| # taz.de -- Ligia Lewis über Corona und Theater: „Ich mag Monster“ | |
| > Ein Gespräch mit der Choreografin Ligia Lewis über die Geschichte der | |
| > Sklaven und die Bedeutung des Unbekannten für ihre Arbeit. | |
| Bild: „Berührung ist etwas so wesentliches“, sagt die Choreographin Ligia … | |
| Ligia Lewis widmet sich als Choreografin dem Unheimlichen, | |
| Unaussprechlichen, Unbegreiflichen. Sie findet diese Stoffe durch einen | |
| genauen Blick in die westliche Kunst- und Theatergeschichte. Im Interview | |
| spricht sie von Los Angeles aus über Rückzugsorte und das Untergraben von | |
| europäischem Universalismus. | |
| taz: Ligia Lewis, Sie sitzen zurzeit wegen Corona in Los Angeles fest. | |
| Warum dort? | |
| Ligia Lewis: Ich kam gerade aus Paris, wo die Aufführungen meiner Stücke | |
| abgesagt wurden. In L. A. war die Situation noch unklar. Ich sollte | |
| eigentlich an einer neuen Arbeit für die Made in L. A. Biennale arbeiten. | |
| Inzwischen wurde sie natürlich verschoben. Aber die Stadt ist in den | |
| letzten Jahren zu einer Art zweiten künstlerischen Heimat für mich | |
| geworden. Auch wohnen inzwischen meine ältere Schwester und mein | |
| Zwillingsbruder hier. | |
| Wie ist die Stimmung? | |
| Es fühlt sich drückend an. Wie bekannt ist, waren die USA sehr spät dran | |
| mit Auflagen zum Schutz der Bevölkerung. Was verrückt ist in einem System, | |
| in dem es keine Krankenversorgung für alle gibt. Als die Auflagen dann | |
| kamen, kamen sie vehement. Ich darf nur zum Essenkaufen raus, dazu muss ich | |
| Maske und Handschuhe tragen. Die Parks, die Strände sind dicht, kein Sport | |
| draußen. Los Angeles wirkt wie eine Geisterstadt. Gleichzeitig leben sehr | |
| viele obdachlose Menschen hier, und wir wissen, dass sich das Virus vor | |
| allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten, auch unter den People of Color, | |
| ausbreitet, was viel über die sozioökonomische Realität des Systems | |
| erzählt. Die Krise stellt ganz deutlich aus, was strukturell in diesem Land | |
| nicht gut läuft. | |
| Wie ist die Situation für die Kunstwelt? | |
| Schwierig. Es gibt, anders als in Deutschland, keinerlei unterstützende | |
| Systeme. Das wirft Menschen sehr auf ihre individuellen sozioökonomischen | |
| Kontexte zurück und jede_r ist sozusagen mit der Krise allein. | |
| Ihr jüngstes Stück [1][„Water Will (in Meldoy)“] könnte man für das St�… | |
| der Stunde halten, auch wenn es nicht im Kontext der Virologie entstand. | |
| Sie arbeiten stark mit der Angst vor dem Unheimlichen, mit der Unsicherheit | |
| des Nichtwissens. | |
| Es ist dunkel, gothic, grotesk, viktorianisch, dystopisch. Es fühlt sich | |
| an, als hätte die Krise mein Stück realer gemacht. Meine Arbeit findet im | |
| Kontext einer jahrhundertelangen Geschichte von Rassenterror statt, aber | |
| sie ist mehr als nur „schwarz“ und „weiß“. Sie spielt mit den | |
| Bedeutungsebenen dieser Kategorien, um die Erfahrung von Menschen zu | |
| verhandeln, die sich außerhalb herrschender Kategorien befinden. | |
| Der Ausdruck davon ist in Europa und den USA unterschiedlich. | |
| In den [2][USA ist Rassismus] offensichtlich. In Europa dagegen sind die | |
| Dinge unterschwelliger, psychologischer. Es herrscht eine Art | |
| Universalismus, der jedoch für all diejenigen nicht gilt, die nicht ins | |
| Konzept weißer Subjektivität passen. | |
| Ihr Ausgangspunkt ist die Geschichte des Spektakels. | |
| Ja, vor allem in einem amerikanischen Kontext, wo die sogenannte Minstrelsy | |
| ihren Einzug ins Entertainment durch Blackfacing, und damit gewaltbeladene | |
| Charakterisierungen Schwarzer Menschen, fand. Die Minstrelsy bediente sich | |
| einer performativen Grammatik, die ursprünglich von Schwarzen Menschen als | |
| Form von expressivem Widerstand und Unterhaltung füreinander entwickelt | |
| wurde. | |
| Aber an dem Punkt, an dem diese [3][Ästhetiken in Hollywood] Einzug | |
| erhielten, entstand diese sehr brutale Konstruktion von Schwarzsein. Darum | |
| schreien die deutsche Schauspielerin Susanne Sachsse und ich den | |
| provozierenden Satz „Whitey has to die!“. Weißes Patriarchat muss sterben. | |
| Als Symbol. Damit etwas anderes hervortreten kann. Und zwar im Theater, | |
| innerhalb dieser jahrhundertealten Praxis des Sehens, dieses fürchterliches | |
| Blicks, der besagt, „weiß“ bedeutet dies und „schwarz“ das. Die Etymol… | |
| des Theaters hat mit Sehen, mit dem Blick auf den anderen, zu tun. | |
| Wäre es dann nicht konsequent, um sich aus den Politiken der Sichtbarkeit | |
| zu bewegen, das Theater zu verlassen? | |
| Ja und Nein. Ich glaube immer noch an Aufführungen und Verkörperungen im | |
| Theater. So viel kann an diesem „Ort des Sehens“ danebengehen, aber vieles | |
| wird auch erst noch passieren. Das Theater ist ein perfekter Ort, um | |
| Geschichte und andere Zeitphänomene zu befragen, sie zu antagonisieren, um | |
| Neues entstehen zu lassen. Damit spiele ich, wenn ich sage: „Ich verlasse | |
| den Rahmen.“ Wir ziehen uns dann in die Dunkelheit zurück, in eine dunkle, | |
| feuchte Höhle. Ich liebe es, expressive Konzepte aus Problemen und Fragen, | |
| die sich mir stellen, zu entwickeln. Unser Rückzug, der Moment der | |
| Fugitivität, wird zu einer Möglichkeit, mit dem Verhältnis von Sichtbarem | |
| und Unsichtbarem zu spielen. | |
| Sie haben Fugitivität erwähnt. Dazu gibt es weitere Hinweise in „Water | |
| Will“, die mit Schwarzer Geschichte, zu tun haben, die hier wenig bekannt | |
| ist. | |
| Die sogenannten Swamplands [Sumpfgegenden der Südstaaten] sind ein | |
| wichtiges Symbol, ein Tropus für Schwarze Fugitivität. Es war notwendig, | |
| dass diese Orte dunkle Räume waren, Räume, wo geflüchtete Sklaven sich | |
| verstecken und andere Lebensformen entwickeln konnten. Gewissermaßen | |
| benutze ich das Wissen darum, um meine Poetik zu entwickeln. Es befeuert | |
| meine persönliche Romanze mit dem Unbekannten, Versteckten, nicht sofort | |
| Durchschaubaren. Wie können wir das Nichtsichtbare Teil des Sehens werden | |
| lassen? Wie können wir das, was außerhalb der Grenzen des Sprachlichen | |
| stattfindet, zulassen? Oder auch: Wie können wir Handlungsfähigkeiten an | |
| Körper verleihen, die außerhalb des Blicks, der Ordnung des Blicks, fallen? | |
| Illustriert durch Grimms Märchen „Das eigensinnige Kind“ zeigen Sie in | |
| Ihrem Stück Gehorsamsmoral als Antwort auf die Unsicherheiten, die | |
| entstehen, wenn wir dem Unbekannten, Nichtidentifizierbaren ausgeliefert | |
| sind. | |
| Das ist der Stoff von Fabeln und Märchen. Sie bauen auf Gehorsamkeitsmoral | |
| auf: Verhalte dich so, wie die Welt es für dich bestimmt. Aus dieser | |
| Selbstverkapselung brechen wir aber aus, so weit, dass wir zu Monstern | |
| werden. Ich mag Monster. Ich fühle mich manchmal wie eines. Sie stören die | |
| Ordnung der Dinge. | |
| Nun ist Gehorsam das Gebot der Stunde zu Corona-Zeiten. | |
| Es kommt auf die Art von Gehorsam an, über die wir sprechen. Ich tendiere | |
| zu sozialem Anarchismus. Aber wenn wir über Fürsorge sprechen, dann ist es | |
| etwas anderes als blinder Gehorsam. Niemals würde ich social distancing | |
| außerhalb des Rahmens einer Pandemie akzeptieren. Berührung ist etwas so | |
| Wesentliches! | |
| Vielleicht fehlt uns auch die Fantasie für eine sinnvolle Art des Störens | |
| der Ordnung? | |
| Diese Möglichkeit sollten wir einbeziehen, wenn wir in unseren Häusern | |
| sitzen und darüber nachdenken, wie wir auf das, was sicherlich jetzt kommen | |
| wird –Wirtschaftskrise, neuer Konservatismus – reagieren können. | |
| Dieses Nachdenkenkönnen ist ein Privileg weniger. | |
| Ja, solange es ein Privileg ist, sollten die von uns, die es haben, sehr | |
| verantwortungsvoll damit umgehen. | |
| Eigentlich ist Berlin derzeit Ihr Zuhause. Zeitweise waren auch all Ihre | |
| Geschwister hier und haben im Kulturleben mitgemischt. Was macht Berlin so | |
| interessant für Sie? | |
| Das kulturelle Angebot. Und die Tendenz der Kunst- und Kulturszene, | |
| politisch zu denken und zu arbeiten. Die Stadt versammelt viele Leute, die | |
| unzufrieden sind mit den Bedingungen und den politischen Systemen, unter | |
| denen sie aufwuchsen oder unter denen sie lebten und die Berlin als | |
| Möglichkeit sehen, Dinge anders zu machen. Es ist eine Stadt der | |
| Dissidenten. | |
| Haben Sie von den Rauchwolken über dem Berliner Humboldtforum letzte Woche | |
| gehört? Und, bevor sie sich als harmlos herausstellten, auch erst gedacht, | |
| dass es ein Sabotage-Akt der Kunstszene war? | |
| Hm. Zurzeit scheint Karma sehr interessante Ausdrucksformen zu finden. | |
| 19 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
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