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# taz.de -- Pop-Wahlkampf in Großbritannien: Raves für Labour
> Für Liberale oder die Sozialdemokratie: Rap- und Popstars wie Stormzy,
> Lily Allen oder M.I.A. engagieren sich im Endspurt der britischen Wahlen.
Bild: Chris Martin von Coldplay in Hamburg beim Global Citizen Festival anläss…
Wenn der Vizepremier Michael Gove einen Rapper zitiert, dann muss Wahlkampf
in Großbritannien sein. „I set trends dem man copy“, twitterte der
konservative britische Vizepremier letzte Woche. „Ich setze die Trends, die
alle kopieren“ – eine Zeile, geklaut vom populären Londoner Grime MC
Stormzy.
„Faszinierend, wie sehr Sie die Stimmen junger Wähler nicht wollen“,
kommentierte eine Nutzerin Vize Gove sarkastisch. Am Donnerstag wird in
Großbritannien gewählt – und junge Wähler sind die, die den Konservativen
fehlen könnten.
Stormzy ist nicht irgendein MC. Im Juni war er (als Rapper!) Headliner beim
traditionsreichen Glastonbury Festival in Südwestengland. Mit 200.000
Zuschauern ist es eines der größten Festivals der Insel. Dort trug Stormzy
eine kugelsichere Weste auf der Bühne, ein Statement zu den steigenden
Mordraten unter afrobritischen Jugendlichen.
Gerade für diese ist Stormzy oftmals ein Held. Aufgewachsen in Südlondon,
von der Schule geflogen – und mittlerweile auf dem Cover des Time Magazine.
In Glastonbury rappte er vor 200.000 Zuschauern „Fuck the government“. Und
die Menge antwortete „Fuck Boris!“, gegen Boris Johnson, den derzeitigen
britischen Premier. Mittlerweile ist diese Zeile aus Stormzys Nummer-1-Hit
„Vossi Bop“ zu dem Soundtrack junger Labour-Aktivist*innen geworden.
## Statement von Stormzy für Labour
Dabei hatte sich Stormzy bis vor Kurzem gar nicht zu den britischen
Unterhauswahlen geäußert. Doch letzte Woche veröffentlichte der 26-Jährige
ein Statement für Labour auf Instagram: „Bisher habe ich Politikern immer
misstraut. Aber er ist der Erste in einer führenden Position, der die Macht
zurück an die Menschen geben will.“ „Er“, das ist Jeremy Corbyn,
Vorsitzender der sozialdemokratischen Labour Party.
Auch andere junge britische Popstars unterstützen Labour. Lily Allen und
M.I.A. etwa sind für die Partei aufgetreten. Eine Milliarde Pfund will
Labour in Bibliotheken und Museen investieren und auch lokale
Kulturinstitutionen besser fördern. „Heute gehöre ich zur Elite, aber ich
konnte nur mit staatlicher Unterstützung Kunst studieren“, sagte die als
Kind aus Sri Lanka geflohene M.I.A.. Und: „Alles, was in der englischen
Gesellschaft schiefläuft, habe ich am eigenen Leib erfahren.“
„#Grime4Corbyn“ nennt sich ein anderer Zusammenschluss von Rappern und DJs,
der in der Endphase des Wahlkampfs Raves für Labour veranstaltet – wie
schon 2017, als das unerwartet relativ gute Ergebnis der britischen
Sozialdemokraten vor allem auf junge Wähler zurückging. Grime, dieser
britische, sehr hektische HipHop-Stil, ist in den Institutionen des
britischen Wohlfahrtstaats – Sozialwohnungsblocks und Jugendzentren –
entstanden.
Doch seine wesentlichen Protagonisten haben zumeist die Logik des
unternehmerischen Selbst verinnerlicht: individueller Erfolg,
Markenbildung, materialistische Prahlerei. „I’m a name brand, I can’t
afford to hype“, heißt es in einem Song von Grime-Godfather Wiley: „Ich bin
eine Marke, jemand anderen zu hypen kann ich mir nicht leisten.“ Aber
selbst der unberechenbare Wiley hat mittlerweile seine Unterstützung für
Jeremy Corbyn via Twitter kundgetan.
## Auch Labour erreicht die Jugend zu wenig
Obwohl Labour bei den unter 30-jährigen Wählern mit etwa 38 Prozent die
stärkste Partei darstellt, erreicht auch sie die Jugend zu wenig. Die
Jüngeren haben sich meist von der Politik abgewendet. Und auf den
Smartphones und Bluetooth-Boxen in London ist Grime schon lange von Drill
abgelöst worden. Drill MCs erzählen eine Gangsta-Version des Londoner
Alltags in Zeiten der Sparpolitik: verfeindete Jugendgangs, Drogenhandel,
Messerstechereien.
„All my n***as voting Labour“, rappt der Gesichtsmaske tragende LD von 67
auf „Labour“. Den Rest des Tracks verwendet er aber, um zu erzählen, wie er
gegnerische MCs erledigen möchte. Andere wie Krept (29) and Konan (30),
zwei Drill MCs aus dem Londoner Vorort Croydon, haben den Musikstil
wiederholt gegen den Vorwurf der Gewaltverherrlichung verteidigt.
Vielleicht politisiert sich diese Generation aber gerade. Über drei
Millionen zumeist jüngere Menschen haben sich nun als Neuwähler*innen
registriert, viele von ihnen sind unter 30. Doch laut einer YouGov-Umfrage
Ende November können die Tories mit einer Parlamentsmehrheit von 68 Sitzen
rechnen.
Auch wenn Labour die Themen des Wahlkampfs eigentlich vorgibt. Ganz oben
dabei: ein Ende der Sparpolitik und eine bessere staatliche
Gesundheitsvorsorge. Aber das B-Wort schadet Labour. Durch den angedrohten
Brexit ist die Stimmung stark polarisiert, die Haltung Corbyns und Labours
oftmals unklar.
## Coldplay-Sänger Chris Martin wirbt für Liberaldemokraten
Die „Leaver“ auf der einen, die „Remainer“ auf der anderen Seite stehen
sich unversöhnlich gegenüber. Die Liberaldemokraten fordern am
eindeutigsten, den EU-Austritt rückgängig zu machen. Sie werden auch
unterstützt von Coldplay-Sänger Chris Martin, der letzte Woche erklärte,
den Liberalen seine Stimme zu geben, um einen Brexit zu verhindern.
Auch Schauspieler Hugh Grant, der in „Tatsächlich … Liebe“ den letzten
beliebten britischen Premierminister gespielt hat, ging am Wochenende für
die LibDems in den Straßenwahlkampf in Finchley in Nordlondon. Ein paar
Tage später war er jedoch auch auf einer Wahlkampfveranstaltung für Labour
im benachbarten Chingford zu Gast. Kulturschaffende wie Grant wollen vor
allem eins: die Tory-Regierung abwählen. In beiden Wahlbezirken haben die
Konservativen nur eine dünne Mehrheit.
Aber die haben ja noch ihren Hauptperformer Boris Johnson (Lieblingsband:
Rolling Stones). Der unberechenbare Politclown aus der Oberschicht sammelt
sogar Punkte in den ehemaligen Labour-Hochburgen im Nordosten und den
Midlands. Sie gehören zu den ökonomisch schwächeren Regionen und glauben,
von einem Wahlsieg Labours zu profitieren. Johnsons autoritäres Gehabe und
sein „Get Brexit done“ finden dort starken Widerhall.
Dagegen kann der Hobbygärtner Jeremy Corbyn (Lieblingsband: The Animals)
anscheinend nur verlieren. Seine Position zum Brexit – Wiederaufnahme der
Verhandlungen, über deren Ergebnis ein zweites Referendum entscheidet – hat
für viele Wählergruppen zu viele Zwischentöne.
7 Dec 2019
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
Wahlen in Großbritannien
Grime
Labour Party
Popmusik
Pop
Folk
Schwerpunkt Brexit
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Antisemitismus
Henrietta Smith-Rolla
Schwerpunkt Brexit
Schwerpunkt Rassismus
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