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# taz.de -- Die Wahrheit: Gäste zum Auswildern
> Zu Aufrechterhaltung der geistigen Gesundheit ist die Einrichtung einer
> kleinen Kammer unerlässlich. Gerade wenn Besuch kommt.
Bild: Schnell zum Shopping – die Preise purzeln.
In meiner Abstellkammer sitzt Besuch und kratzt an der Tür. Das ist aber
nichts Ungewöhnliches, denn ich bin Teilzeittrappist und mag mich tagsüber
nicht gern unterhalten. Deswegen sperre ich Besuch, der unangemeldet auf
einen Plausch vorbeikommt, erst einmal in meine Abstellkammer.
Diese Geste soll bedeuten: „Lieber Gast. Danke für dein
Kommunikationsangebot, gerade passt es nicht, aber ich komme später gerne
darauf zurück.“ Es ist nämlich wichtig, dass man andere Menschen
respektvoll behandelt und ihre Bedürfnisse ernst nimmt. Sonst gilt man
schnell als wunderlich und wird sozial geächtet.
Über die Jahre habe ich sogar gelernt, Menschen als Bereicherung in meinem
Leben zu akzeptieren, besonders, wenn sie Kuchen und Wein mitbringen. Ich
würde ohnehin niemandem raten, ohne Kuchen und Wein bei mir anzutanzen,
denn allzu oft gerät so ein Kammergast in Vergessenheit und muss für einige
Zeit ohne meine Gesellschaft auskommen, weil ich aus Gründen der
Seelenhygiene ein paar Tage oder Wochen maulend im Bett zu verbringen habe,
weil zum Beispiel Januar, Steuer oder Schneeregen ist.
Um dem geschätzten Gast die Wartezeit ein wenig zu versüßen, habe ich meine
Abstellkammer äußerst wohnlich gestaltet. Eine Glühbirne an der Decke sorgt
für festliche Stimmung, ein Schemel lädt zum Verweilen ein. Mit ihrem
stimmungsvollen Baldachin aus Spinnweben und dem flauschigen Teppich aus
naturbelassenen Wollmäusen ist die Kammer vielleicht sogar der prächtigste
Raum meiner Wohnung.
Außerdem erzählen zahlreiche Inschriften an den Wänden von spannenden
Begegnungen und herzergreifenden Schicksalen. So manches Paar hat sich in
meiner Kammer erst recht kennen und lieben gelernt. Ganze Romane sind in
dieser Kammer entstanden, zum Beispiel „Der Graf von Monte Christo“ und
„Hundert Jahre Einsamkeit“.
Es ist nicht besonders schwer, den Besuch in die Kammer zu locken, weil
meine Wohnung ziemlich klein ist. Im Grunde ist es mit bloßem Auge kaum
möglich, Wohnzimmer von Abstellkammer zu unterscheiden.
Manchmal bin ich selber unsicher. Aber ich habe ein paar Faustregeln
aufgestellt: Wenn Besuch drin sitzt, ist es meist die Abstellkammer. Ist
der Besuch betrunken, hatte er immerhin Wein mitgebracht und darf deswegen
im Wohnzimmer sitzen. Bin auch ich betrunken, ist es oft gar nicht meine
Wohnung.
Ich lausche dem Kratzen an der Kammertür, es klingt wie übrig gebliebener
Besuch aus dem letzten Jahr. Ist es der Jesus-Typ, die Halloweenkinder, die
Paketboten der Weihnachtszeit oder gar Mutter? Nein, es muss der
Direktvertriebler sein, der frühmorgens geklingelt hatte, um über
Energieversorgertarife zu plaudern. „Stromtyp?“, rufe ich dem Gast zu.
„Bist du noch da?“ Er ist in der Tat noch da, und die lange Zeit der
inneren Einkehr hat ihm gutgetan. „Kann man nicht einmal seine Ruhe
haben?“, faucht er. Ich glaube, ich kann den kleinen Racker bald
auswildern.
24 Jan 2020
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Kommunikation
Wohnen
Energieversorgung
Kolumne Die Wahrheit
Konsum
Schwerpunkt Coronavirus
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Ulm
Joseph Beuys
Zwarte Piet
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