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# taz.de -- Wahlkampf in Großbritannien: Labours Brennpunkt
> Die Labour-Partei versinkt in Antisemitismusvorwürfen. Im vergangenen
> Frühjahr trat Luciana Berger deswegen aus. Nun stellt sich sich selbst
> zur Wahl.
Bild: Der Wahlkreis Finchley und Golders Green hat einen hohen jüdischen Bevö…
London taz | Der große Saal der Alythsynagoge im Norden Londons ist
proppenvoll. Heute Abend sprechen hier die drei ParlamentskandidatInnen des
hiesigen Wahlkreises Finchley und Golders Green. Die Veranstaltung ist
straff organisiert: Tonaufnahmen und Fotos sind verboten, Rabbiner Josh
Levi stellt vorsortierte Fragen – ohne Argumentationsaustausch mit dem
Publikum.
Der Grund dafür dürfte sein, dass es sich hier um einen der Brennpunkte des
Wahlkampfs handelt. Symbolisch dafür ist die Kandidatur von Luciana Berger
für die [1][Liberaldemokraten]. Die profilierte jüdische Politikerin war
früher Labour-Abgeordnete für Liverpool Wavertree. Im vergangenen Frühjahr
aber trat sie aus der Labour aus und warf ihr institutionellen
Antisemitismus vor. In Finchley und Golders Green, dessen 20-prozentiger
jüdischer Bevölkerungsanteil einer der höchsten im Land ist, will sie sich
nun zur Wahl stellen.
„Ich hatte viele Konfrontationen innerhalb von Labour, weil ich Jüdin bin,
aber ich stellte mich dem entgegen“, sagte sie in der Synagoge. Labour habe
sich nicht gegen den durch den [2][Brexit] wachsenden Nationalismus
positioniert, fügte Berger hinzu.
Doch die Menschen in der Gegend machen nicht gerade den Eindruck, als
hätten sie nur auf Berger gewartet. „Eine Fehlkalkulation und
Verschwendung“, kritisiert der Weinhändler koscherer Spirituosen Ian
Freedman, 45, Bergers Kandidatur. Die meisten hier seien mit dem
derzeitigen Abgeordneten Mike Freer zufrieden, so Freedman.
## Fast 70 Prozent stimmten für den EU-Verbleib
Der nichtjüdische Konservative Freer löste 2010 einen lang amtierenden,
verstorbenen Labour-Abgeordneten ab. Freer hat sich laut Aussagen vieler
positiv für den Wahlkreis und seine jüdischen Menschen eingesetzt, auch für
Subventionen für Sicherheitsvorkehrungen.
Dennoch behielt Freer 2017 den Wahlkreis nur mit einer knappen Mehrheit von
1.657 Stimmen. Das mag nicht zuletzt mit der Pro-Brexit-Position der Tories
zusammenhängen. Fast 70 Prozent stimmten hier 2016 für den Verbleib in der
EU.
Luciana Berger, nun Kandidatin der eindeutigsten Pro-EU-Partei, will davon
profitieren. Noch vor zwei Jahren kamen die Libdems hier allerdings auf nur
mickrige 6,6 Prozent. Wer durch den Bezirk läuft, zählt Dutzende Poster für
die Konservativen in Vorgärten und an Fensterscheiben, doch nur einzelne
für die Liberaldemokraten. Unter den von der taz Befragten will sogar nur
eine einzige Person erwägen, für Berger zu stimmen – die jüdische Ärztin
Tessa Davis, 39. „Ich halte Berger für mutig und bin nicht davon überzeugt,
dass die Konservativen sich für das britische Gesundheitssystem NHS
einsetzen“, sagt sie.
## Neulich kamen May und Johnson zu Besuch
Die Konservativen setzen alles daran, den Wahlkreis zu verteidigen. Die
19-jährige Erstwählerin Miriam-Zehava Mills arbeitet in einem Laden mit
jüdisch-religiösen Gebrauchsgegenständen. Neulich kamen an verschiedenen
Tagen Theresa May und Boris Johnson zu Besuch. „Ich halte Johnson für einen
Hanswurst, dessen Partei unter anderem für Kürzungen beim NHS
verantwortlich war“, sagt Mills. „Aber es ist schwer, ihn als Jüdin nicht
zu wählen, nach all den Enthüllungen über Antisemitismus innerhalb der
Labourpartei und Parteiführer Corbyns Nähe zu Judenhassern.“
Die Anschuldigungen gegen Labour nehmen im Wahlkampf nicht ab. Vergangene
Woche kam ein interner Bericht an die Öffentlichkeit, den der jüdische
Verband innerhalb der Partei, das Jewish Labour Movement (JLM), an die
britische Menschenrechtskommission EHRC gerichtet hatte. [3][Die EHRC
untersucht derzeit den Vorwurf des institutionellen Antisemitismus in der
Partei]. Laut JLM wurden mindestens 130 Fälle in der Partei nicht
bearbeitet, obwohl die Parteiführung behauptet, das Problem im Griff zu
haben.
Aufgezählt wird darin unter anderem, wie jüdische Mitglieder als
Kindermörder betitelt wurden, dass sie Kommentare anhören mussten wie, dass
„Hitler recht hatte“, oder ihnen gesagt wurde: „Halt das Maul, verdammter
Jude.“
Auch berichtet der Report davon, dass Parteimitglieder angegeben hätten,
dass Juden im kapitalistischen System überrepräsentiert seien, was der
„Israel-Zionisten Lobby“ ihre Macht gebe. Es ginge vor allem um den Angriff
auf Menschen, einfach nur weil sie Juden seien, heißt es. Ein Londoner
Mitgliedschaftsvorsitzender soll sogar orthodox-jüdische Menschen bei
Parteimitgliedschaftsanträgen mit Hausbesuchen einer Sonderbehandlung
unterzogen haben.
## Probleme auch bei den Tories
Die Probleme bei Labour hatten auch Licht auf Probleme in der konservativen
Partei geworfen. Im November wurden 25 Konservative wegen Rassismus oder
Islamophobie aus der Partei geworfen. Bei einigen weiteren, darunter drei
ParlamentskandidatInnen, gibt es Anschuldigungen, antisemitische
Bemerkungen gemacht zu haben. Boris Johnson musste sich für eine
Zeitungskolumne entschuldigen, in der er Nikab tragende Frauen mit
Briefkästen verglich.
Ross Houston, Labour-Kandidat in Finchley und Golders Green, entschuldigte
sich in der Synagoge wiederholt für die antisemitischen Vorfälle in seiner
Partei. Houston wurde Kandidat, nachdem eine Corbyn-loyale Kandidatin
zurückgetreten war. Sie hatte behauptet, die Vorwürfe des Antisemitismus
würden gegen Labour als Waffe benutzt.
In der Synagoge sagt der Konservative Freer, er werde alles tun, damit
Corbyn nicht ins Amt des Premiers komme – und erhielt den lautesten
Beifall. In Golders Green lebt neben der jüdischen Bevölkerung aber eine
Mehrheit von Nichtjuden. Wie überall im Land stehen bei ihnen der Brexit
und soziale Fragen im Mittelpunkt. Der Wahlausgang hier ist offen. Grund
genug für Premier Boris Johnson, sich am vergangenen Freitag zur
Absicherung noch mal in einer jüdischen Bäckerei in Golders Green
fotografieren zu lassen.
9 Dec 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
## TAGS
Antisemitismus
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