhänger, in dem die 39
Vietnamesen in den Nacht von 22. auf den 23. Oktober starben, acht Tage
zuvor nach Nordirland und dann zurück über Dublin zum Hafen Holyhead Wales
an der walisischen Küste fuhr. Am 16. Oktober war er unterwegs nach
Dünkirchen, Lille und Brügge, zwei weitere Reisen absolvierte er zwischen
dem europäischen Festland und Großbritannien am 17. und 22. Oktober – bevor
die tödliche Überquerung des Ärmelkanals am Abend dieses 22. Oktober 2019
begann.
Der in Berlin lebende Mann, den wir den Namen Quynh gegeben haben, sagt,
dass sich weiterhin Menschen aus Zentralvietnam auf den Weg nach Europa
machen werden, trotz des Tods der 39 Menschen, „solange die Regierung nicht
dafür sorgt, dass man ohne Bestechungsgeld einen Jobbekommt“.
Die Britin Debbie Beadle, Mitautorin eines Berichts über vietnamesische
Migration und Programmdirektorin der Organisation Ecpat, ist skeptisch,
dass Vietnam wirklich gegen die Migration vorgehen wird. Denn immerhin 6,6
Prozent, des vietnamesischen Bruttosozialprodukts stammten aus den
Geldüberweisungen von Migrant*innen.
Pfarrer Simon Thang Duc Nguyen in Ostlondon sieht nur eine Lösung des
Problems: „Das endet erst mit dem Ende des korrupten kommunistischen
Regimes“, glaubt er.
Wenn es einen Punkt gibt, in dem sich alle Organisationen, mit denen die
taz in Großbritannien über das Schicksal der 39 VietnamesInnen sprach,
einig waren, dann ist es die dringende Notwendigkeit einer legalen
Einreisemöglichkeit für Menschen, die sich in Großbritannien oder Europa
mit harter Arbeit Geld verdienen wollen.
7 Jan 2020
## LINKS
[1] https://www.essex.police.uk/news/essex/news/news/2019/october/murder-invest…
[2] https://www.youtube.com/watch?v=YWitLxvbKtc&feature=youtu.be&fbclid…
[3] https://news.zing.vn/biet-thu-xe-sang-o-xa-co-1500-nguoi-xuat-khau-lao-dong…
[4] https://www.youtube.com/watch?v=HxPZTUPhgj0&feature=youtu.be&fbclid…
[5] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2019/11/essex-vietnamesen-in-containe…
[6] /Opfer-von-Menschenhandel/!5614621/
[7] https://www.theguardian.com/global-development/2019/mar/30/trafficked-vietn…
[8] /Dschungel-in-Calais/!5349565/
## AUTOREN
Marina Mai
Daniel Zylbersztajn
Tobias Müller
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