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# taz.de -- Brexit-Streit um Nordirland: Es könnte grenzwertig werden
> Grenzkontrollen auf der irischen Insel könnte die Wirtschaft empfindlich
> treffen. Auch die letzten britischen Vorschläge treffen auf Kritik.
Bild: Der Newry-River bei Warrenpoint verbindet Nordirland (links) mit der Repu…
Belfast/Newry taz | Links Idylle wie aus der Butterwerbung, rechts Idylle
wie aus der Butterwerbung. Saftig-grüne Wiesen im Abendlicht. Kein
Anzeichen einer Grenze – nur wer sehr genau darauf achtet, merkt, dass die
weiße, abgenutzte Spurenkennzeichnung irgendwo auf der Straße zwischen dem
irischen Dundalk und dem nordirischen Killeen endet – und womöglich mit dem
Brexit ab Ende des Monats auch das Gebiet der Europäischen Union.
Eine harte Grenze will hier niemand – das sagt Brüssel, das sagt London.
Doch trotzdem droht im Zweifelsfall genau das, wenn nicht noch Bewegung in
die verfahrenen Verhandlungen kommt: Auf dem Gebiet der EU sorgen unter
anderem die Zollunion sowie der europäische Binnenmarkt dafür, dass die
Grenzen offen bleiben können. Zölle fallen nicht an, die Standards etwa für
landwirtschaftliche Produkte bleiben dieselben.
Entscheidet sich ein Land auszusteigen, fällt all das weg; auch die
Handelsabkommen und Verträge, die Brüssel für die EU mit Drittländern
ausgehandelt hat, gelten dann nicht mehr. Unternehmen bräuchten sich nicht
mehr an die EU-Standards zu halten, ihre Waren müssten daher kontrolliert
werden – auch an der Grenze bei Killeen.
275 Übergänge zählt die fast 500 Kilometer lange Grenze zwischen der
Republik Irland und dem britischen Nordirland heute. Zur Zeit des
Nordirlandkonflikts waren es nur 20. Der Gedanke an womöglich wieder
drohende Grenzkontrollen befeuern nicht nur die Sorge vor erneuter Gewalt
auf der Insel. Die Wirtschaft Nordirlands und Irlands sorgt sich um ihre
Handelsbeziehungen, sollte der Brexit für sie Hindernisse bringen.
## Könnte Johnsons Lösung den Backstop ersetzen?
Großbritanniens frühere Premierministerin Theresa May hatte solche
Kontrollen durch den sogenannten Backstop vermeiden wollen. In ihrem mit
der EU verhandelten Austrittsabkommen wirkt dieser als Auffanglösung:
Sollten sich Brüssel und Westminster nach der Übergangsperiode Ende 2020
nicht auf ein Handelsabkommen geeinigt haben, bliebe Großbritannien
zunächst Teil der Zollunion, Nordirland außerdem Teil des Binnenmarkts.
Doch damit kam May im britischen Unterhaus nicht durch. Brexiteers
fürchten, damit für immer in der EU-Handelspolitik gefangen zu sein. Der
derzeitige Regierungschef Boris Johnson ließ deshalb weiter nach einer
Alternative zu der Garantieklausel suchen und schickte Anfang des Monats
seine neuen Vorschläge nach Brüssel.
Seine Lösung: Nordirland behält die Standards des EU-Binnenmarkts, so dass
alle Güter, wie landwirtschaftliche Waren, auf der irischen Insel schon mal
nicht extra kontrolliert werden müssen. Das nordirische Regionalparlament
in Belfast soll alle vier Jahre über diese Regel abstimmen können.
Gleichzeitig verlässt das gesamte Vereinigte Königreich, also auch
Nordirland, die Zollunion. Zollkontrollen sollen laut Johnsons Brief an
Brüssel „dezentralisiert“ über Onlineformulare und Überprüfungen auf
Firmengeländen sowie „an anderen Punkten der Lieferkette“ laufen. „All d…
soll an die feste Vereinbarung (beider Seiten) gekoppelt werden, niemals
Grenzkontrollen vorzunehmen“, heißt es.
## Inzwischen hat der Premier nachgelegt
Könnte das also der Ersatz sein, die Lösung für den als alternativlos
gepriesenen Backstop? Die EU hat Nein gesagt. [1][Inzwischen hat Johnson
nachgelegt] und es wird über Alternativen verhandelt – die Details sind
nicht bekannt.
Declan Billington vom Unternehmerverband Northern Ireland Food & Drink
dürfte wissen, wie schwierig die Suche nach diesen Alternativen ist. Der
Geschäftsführer des nordirischen Futtermittelunternehmens Thompsons ist
Mitglied eines Expertengremiums, das die britische Regierung zu
Backstop-Alternativen berät. Auch Thompsons ist betroffen: 14 Prozent der
Waren liefert das Unternehmen an irische KundInnen südlich der Grenze.
An diesem sonnigen Herbsttag sitzt Billington an einem Besprechungstisch im
ersten Stock des Firmensitz von Thompsons nördlich des Belfaster
Stadtzentrums und erklärt mit leiser Stimme: Johnsons Deal löse immerhin
eins von drei großen Problemen der nordirischen Wirtschaft, nämlich das der
Kontrollen von landwirtschaftlichen Waren.
Die beiden anderen Probleme seien allerdings riesig: Die Zölle und die
Zollpapiere, beziehungsweise der damit verbundene Verwaltungsaufwand. „Wenn
wir im Zollgebiet des Vereinigten Königreichs bleiben und wir kein
Freihandelsabkommen mit Europa schließen, dann werden diese Zölle kommen
und unsere Industrie zerstören“, sagt Billington.
## Riesen-Gewinnmöglichkeiten für frühere Paramilitärs
„Die Statistik zeigt, dass 80 Prozent der Unternehmen, die über die Grenze
handeln, kleine und Mikrounternehmen sind.“ Sie könnten den Aufwand nicht
leisten, sagt Billington. Gebe es überdies erst einmal Zolldifferenzen,
lohne sich der Schmuggel vor allem von Lebensmitteln, was mit Risiken für
die Gesundheit der VerbraucherInnen einhergehe. Damit schaffe man riesige
Gewinnmöglichkeiten für frühere Paramilitärs, die über jahrzehntelang
etablierte Netzwerke verfügten.
Johnsons Vorschlag beinhaltet zwar Ideen, wie Kleinunternehmen und
dauerhafte Lieferketten von Zollformalitäten ausgenommen werden könnten.
Doch dafür müsste die EU ihre Regeln für die Zollunion ändern.
Bisher überqueren viele Firmen aus Nordirland sowie Irland die Grenze
mehrmals täglich. Bei etwa zwei Dritteln des grenzüberschreitenden Handels
handelt es sich laut der nordirischen Statistikbehörde Nisra um Waren in
der Lieferkette, die noch weiterverarbeitet werden.
Ein bekanntes Beispiel ist die Lieferkette des irischen Sahnelikör Baileys:
Die Milch dafür kommt von 38.000 Kühen vieler verschiedener Bauernhöfe auf
der irischen Insel. Bis die Milch an unterschiedlichen Orten zur Sahne
weiterverarbeitet, mit Whiskey gemischt und abgefüllt ist, wird die Grenze
viele Male überschritten.
## Firmen im Grenzgebiet müssen sich vorbereiten
Baileys gehört zu Diageo, dem Spirituosen-Weltmarktführer, verfügt über
AnwältInnen und BeraterInnen, die sich um die Grenzfragen kümmern können.
Doch die meisten Firmen vor Ort haben weder das Knowhow noch die Zeit, sich
intensiv einzuarbeiten.
„Die eine Sache, die uns große oder kleine Unternehmen am häufigsten
fragen, ist: Was ist ein Zolltarif und wo kann ich ihn finden?“, sagt
Deirdre Maguire vom Brexit-Beratungsservice von InterTradeIreland in
Newry, einer der sechs nach dem Karfreitagsabkommen gegründeten
zwischenstaatlichen Behörden, die sich um die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit auf der gesamten irischen Insel kümmern sollen. Bisher
mussten sich die Firmen um solche Dinge nicht kümmern: „Sie haben einen Van
und fahren von Newry nach Dundalk und sehen sich nicht als Exporteur und
Importeur.“
Maguires größtes Problem: InterTradeIreland geht davon aus, dass nur 11
Prozent der Firmen auf der irischen Insel für einen möglichen
No-Deal-Brexit vorgesorgt haben. Zeitmangel sei eine der Ursachen, sagt
sie. Die Behörde versucht den UnternehmerInnen zum Beispiel mit Gutscheinen
für Zoll-Trainingskurse unter die Arme zu greifen.
Der Johnson-Ersatz für den Backstop ist für Nordirlands Wirtschaft ein
schwacher Trost. UnternehmensvertreterInnen sind unzufrieden, wie etwa Glyn
Roberts von Retail NI, dem Verband der unabhängigen Einzelhändler. Einen
„Rohrkrepierer“ nannte Roberts die Vorschläge. Es sei klar, dass die
Perspektive der Privatwirtschaft in Nordirland ignoriert worden sei.
Futtermittelproduzent Billington hofft, dass sich noch etwas bewegt. Denn
ein No-Deal-Brexit mit den daraus resultierenden Kontrollen wäre ein
Desaster, befürchtet Billington – für Nordirlands Wirtschaft sowie den
Frieden in der Region. „Normalität war, wegen einer Bombendrohung alle paar
Wochen aus einem Gebäude evakuiert zu werden. Normalität war, in Belfast
Explosionen zu hören und zu raten, wo sie waren. Und Normalität war, von
Leuten mit Waffen durchsucht zu werden, wenn man einkaufen wollte“,
erinnert sich Billington. „Ich will nie wieder dahin zurück.“
14 Oct 2019
## LINKS
[1] /Neue-Hoffnung-im-Brexit-Streit/!5632785
## AUTOREN
Eva Oer
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