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# taz.de -- Auswirkungen des Brexit-Deals: Der Sarg blieb zu
> Vor 22 Jahren wurde Raymond McCords Sohn im Nordirlandkonflikt ermordet.
> Der Brexit, fürchtet er, könne den Frieden auf der Insel gefährden.
Bild: Beerdigung von Bobby Sand, eines der ersten Opfer der IRA im Nordirlandko…
Belfast taz | Raymound McCord zeigt auf eine Stelle hinter einem
verrosteten Zaun. „Hier haben sie meinen Sohn erschlagen“, sagt er. „Sie
wollten ihn erschießen, aber die Pistole klemmte. Da haben sie ihm mit
Betonbrocken den Schädel zertrümmert. Wir mussten den Sarg bei der
Trauerfeier geschlossen lassen, weil der Anblick so furchtbar war.“
Das ist 22 Jahre her. McCord, heute 65 Jahre alt, meidet diesen Ort, er ist
seitdem erst zum dritten Mal an diesem stillgelegten Steinbruch hoch über
dem Dorf Ballyduff, einer Hochburg protestantisch-loyalistischer
Terrororganisationen, rund zehn Kilometer vom Zentrum der nordirischen
Hauptstadt Belfast entfernt. Ballyduff gehört zur Gemeinde Carnmoney, und
dort, keine fünf Kilometer entfernt, ist Raymond Junior auf dem
gemischtkonfessionellen Friedhof beerdigt.
„Ich will nicht, dass andere das gleiche durchmachen müssen wie meine
Familie und die Familien anderer Opfer“, sagt McCord. „Ich befürchte, dass
der Brexit Folgen für den [1][Frieden in Nordirland] haben wird.“ Deshalb
hatte er vor einem Belfaster Gericht dagegen geklagt. Das Belfaster
Berufungsgericht wies die Klage jedoch im Oktober ab, nachdem der High
Court bereits zuvor gegen McCord entschieden hatte. Lordrichter Bernard
McCloskey sagte, dass „praktisch sämtliche vorgelegten Beweise in die Welt
der Politik“ gehören. „Ich muss das Urteil respektieren“, sagt McCord.
McCord ist kräftig gebaut, er hat graue Haare, einen Schnurrbart und trägt
ein Goldkettchen. Er stammt aus einem ziemlich heruntergekommenen
protestantischen Viertel im Norden Belfasts. „Ich bin in Rathcoole
aufgewachsen, der damals größten Wohnsiedlung in Europa“, erzählt er. „D…
meisten Bewohner waren protestantisch, aber es gab keinen Ärger. Ich habe
in einer Fußballmannschaft gespielt, die sich Star of the Sea nannte. Es
war ein katholischer Verein.“
## In Schlägereien verwickelt
Einer seiner Mitspieler war Bobby Sands, der später der
Irisch-Republikanischen Armee (IRA) beitrat, wegen Waffenbesitzes 1977 zu
14 Jahren Gefängnis verurteilt wurde und 1981 im Hungerstreik gegen die
Haftbedingungen als erster von zehn IRA-Gefangenen starb. Während des
Hungerstreiks wurde Sands zum britischen Unterhaus-Abgeordneten gewählt.
McCord sagt, er habe gerne Fußball gespielt. Als er 17 war, lud Manchester
United ihn zum Probetraining ein, bot ihm dann aber keinen Vertrag an. „Die
Zeit beim Star of the Sea war die beste meines Lebens“, sagt er. „Als der
Konflikt Ende der sechziger Jahre ausbrach, verließen die meisten
Protestanten den Klub, ich war der letzte. Ich blieb in Kontakt mit dem
Verein, nachdem ich ausgetreten war, weil es zu gefährlich wurde.“
Die paramilitärischen Verbände formierten sich in Rathcoole. „Ich hatte mit
denen nichts im Sinn, ich mochte sie nicht“, sagt McCord. „Und die mochten
mich nicht.“ Er war immer wieder in Schlägereien verwickelt, weil er
dagegen protestierte, dass die katholischen Familien aus Rathcoole
vertrieben wurden.
## Zusammengeschlagen von der UDA
Als McCord 15 war, lernte er Vivienne kennen. Sie heirateten 1973 und
bekamen drei Söhne. Eines Tages saßen die beiden im Pub, als der Chef der
lokalen Einheit der Ulster Defence Association (UDA) ihn provozierte. „Ich
habe ihn verprügelt“, sagt McCord. „Eines Abends lauerten mir drei von
denen auf. So ging es immer weiter. Und als meine Söhne älter wurden, haben
sie ihre Wut an ihnen ausgelassen.“ Und immer, wenn sie verprügelt wurden,
habe er die Schläger vermöbelt, sagt er.
1992 schlug ein sechs Mann starkes UDA-Kommando ihn bewusstlos. Als er
genesen war, ging er in die USA, kehrte aber 1995 zurück nach Nordirland.
Sein Sohn Raymond war damals bei der Royal Air Force als Radarbediener
angestellt, zog aber nach vier Jahren zurück nach Nordirland und wohnte bei
seinem Vater. Die Eltern hatten sich Mitte der Achtzigerjahre getrennt, die
beiden jüngeren Geschwister lebten bei der Mutter.
Raymond Junior trat der Ulster Volunteer Force (UVF) bei, der anderen
protestantisch-loyalistischen Miliz, wohl um die Familie vor den
Übergriffen der rivalisierenden UDA zu schützen. Der Chef der lokalen
Einheit, Mark Haddock, benutzte ihn als Drogenkurier, und eines Tages wurde
Raymond Junior von der Polizei geschnappt. Damit er Haddock und dessen
Geschäfte nicht an die Führungsspitze der UVF verraten konnte, musste er
sterben.
Am 9. November 1997 wurde er von einem UVF-Kommando entführt und zum
Steinbruch verschleppt. Das war zwei Wochen vor seinem 23. Geburtstag.
## Im Visier der UVF
Seitdem kämpft der Vater um Gerechtigkeit für seinen Sohn. Er sagt, er
wisse, wer die Täter sind. „Die Männer, die Raymond ermordet haben, waren
bezahlte Polizeispitzel. Die konnten machen, was sie wollten, ihre Macht
war grenzenlos. Der Tötungsbefehl kam von Haddock.“
Bei der Beerdigung hat er den Sargdeckel etwas zur Seite geschoben und die
Hand seines Sohnes gehalten. „Ich versprach ihm, dass ich seine Mörder
bloßstellen würde“, sagt er. „Das habe ich getan, wir haben die Täter
identifiziert. Aber ich will, dass sie auch vor Gericht gestellt und
verurteilt werden.“
Die UVF hat deshalb mehrmals versucht, ihn zu töten. Sie haben eine Bombe
unter seinem Auto angebracht, sie haben versucht, ihn zu kidnappen, sie
haben auf ihn geschossen. „Alle UVF-Einheiten seien dazu instruiert, ihn zu
töten, sagt er. „Aber deshalb habe ich keine schlaflosen Nächte. Sie können
mir nichts Schlimmeres antun als das, was sie meinem Sohn angetan haben.“
Seine Kampagne hat ihn bis ins Londoner Unterhaus und ins Capitol nach
Washington geführt. Endlich, im Jahr 2007, veröffentlichte die
Polizei-Ombudsfrau Nuala O’Loan einen Bericht, in dem sie klipp und klar
feststellte, dass die Polizei bei mindestens einem Dutzend Morde in
Nordbelfast mit Killern wie Haddock kooperiert hat. Die Beamten haben die
Mörder bezahlt und vor Strafverfolgung geschützt, und das habe nicht ohne
das Wissen der höchsten Polizeiebene geschehen können, heißt es in dem
Bericht. Aber O’Loan schrieb auch, es sei unwahrscheinlich, dass die
Polizisten zur Rechenschaft gezogen werden, da die Beweise absichtlich
vernichtet worden seien.
## Nicht der einzige Fall
Im Jahr 2008 wurde McCord als erster Unionist zum Parteitag der irischen
Sinn Féin-Partei eingeladen, um seinen Fall vorzutragen. Er trug bei seiner
Rede die orange Schärpe seines Vaters, das Zeichen für die Mitglieder des
streng antikatholischen Oranierordens. Sinn Féin organisierte für McCord
auch eine Reise zum Europaparlament in Straßburg, wo er den Abgeordneten
die Zusammenarbeit der Polizei mit loyalistischen Mordkommandos darlegte.
„Wenn die Polizei endlich ehrlich zugeben würde, was geschehen ist, würde
das nicht nur den Fall meines Sohnes, sondern auch viele andere Fälle
beeinflussen“, sagt McCord. Er hat eine Gruppe gegründet, deren Mitglieder
Angehörige von Opfern sind, die ebenfalls von Polizeispitzeln ermordet
wurden.
„Die Geschichten gleichen sich“, sagt McCord. „Wir wissen nicht, welche
Religion unsere Mitglieder haben, aber wir alle wissen, dass unsere
Angehörigen von Polizei-Informanten getötet worden sind. Das Problem sind
die Politiker, von denen keine Unterstützung kommt. Sie wollen die
staatlichen Institutionen nicht blamieren.“
2002 wurde das Grab von McCords Sohn geschändet. Die UVF hatte zuvor damit
gedroht, die Leichen von Katholiken in Carnmoney auszubuddeln und auf sie
zu urinieren, wenn die jährliche Segnung der Gräber durch den katholischen
Pfarrer nicht eingestellt würde. „Keine katholische Segnung
protestantischer Gräber“, stand auf einem Protestplakat.
McCord hofft, dass er sich mit seiner Befürchtung irrt, der Brexit werde zu
neuer Gewalt in Nordirland führen. „Ich will in einem Irland leben, in dem
Frieden und Gerechtigkeit herrscht, in dem Menschen zur Verantwortung
gezogen werden und in dem Mord als Verbrechen gilt. Bis heute haben die
Staatsorgane versagt. Ob Labour, Tories oder sonst wer – gebt uns ein Land,
in dem wir friedlich zusammenleben können.“
5 Dec 2019
## LINKS
[1] /Kommentar-Konflikt-in-Nordirland/!5590280
## AUTOREN
Ralf Sotscheck
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