| # taz.de -- Radikales Körpertheater: Sehnsucht nach Actionrollen | |
| > Mit Gewalt aus der Opferrolle: Florentina Holzinger hat eine „Stuntoper“ | |
| > für zehn Frauen und ein Auto an den Münchner Kammerspielen inszeniert. | |
| Bild: Harter Kontakt in der „Étude for an emergency“ | |
| Die Nervosität wäre ihr nicht anzumerken, würde Annette Paulmann sie im | |
| ulkigen Prolog des Stücks „Étude for an emergency. Composition for ten | |
| bodies and a car“, das [1][Regisseurin Florentina Holzinger] selbst als | |
| „Stuntoper“ bezeichnet, nicht explizit gestehen: „Wenn ich eine Hose | |
| anhätte, würde ich mir jetzt reinpullern.“ | |
| Denn so, wie sich die Schauspielerin, die man aus vielen Stücken an den | |
| Kammerspielen kennt, verausgabt, sieht man sie sonst nie in diesem Haus: | |
| Den ganzen Abend lang ist sie nackt. | |
| In der Eingangsszene sitzen und stehen neben ihr zehn weitere unbekleidete | |
| Frauen auf der Bühne, drapiert wie auf einem Kunstwerk. Sie tragen nur | |
| schwarze Turnschuhe und Gürtel, an denen ihre Mikrofone befestigt sind. Die | |
| Bühne der Kammer 2 ist grell beleuchtet, heller als man sie sonst kennt, | |
| jedes Detail der Haut, jede Delle, jeder blaue Fleck, jedes Scham- und | |
| Achselhaar ist erkennbar. | |
| Schon in der ersten Szene ist klar, dass Florentina Holzinger nicht umsonst | |
| gerade als radikale und kompromisslose Choreografin und Regisseurin | |
| gewürdigt wird. „Kein Applaus für Scheiße“ hieß eine ihrer ersten | |
| Produktionen. [2][Zum Berliner Theatertreffen in diesem Jahr wird sie mit | |
| „Tanz“ antreten]. Ab 2021 ist sie Artist in Residence an der Volksbühne | |
| Berlin, wenn René Polleschs Intendanz beginnt. Keine Frage, für Holzinger | |
| läuft es gerade ziemlich gut. Man wird noch viel von ihren provokanten | |
| Arbeiten sehen und hören. | |
| ## Kino und Kampfsport | |
| Holzingers Liebe gilt nicht nur dem von ihr selbst praktizierten | |
| Kampfsport, sondern auch dem Neo-Noir-Kino eines [3][Quentin Tarantino] | |
| oder Stanley Kubrick und sie adaptiert die Methode der coolen | |
| Ästhetisierung der Gewalt, die wir im Kino schon lange kennen, auf | |
| raffinierte Weise für die Bühne. Was durchaus aufgeht, denn ihre | |
| aggressiven Szenerien sind so drastisch wie bildstark und werden in diesem | |
| musikalisch smart unterlegten Referenzgewitter ausgiebig zelebriert. | |
| Doch wo es bei Tarantino noch ein Narrativ gab, reiht Holzinger Szenen der | |
| abstrahierten Brutalität ohne Erzählstruktur assoziativ aneinander und | |
| setzt auf das Mittel der Wiederholung: Jede Sequenz wird so oft wiederholt | |
| und in Zeitlupentempo in die Länge gezogen, bis sie den oder die | |
| Zuschauer*in in einen magischen Sog gezogen hat. | |
| Es beginnt mit der ikonischen Szene aus „Reservoir Dogs“, in der Mr Blonde | |
| einem Polizisten mit einem Rasiermesser ein Ohr abschneidet. Wie schön | |
| lässt es sich doch zum Liebeslied „Stuck in the Middle with You“ foltern! | |
| Nur, dass wir es eben mit zwei nackten Frauen zu tun haben, die diesen | |
| Angriff auf der Bühne simulieren. Später gibt es dann ein Reenactment aus | |
| „Clockwork Orange“, die Vergewaltigungsszene zu „Singin’ in the Rain“. | |
| ## Zur Schau gestellte Verletzlichkeit | |
| Der Kontrast zwischen verletzlicher Nacktheit und monströsen, wenngleich | |
| stilisierten Gewaltakten ist der Zündstoff, der diesen Abend über eine | |
| Länge von 90 Minuten antreibt. Die Zurschaustellung des weiblichen Körpers, | |
| den sie ohne sexuelle Konnotation in all seinen Facetten, Formen und ohne | |
| Scheu vor ostentativ gezeigter Versehrtheit inszeniert, ist ein Wagnis, das | |
| aufgeht. | |
| Das liegt daran, dass sich das zehnköpfige Ensemble aus zwei Stuntfrauen, | |
| zwei Opernsängerinnen und mehreren Schauspielerinnen für diese atemlose | |
| Ballerei auf der Bühne mutig präpariert: Amazonengleich wie Uma Thurman als | |
| Rächerin Beatrix Kiddo im [4][Film „Kill Bill“ metzeln sie sich | |
| gegenseitig] bevorzugt mit Maschinengewehren nieder oder überfahren sich | |
| mit einem über die Bühne kurvenden Auto. | |
| Das illustriert Holzingers Kernthese: Frauen sind nicht das Gegenteil von | |
| Gewalt. Sie widerlegt mit diesem Diktum von der mit Wollust mordenden Frau | |
| die Opferrolle, die dem Weiblichen als sanftem Gegenpol zur toxischen | |
| Männlichkeit historisch stets eingeschrieben wurde. Wir sehen an diesem | |
| Abend vielmehr toxische Weiblichkeit, Hass, Kunstblut, Hiebe, Tritte und | |
| Schläge. Auch Frauen ballern gern sinnlos durch die Gegend. Holzinger | |
| selbst nennt es das „Outing“ von gewaltsamen Sehnsüchten, die eben auch in | |
| Frauen schlummern und die sie transparent machen will, um ihnen zu | |
| Selbstermächtigung zu verhelfen. | |
| „Étude for an emergency. Composition for ten bodies and a car“ ist furios | |
| inszeniert und von einem furchtlosen Ensemble voller Energie und | |
| Spielfreude getragen. Die aufwändig choreografierten Gewaltausbrüche | |
| kulminieren in ekstatischen Momenten poetischer Schönheit, die einem als | |
| Zuschauer*in selbst fast schon körperlichen Schmerz bereiten. | |
| 4 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Annette Walter | |
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