Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Meg Stuarts „Celestial Sorrow“: Gib mir dein Schaudern
> Meg Stuarts „Celestial Sorrow“ im Berliner HAU geht es um den Balanceakt
> des Lebens. Bald wird der belgischen Tanzgruppe die Finanzierung gekürzt.
Bild: Unter dem Glühbirnenhimmel von Jompet Kuswidananto in „Celestial Sorro…
Es gibt zwei Arten von Smalltalk: die der Selbstgewissen, die mit einer
prononcierten Stimme, als wüsste sie alles vom Leben und von Konversation,
in jedem Satz eine Pointe setzen. Und die von Zweiflern, die eher wie
Seiltänzer über einem Abgrund von Hintersinnigkeiten, Fehlleistungen und
Lapsus balancieren und sich bei jedem Gespräch einen Arm brechen, wenn
niemand sie auffängt. Und Mischformen und stimmungsabhängige Switches gibt
es natürlich auch.
In Stücken von [1][Meg Stuart], auch in ihrer jüngsten Berlin-Premiere
„Celestial Sorrow“ am [2][HAU] 2, sind es eher die Seiltänzerexistenzen,
die wirken, als hätten sie sich strauchelnd, fallend, verwundet,
verwundert, verzweifelt, mit spielerischem Vertrauen genauso wie mit der
Hingabe an exiszentielles Scheitern in etwas hineingebrabbelt.
Sehr tief verbrabbelt und doch nicht tief genug, damit eine Philosophie
daraus würde. Oder zu quirlig dazu, mit dem Wissen, dass es keine
Philosophie des Überlebens gibt, sondern nur Überleben. Es ist immer ein
abgründiges Brabbeln – in Worten, Zuständen, Bewegungen, Ritualen,
Beschwörungen – bei Meg Stuart, ein Sich-in-Bewegung-Halten, ein
Sich-im-Arm-Halten, ein Den-Ball-im Spiel-Halten und eine Angst, all das zu
verlieren.
Wie begründet diese Angst auch auf materieller Ebene sein kann, bewies die
flämische Politik der letzten Monate. Der neue Ministerpräsident kürzte in
einer populistischen Attacke auf Kunst und Kultur auch Meg Stuarts bereits
unter einer demokratisch berufenen Kommission der Vorgängerregierung
zugeteiltes fünfjähriges Produktionsbudget kurzerhand für die restlichen
zwei Jahre der Laufzeit um 6 Prozent.
## Existenziell gefährdet
Das entspricht den Kosten einer gesamten Produktion. Die Produktionen für
2020 sind allerdings schon längst geplant und die Vorarbeiten im vollen
Gang. Stuarts Management bleibt daher nichts, als die Option eines
Defizithaushaltsjahrs in Erwägung zu ziehen.
Es sei denn, die flämische Regierung rudert ob der anhaltenden Proteste,
die noch weit krassere Einschnitte wie eine 60-prozentige
Projektmittelkürzung betreffen, doch noch zurück. Ansonsten werden die
innovative Kunst-und-Performance-Szene Belgiens, das Einzige, was dieses
europäische Land neben seinem brutalen Kongo-Kolonialismus je weltweit
bekannt gemacht hat, nicht klanglos, sondern mit einem großen letzten Krach
den Orkus hinabgehen.
Sich vorzustellen, dass Stücke wie das am Brüsseler Kaaitheater
uraufgeführte „Celestial Sorrow“ in Zukunft nicht mehr produziert werden
können, bedeutet schlicht weniger Leben. Weniger Balancieren. Weg frei,
für alle, die schon alles wissen. Abgrund frei, für alle, die noch suchen.
Abgrund frei für diese vielleicht beste Rolle, die Jule Flierl je performt
hat. Nie war die Berliner Stimmtänzerin so in ihrem Element wie in dieser
Dreierkonstellation mit Claire Vivianne Sobottke und Gaëtan Rusquet. Mit
Sobottke teilt sie eine Existenz zwischen Tramp und Vamp, sie in
genderneutraler Schichtengarderobe mehr das eine, jene mit trotzig freier
Schulter mehr das andere, sie eher schamanenhaft beherrscht, jene eher
exorzistisch hingegeben.
## Unter dem Glühbirnenhimmel
Es beginnt mit langsamen Drehungen, die im Mittelpunkt der Erde anzusetzen
scheinen, bei geschlossenen Augen und unter dem etwas zu dekorativen
Glühbirnenhimmel (1.200 Stück) des bildenden Künstlers Jompet Kuswidananto.
Die Brüste heben sich, verstärkte Atemgeräusche mischen sich mit den
liegenden Schweltönen von Ikbal Simamora Lubys’ E-Gitarre, werden in Mieko
Suzukis Life-Soundscape Teil einer Atmosphäre, in der sich die Aura von
Flora und Fauna, Geistern und Materie mischt und beschläft.
Aus dieser Sphäre scheint Jule Flierls skulpturales gesangliches Brabbeln
zu kommen. Ihr durch somatische und gesangliche Techniken trainierter
Stimmapparat dehnt sich im Körper, im Raum aus, es knarzt, es jault, es
echot, es donnert, es stürmt in der Stimme.
Mongolischer Kehlkopfgesang trifft auf Death Metal, Schamanismus auf Punk,
und doch ist es etwas Eigenes, aus dem Moment Geschaffenes und im Moment
Austariertes, der Schönheit des Schrecklichen eher als der des Lieblichen
hingegeben. Aus der Beherrschung heraus ohne Angst, trotzdem aber als
Gratwanderung des Kräftemessens. Schrecken, gib mir dein Schaudern, ich geb
dir meines.
Besonders Jule Flierl und Gaëtan Rusquet beherrschen, beide tief geerdet,
eine Gegenrhythmisierung von Suzukis Klanglandschaft, während Sobottke eher
das wirbelnde, taumelnde Disco Girl gibt. Rusquet rudert sich gegen die
Strömung durch den Raum, Flierl stampft und kickt, legt den Oberkörper in
die Waage, lehnt sich nach vorn, bricht nach hinten weg, eine elastische
Off-Balance die den Boden sich in Resonanz wölben lässt.
## Das Best-of einer DDR-Kindheit
Und zwischendrin, wenn über intime Fotos aus dem Archiv der Performer*innen
geplaudert wird, gibt sie wieder ein lakonisches Best-of ihrer DDR-Kindheit
preis: die in die Brennnesseln hängenden Brüste ihrer FKK-Gartenoma. Ein
Bild, das man nicht gesehen haben muss, um es ins kulturelle Gedächtnis
eingehen zu lassen, DDR-Oma, made in Flanders.
Es gelingt nicht jede Nuance der Performance. Die punktuelle Einbeziehung
des Publikums fühlt sich nicht freilassend genug an, der Alu-Glitzerpelz
von Sobottke gehört inzwischen in die Mottenkiste performativer fanciness,
der Bezug von [3][Kuswidanantos] Glühbirnen erschließt sich nicht ganz,
auch wenn sie ein schönes Licht geben.In der zeitgleich entstandenen
Installationen „On Paradise“ hat der bildende Künstler von der Decke
gestürzte Lüster als Metapher für die einstige indonesische Rebellion gegen
die Kolonialherrn über den Boden verteilt.
„Celestial Sorrow“ ist im Kontext der Brüsseler Europalia-Biennale
entstanden, wo Indonesien 2017 Gastland war. Vielleicht verweist das
hängende Lichtermeer nun darauf, dass nicht alle Sterne vom Himmel gefallen
sind, und spricht gleichzeitig eine Einladung aus, Trauma und Heilung
gemeinsam anzugehen.
Nach Gitarrenriffs und einem faszinierenden Vamp-Solo schiebt Claire
Sobottke als Mutter Courage im Himmel einen Lichterwagen herein, es wird
ein populäres indonesisches Lied gesungen, wie vorsichtig die Einladung
annehmend, mit dem Wissen um den Unterschied zwischen Poesie und
Budenzauber.
16 Dec 2019
## LINKS
[1] /Dialog-mit-dem-Tanz/!5522943
[2] /Gruenderinnen-des-PorYes-Festivals/!5629684
[3] /Ausstellung-indonesischer-Kunst/!5238141
## AUTOREN
Astrid Kaminski
## TAGS
Performance-KünstlerIn
Hebbel am Ufer
Belgien
Kulturpolitik
Tanz
Tanz
Chroeografie
Zeitgenössischer Tanz
Kulturpolitik
Kunst
Indigene
## ARTIKEL ZUM THEMA
Tanzperformance des Ensembles Dance On: Eine Reise durchs Düstere
Choreografin Meg Stuart, Tänzerin Omagbitse Omagbemi und Klangkünstlerin
Mieko Suzuki begeben sich im Berliner HAU auf die Suche nach Verbindung.
Ligia Lewis über Corona und Theater: „Ich mag Monster“
Ein Gespräch mit der Choreografin Ligia Lewis über die Geschichte der
Sklaven und die Bedeutung des Unbekannten für ihre Arbeit.
Tanzplattform Deutschland: Erkundung einer diversen Landschaft
Kann Tanz Politik verhandeln? Die Tanzplattform Deutschland in München gab
darauf viele unterschiedliche Antworten.
Budgetkürzung in Belgien: Kulturkampf der Rechten
Die flämische Regierung hat das Budget für Kultur gekürzt, die für eine
offene Gesellschaft steht. Die Szene protestiert.
Festival für Disability Art „No Limits“: „Gut, wenn es kompliziert wird�…
Michael Turinsky ist Kurator des internationalen Festivals „No Limits“ und
stellt Forderungen: sowohl ans Publikum wie an die Künstler*innen.
Aktivistin über Brasilien und Bolsonaro: „Kolonialismus beginnt im Kopf“
Die Aktivistin Célia Xakriabá spricht über den Kampf, den Indigene in
Brasilien führen müssen. Es geht um das Land, Wissen und die pure Existenz.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.