| # taz.de -- Tanzplattform Deutschland: Erkundung einer diversen Landschaft | |
| > Kann Tanz Politik verhandeln? Die Tanzplattform Deutschland in München | |
| > gab darauf viele unterschiedliche Antworten. | |
| Bild: Szene aus „Unstern“ von Moritz Ostruschnjak | |
| MÜNCHEN taz | Politik ist Trumpf bei Festivalmachern. Von der Berlinale bis | |
| zum Regiefestival Radikal jung: Überall klopft man sich derzeit selbst auf | |
| die Brust und will politisch sein – und zwar immer politischer als die | |
| Jahre zuvor. Es steckt mindestens ebenso viel Sehnsucht wie | |
| Zustandsbeschreibung in dieser Überbietungsdramaturgie. Und man versteht’s. | |
| Die Welt brennt. Da braucht es Antworten, kondensierte Fragen oder Bilder | |
| davon, wie Gesellschaft aussehen könnten. Sind Utopien politisch? Und | |
| welches Potenzial zum Modell steckt in einer Kunstform, deren Gelingen die | |
| koordinierte Aktion einer Gruppe von Menschen voraussetzt? | |
| Bei der Tanzplattform Deutschland 2020, die vom 4. bis 8. März ihr | |
| 25-jähriges Bestehen in München feierte, konnte man nun auskundschaften, | |
| wie es die Kunstform mit dem Politischen hält, in der vor allem die Körper | |
| sprechen. Das Best oder Interesting of des zeitgenössischen Tanzes kündete | |
| laut und leise, unverblümt und indirekt von der Welt, in der wir leben. Und | |
| zwar zuallererst von ihrer Internationalität. | |
| Es ist die deutsche Tanzlandschaft, die sich hier einem von weither | |
| angereisten Fachpublikum öffnet. Und doch wird auf ihren Bühnen viel | |
| Englisch, Spanisch, Serbisch gesprochen. Heute Tanz produzieren heißt | |
| koproduzieren. Die Landschaft ist divers. Und die, die sich in ihr bewegen, | |
| sind es auch. | |
| So lässt etwa der [1][Choreograf Saša Asentić] Künstler mit Handicap auf | |
| Schlüsselszenen der Tanzgeschichte treffen, die den Blick auf den Körper | |
| veränderten. In „DIS_SYLPHIDE“ interpretiert Natalija Vladisavljevic Mary | |
| Wigmans „Hexentanz“ und Jelena Stefanovska schlüpft unter anderen in die | |
| Szene von Pina Bauschs „Kontakthof“, in der eine Frau überall angetatscht | |
| wird, ohne sich zu wehren. Danach erkundet sie ihre Gefühle dabei. | |
| Ihre fast feierliche Hyperreflexivität macht die Performance über | |
| kulturelle Teilhabe behäbig. Indem sie jedoch [2][vom Sprechen für die | |
| behinderten Akteurinnen zum Sprechen mit ihnen voranschreitet], macht sie | |
| Verhaltensweisen transparent, die wir allzu leicht gegenüber vermeintlich | |
| Schwächeren an den Tag legen. Und zeigt danach, wie es besser ginge – wenn | |
| auch mit pädagogischem Impetus. | |
| ## Reise durch die Popgeschichte | |
| Lustvoller stößt Joana Tischkau zum Kern der Rollenbilder-Problematik vor. | |
| Für „Playblack“ hat sich die junge afrodeutsche Choreografin auf eine Reise | |
| durch die Popgeschichte begeben. Was sie darin über PoC und „Black Culture“ | |
| fand, hat sie zu einer Ton-Collage verschnitten, in der Rihanna in | |
| Endlosschleife nach ihrer kulturellen Identität gefragt wird („What are | |
| you?“), Haftbefehl seine Gangsta-Texte rappt und sich die Sehnsucht nach | |
| Ganja-Lässigkeit mit dem Bild der Ghettokultur beißt. Drei Tänzerinnen, | |
| darunter die Choreografin selbst, liefern zu diesem Soundtrack Mund- und | |
| Tanzbewegungen. | |
| Im „erotischen“ Konstrukt von Michael Jacksons Hüftschwung, in der | |
| breitbeinigen Macho-Pose, in der „Daddy cool“-Bobby Farrell auf der | |
| Talkshow-Bank sitzt, und auch in „Onkel Thomas“ Gottschalks | |
| hypervoluminöser blonder Lockenperücke werden sexistische und rassistische | |
| Stereotype vergrößert oder gespiegelt. Einer zusätzlichen kommentierenden | |
| Ebene bedarf es nicht, um eine Klischeereproduktionsmaschinerie zu | |
| entlarven, die auch in eher unverdächtige Songs wie Nina Hagens „Afrikan | |
| Raggae“ ihre Tentakeln schlägt. Das ist mehr als genug für eine | |
| Masterarbeit. | |
| Die diesjährige Tanzplattform ist ihrem Ruf als Entdecker-Plattform gerecht | |
| geworden. Während durchgesetzte Ensembles wie Gintersdorfer/Klaaßen | |
| selbstgefällig witzelnd durch das Feld der kulturellen Appropriation | |
| pflügen – wenn auch mit scheinbar umgekehrten Vorzeichen, weil die | |
| ivorischen Tänzer sich in „Kabuki noir“ die Bewegungssprache der „weiße… | |
| (?) Kunst des japanischen Kabuki aneignen (wobei der Name des Meisters, bei | |
| dem sie Unterricht genommen haben, im Programmheft fehlt) –, gibt es viele | |
| junge gelungene Produktionen, die mit Verlautbarung geizen. Selbst dann, | |
| wenn ihr Thema dezidiert politisch ist. | |
| ## Posthumane Zukunft | |
| So liefert etwa der Münchner Choreograf Moritz Ostruschnjak in seinem Stück | |
| „Unstern“ ein tänzerisches Mosaik zu einer | |
| nationalistisch-männerbündlerischen Stimmung, die unsere Zeit mit der vor | |
| dem Ersten Weltkrieg verbindet. Den brüchigen, mit gegensätzlichen Energien | |
| operierenden Bildern lässt sich kein Schlagzeilen-Äquivalent entlocken. Sie | |
| regen zum Selberdenken an. Ist das nicht auch politisch? | |
| Und was ist mit streng formalen Arbeiten wie „Vis motrix“? In dem Stück des | |
| Bonner Ensembles Cocoon Dance schieben sich vier Tänzerinnen in Rückenlage | |
| über ein weißes Bühnenquadrat. Ihre minimalistischen, nur ganz allmählich | |
| größer werdenden alien- bis ameisenhaften Bewegungen geben den Blick frei | |
| in eine beängstigend faszinierende post- oder transhumane Zukunft. Für | |
| diesen Blick verschwindet die stupende Tanztechnik, deren vollkommene | |
| Beherrschung ihrerseits die konkreten Körper der Tanzenden zum Verschwinden | |
| brachte. Geschlecht, Hautfarbe und entsprechende Zuschreibungen spielen auf | |
| diesem Abstraktionslevel keine Rolle mehr. | |
| 10 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine Leucht | |
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