| # taz.de -- Die Wahrheit: Sodbrennen mit Omas Schlotze | |
| > Vorweihnachtszeit – auch die Zeit für Nostalgie: Wenn Großmütter zum | |
| > Beispiel wie früher Frankensteins Monster auf die Teller zaubern. | |
| Bild: Wo Deutsche Küche angeschrieben ist, marschiert auch gern einmal die Pol… | |
| Die Vorweihnachtszeit nutzen Menschen gern, um sich nostalgischen Gefühlen | |
| wie dem Sodbrennen hinzugeben. Das aber ist gar nicht so einfach, weil oft | |
| die gastronomischen Voraussetzungen fehlen. Spätestens mit meiner | |
| Großmutter mütterlicherseits ist doch die letzte bedeutende Interpretin der | |
| westdeutschen Nachkriegsküche von uns gegangen, die auch Desserts auf der | |
| Basis von Schweineschmalz konzipierte. | |
| Gemüse war nur zugelassen, wenn man es in Mehltunke ertränkte. „Und zuletzt | |
| noch einen Stich guter Butter“, hieß es bei meiner Oma, und schon war der | |
| Butterberg der EU, die damals noch EWG hieß, nur mehr halb so groß. | |
| Bis an ihr Lebensende vertrat meine Großmutter die Auffassung, dass eine | |
| einzige Mahlzeit genug Energie abwerfen muss, um ein paar Hungerjahre in | |
| russischer Kriegsgefangenschaft zu überstehen. Ihr Gerichte waren so | |
| schwer, dass ich die Gabel nur mit Mühe zum Mund heben konnte, aber genau | |
| dies galt als Beweis, dass ich noch nicht kräftig genug war, sodass ich | |
| umgehend mit Nachschlag rechnen musste: „Iss, Kind!“ | |
| Genau wie Frankensteins Monster hatte das Essen meiner Großmutter keinen | |
| Namen. Es hieß nicht mal Suppe oder Eintopf, sondern war namenloses Grauen, | |
| eine graubraune Schlotze, in der Graupen, Raupen oder Schrauben dümpelten, | |
| so genau konnte man das nicht erkennen. Nur einmal ging meine Mutter in die | |
| Küche, hob den Deckel und sagte mit Blick auf das Hühner-Massaker: „Na, | |
| gibt’s heute wieder ‚Ausgebombt?‘“ | |
| ## Komm doch mit auf den Fe-ettberg! | |
| Meine wortkarge Oma nickte, denn so war sie drauf, die Kriegsgeneration. | |
| Statt sich die Traumata beim Analytiker von der Seele zu reden, hat meine | |
| Oma den ganzen Wahnsinn Tag für Tag am Herd nachgestellt. Joseph Beuys | |
| rümpelte die Museen mit seinen Fettbergen voll, meine Oma hat sie gekocht. | |
| Um die fußballgroßen Talgknödel aufzulösen, die sich in den Mägen bildeten, | |
| wurde Kaffee eingesetzt. Der war jedoch kein verdauungsförderndes Getränk, | |
| sondern rituelle Selbstbestrafung, mit der man sich die Kriegsschuld aus | |
| den Eingeweiden ätzte. Dieser angeblich „gute Bohnenkaffee“, den meine Oma | |
| in Wahrheit aus Eicheln und Teerklumpen zusammenkloppte, wurde erst | |
| serviert, wenn er auf der Warmhalteplatte zu bitterem Sirup verschmurgelt | |
| war. Man konnte literweise Dosenmilch reingießen, doch blieb er ein | |
| schwarzes Loch in Tassenform, das alles Licht aus der Welt und alle vier | |
| Klappen aus den Herzen fraß. | |
| Heute dagegen stehen an jeder Ecke Vollidioten an arabicagefüllten | |
| Vollautomaten und das gutbürgerliche Fettflächenbombardement ist bloß noch | |
| in verwilderten Dorfgasthöfen aufgegebener Landstriche wie Niedersachsen zu | |
| erleben, aber selbst dort wird mitunter gar nicht mehr mit Schweröl | |
| frittiert. Damit die Sehnsucht der Bevölkerung nach dem Nostalgiegefühl | |
| Sodbrennen trotzdem gestillt werden kann, hat die Bundesregierung | |
| Weihnachtsmärkte ins Leben gerufen, die mit Fettreserven aus dem Kalten | |
| Krieg arbeiten. Ein einziger Bissen der dort gereichten Speisen genügt, um | |
| das Weihnachtsgefühl in der Speiseröhre so heimelig brennen zu lassen wie | |
| Kerzen auf dem Adventskranz. | |
| Oma übrigens war nie auf einem dieser Weihnachtsmärkte, vermutlich weil sie | |
| ahnte, dass man in den Fritteusen das alte Fett von Joseph Beuys | |
| wiederverwendete. Und von Kunst musste sie immer aufstoßen. | |
| 3 Dec 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Bartel | |
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