# taz.de -- Pro-Familia-Zentrum in Bremen: Nicht mehr nach Holland fahren | |
> Vor 40 Jahren eröffnete die deutschlandweit erste Tagesklinik für | |
> Schwangerschaftsabbrüche. Bis heute heißt das Ziel Entscheidungsfreiheit | |
> für Frauen. | |
Bild: Räume der Pro-Familia-Beratungsstelle in Bremen | |
BREMEN taz | Es war 1977, als eine Gruppe junger Frauen aus Bremen in die | |
Niederlande fuhr. Ihr Ziel: Eine Tagesklinik, in der Frauen | |
Schwangerschaften abbrechen, ambulant, mit örtlicher Betäubung. „Wir | |
wollten herausfinden, wie es die Holländer machten“, erzählt Hanna | |
Staud-Hupke, eine der Frauen von damals. „In Deutschland wurden die Frauen | |
ja diskriminiert. Sie mussten mehrere Tage ins Krankenhaus, es gab immer | |
eine Vollnarkose und sie wurden nicht gut behandelt.“ Auch hätten die | |
deutschen Ärzt*innen die Gebärmutter ausgeschabt, anstatt die schonendere | |
Absaugmethode zu verwenden. | |
50.000 bis 60.000 Frauen sollen in den 70er Jahren nach Schätzungen | |
jährlich zum Abbruch in die Niederlande gereist sein. [1][Offizielle Zahlen | |
des niederländischen Gesundheitsministeriums] gibt es erst seit 1980, da | |
waren es noch 26.200. | |
Vier Jahre zuvor hatte der Bundestag nach heftigen Auseinandersetzungen die | |
Neufassung des Strafrechtsparagrafen 218 verabschiedet. Danach waren | |
Abtreibungen verboten, wurden aber nicht bestraft, wenn die Frau sich hatte | |
beraten lassen und ein Arzt oder eine Ärztin ihr eine Notlage bescheinigt | |
hatte. Dies wurde Indikationslösung genannt. Zuvor hatte die | |
SPD-FDP-Koalition im April 1974 eine Fristenregelung verabschiedet, nach | |
der der Abbruch in den ersten drei Monaten ohne Angaben von Gründen | |
straffrei blieb, eine Zwangsberatung sah das Gesetzt aber auch vor. Das | |
Bundesverfassungsgericht kassierte das Gesetz im Februar 1975. | |
Die Bremer*innen veröffentlichten 1978 ein Buch über ihre Reise unter dem | |
Titel „Wir wollen nicht mehr nach Holland fahren“ – und machten sich dara… | |
in Bremen die erste Tagesklinik für Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland | |
zu eröffnen, nach holländischem Vorbild. Am Mittwoch begeht das | |
Medizinische Zentrum sein 40-jähriges Jubiläum. | |
## Neue alte Probleme | |
Träger des Zentrums war damals wie heute der [2][1969 gegründete | |
Landesverband von Pro Familia], Hanna Staud-Hupke leitete ihn von 1980 bis | |
2005. Pro Familia berät in allen Bundesländern zu Fragen von Sexualität und | |
Schwangerschaft, die Pflichtberatung nach dem | |
Schwangerschaftskonfliktgesetz vor Abtreibungen gehört auch dazu. Acht | |
medizinische Zentren hat Pro Familia einmal betrieben, heute gibt es sie | |
neben Bremen nur noch in Mainz, Rüsselsheim und Saarbrücken. | |
In ihren Anfängen bekam die Bremer Tagesklinik eine finanzielle Förderung | |
durch Bund und Land. Das größte Problem war aber damals wie heute: der | |
[3][Ärzt*innen-Mangel]. | |
„Der Erste, den wir bekamen, war ein Engländer“, erinnert sich Staud-Hupke, | |
„der war schon sehr alt“. Danach kamen holländische Ärzt*innen tageweise | |
nach Bremen. Sie arbeiteten immer wieder neue Ärzt*innen ein. Im Gegensatz | |
zu den Krankenschwestern, von denen viele Jahrzehnte blieben, war und ist | |
die Fluktuation unter den Ärzt*innen groß. Einer derjenigen, die schon in | |
den 80ern im Zentrum arbeiteten, wurde gerade wieder aus dem Ruhestand | |
geholt, weil der Mangel so groß war. Er hofft, im nächsten Sommer endgültig | |
aufhören zu können. | |
Der erste Holländer habe „den Laden erst mal umgekrempelt“, erzählt | |
Staud-Hupke. „Als wir anfingen, haben wir die Frauen sehr emphatisch | |
begrüßt. Die Schwestern haben sie während des Eingriffs gestreichelt und | |
ihnen Mut zugesprochen.“ Der holländische Arzt habe sie gefragt, warum sie | |
die Frauen behandelten, als widerfahre ihnen Schlimmes. „Er meinte, wir | |
müssten sie beglückwünschen, dass sie eine Entscheidung getroffen haben“, | |
sagt Staud-Hupke. Daraufhin wurden die Frauen nur noch gestreichelt, wenn | |
sie signalisierten, dass sie das brauchten. | |
## Auch Hänel hat in Bremen „viel gelernt“ | |
Später gaben sie diese Herangehensweise weiter, beispielsweise an Kristina | |
Hänel, die in Bremen lernte, wie man Schwangerschaftsabbrüche | |
fachgerecht durchführt – in der ärztlichen Weiterbildung wurde und wird | |
dies nicht gelehrt. Die Ärztin Hänel ist berühmt geworden für ihren Kampf | |
gegen den [4][Paragrafen 219a, der Ärzt*innen die Information über | |
Abtreibung verbietet.] „Ich habe hier viel gelernt“, sagte Hänel bei einer | |
Lesung aus ihrem Buch im Oktober, „zum Beispiel, dass man niemals im | |
Behandlungsraum flüstert.“ | |
Der holländische Arzt fand auch, dass sie Frauen helfen müssten, die nur | |
mit Spendersamen ein Kind bekommen konnten. „Das hat ja niemand gemacht | |
damals“, sagt Staud-Hupke. Vor allem lesbische Frauen seien zu ihnen | |
gekommen. Nach zwei, drei Jahren war allerdings Schluss, weil inzwischen | |
das HI-Virus entdeckt worden war und die Gesetze strenger wurden. Heute | |
bietet das Zentrum in Bremen noch die Sterilisation von Männern an, legt | |
Verhütungsspiralen und ermöglicht den medikamentösen | |
Schwangerschaftsabbruch. | |
Die Bremer Politik habe Pro Familia immer unterstützt, sagt Staud-Hupke, | |
eine Erfahrung, die nicht alle Landesverbände teilen. 1980, nach einem | |
Brandanschlag, über den auch die „Tagesschau“ berichtete, habe es eine | |
große Solidaritätsdemonstration in Bremen gegeben, sagt Staud-Hupke. In nur | |
einer Nacht wurde das Zentrum damals behelfsmäßig aufgeräumt und repariert: | |
„Wir konnten schon am nächsten Tag weitermachen, weil wir so viel Hilfe | |
bekommen hatten“, erzählt Staud-Hupke. | |
Der Täter, der nach eigenen Angaben im Auftrag Gottes handelte, hatte die | |
Räume von Pro Familia „durch mehrere Brandsätze, durch ätzende Chemikalien | |
und andere Gewalteinwirkung fast völlig verwüstet“, wie es in einem | |
Zeitungsartikel vom 16. Juni 1980 hieß. Auch in Hamburg schlug der Mann zu, | |
bei einem dritten Versuch in Kiel wurde er schließlich gefasst. | |
## Bis heute fahren Frauen nach Holland | |
Und während heute in anderen Bundesländern Fundamentalist*innen | |
Mahnwachen vor Pro-Familia-Beratungsstellen halten, bekommen die | |
Bremer*innen nur etwa einen Brief von Abtreibungsgegner*innen pro Monat, | |
sagt die derzeitige Geschäftsführerin, Monika Börding. | |
Nach ihren Angaben kommt heute die Hälfte der Frauen, die einen | |
Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen, aus Niedersachsen, weil dort | |
die Versorgungslage weiterhin schlecht ist. Bis 1990 waren es noch zwei | |
Drittel. | |
Nach Holland fahren übrigens immer noch Frauen. Im Jahr 2017 waren es nach | |
Angaben des niederländischen Gesundheitsministeriums 1.219 Deutsche, etwa | |
so viele sind es konstant seit 2005. Es ist wahrscheinlich, dass es sich | |
überwiegend um Frauen handelt, die nach der 14. Woche abbrechen müssen. | |
Offiziell gibt es dazu keine Aussage. | |
20 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.rijksoverheid.nl/documenten/rapporten/2019/01/02/jaarrapportage… | |
[2] /50-Jahre-Pro-Familia-in-Bremen/!5633707 | |
[3] /Schwangerschaftsabbrueche/!5640807 | |
[4] /Kommentar-Reform-Paragraf-219a/!5605783 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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