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# taz.de -- Die Wahrheit: Bußkreuzfahrt mit dem Erznavigator
> Es macht sich apokalyptische Stimmung breit: Zu Besuch auf den
> Urlaubsdampfern, die wegen des Coronavirus unter Quarantäne stehen.
Um elf Uhr trifft sich die Bußgruppe zur Abtötung des Fleisches im
Wellnessbereich. Im Zentrum der heutigen Kasteiung stehen Übungen zur
Stärkung des Rückenbereichs“, tönt eine einschmeichelnde Stimme über die
Bordlautsprecher der „MS Sic Transit Gloria Mundi“, doch Werner Simmering
zuckt zusammen, als habe ihn ein Peitschenhieb getroffen.
Schon seit 40 Tagen und 40 Nächten ist der Rentner auf See, dabei hatte er
bloß 14 Tage Kreuzfahrt von Dubai bis Singapur gebucht. Doch mittlerweile
hat Simmerings Schiff sämtliche Küsten Südostasiens abgeklappert, ohne
einen einzigen Hafen anlaufen zu dürfen. Die nervösen Behörden vermuten das
ansteckende Coronavirus an Bord. Manche Regierungen haben sogar gedroht,
den potenziell infektiösen Pott mit Mann und Maus zu versenken, wenn er in
ihre Hoheitsgewässer eindringt.
Die Entbehrungen der letzten Wochen haben Spuren bei den Touristen
hinterlassen. Überhaupt keine Spuren hat dagegen die Besatzung
hinterlassen, als sie sich vor Macao bei Nacht und Nebel in den
Rettungsbooten absetzte. Seither schieben die Kreuzfahrer selbst Dienst auf
der Brücke und im Maschinenraum, aber das ist nicht das Schlimmste.
„Sie haben uns auf halbe Ration gesetzt“, klagt Simmering, dessen Gesicht
zwar braungebrannt ist, dessen Wangen jedoch längst eingefallen sind. „Aber
erst, nachdem sie einen Riesenhaufen Fressalien beim Autodafé verbrannt
haben.“
„Sie“, das meint die neue Führungsclique um den Bordgeistlichen Bernd
Rottmann, der nach einer Epiphanie die Macht auf dem Schiff an sich
gerissen hat. Der Herr sei ihm in Gestalt eines flammenden Halsschmerzes
erschienen, so geht die Legende, die Rottmann als Traktat an Bord verteilen
lässt, und habe seinem Lieblingsjünger verkündet, das teuflische
Wuhan-Virus sei als Strafe über alle Kreuzfahrer gekommen, die statt des
Gekreuzigten die goldene Kalbshaxe auf dem Buffet angebetet, auf Erlösung
durch das All-inclusive-Bändchen gehofft und sich beim Shanty-Abend
„Melodien der Meere“ einem Unterhaltungskonzept aus der Hölle hingegeben
hätten.
## Schauprozesse auf Achterdeck
In Wahrheit hatte sich der Schiffskleriker wohl nur eine mittelschwere
Marienerscheinung infolge einer Kolik nach dem Captain’s Dinner zugezogen,
doch gilt diese Meinung mittlerweile als schwere Häresie und zieht einen
der beliebten Schauprozesse nach sich, die sonntags nach der Andacht auf
dem Achterdeck veranstaltet werden. Dort hat man auch den Kapitän
verbrannt, nachdem Rottmann ihn bei der Wasserprobe im Pool als
Antichristen (schwimmt oben) überführte, der die Seuche mit seinem
frevelhaften Kurs überhaupt erst über das Schiff gebracht hat. Die
geografisch wie theologisch unerfahrenen Touristen missdeuteten das
Spektakel noch als vollkommen harmlose Äquatortaufe.
„Wir sind der Aussatz der Weltmeere, der wie schwefliger Schaum auf den
Wellen dümpelt“, donnerte Rottmann den Pauschalurlaubern später im großen
Theatersaal auf dem Seestern-Deck entgegen. „Wir säen nicht, wir ernten
nicht, und wir kaufen nichts außer Kühlschrankmagneten. Dafür scheißen wir
alles zu und gucken die Topdestinationen kaputt. Unsere Hoffart erzürnt den
Herrn. Kehrt um, Brüder Passagiere! Denn das Himmelreich ist nahe.“
Die bass erstaunten Touristen, die zur Abendunterhaltung den beliebten
Talentschuppen erwartet hatten, applaudierten höflich und verhalfen dem
theokratischen Schreckensregime des „Erznavigators“ damit überhaupt erst
zur Akklamation. Seither drängt Rottmann, den eine ungustiöse Geschichte im
Heimatsprengel zur christlichen Seefahrt trieb, auf tätige Reue, um den
göttlichen Fluch vom Schiff zu heben.
Aller Müßiggang ist verboten, das Showprogramm an Bord wurde umgehend
eingestellt. Die von Provinzbühnen abgeworbenen Sänger geben nicht länger
beliebte Musical-Melodien, sondern düstere Corona-Choräle zum Besten.
Täglich trifft man sich zur öffentlichen Selbstkritik auf dem
Korallen-Deck, heute erwischt es ein fülliges Paar aus dem Hessischen.
„Ich war kein bisschen an Land und Leuten interessiert und habe sämtliche
Landausflüge verpennt“, bekennt ein Mittfünfziger mit Walrossbart
pflichtschuldig. „Ich habe jeden Tag drei Kilo Mousse au Chocolat in meiner
Handtasche vom Buffet in die Kabine geschmuggelt“, beichtet die Gattin.
Darüber hinaus weigert sich der Gottesmann beharrlich, für die entstandenen
Urlaubsmängel zu haften. „Der Herr wird es euch vergelten“, pariert er
Regressforderungen vorwitziger Gäste, die er anschließend zum Strafdienst
an den Rudern verurteilt. Seit der Schiffsdiesel zur Neige geht, wird der
175 Meter lange Kahn hauptsächlich manuell bewegt. Das sei gottgefälliger,
behauptet Rottmann, der sich neuerdings nicht nur als „Steuermann Gottes“,
sondern auch als Inkarnation des Gottes Poseidon und „Schaumgeborener
Triton“ feiern lässt.
„Der Herr hat uns mit dem Makel geschlagen, weil wir unrein waren“,
behauptet Rottmann in einer seiner Predigten, die rund um die Uhr durch das
Schiff hallen. „Erst wenn wir rein werden wie die Fischlein im Ozean, wird
er uns in seiner Gnade aufnehmen.“
## Radieschen als Blendwerk
Werner Simmering fürchtet, dass der Erznavigator künftig nicht mehr bloß
auf die Maschinenkraft, sondern auf das Schiff als Ganzes verzichten
möchte, um den Fischlein nachzueifern – mitten im Südchinesischen Meer
keine allzu verlockende Aussicht für den Nichtschwimmer aus dem
niederrheinischen Mettmann.
Doch zunächst gilt es aktuellen Anfechtungen der Bußkreuzfahrt
auszuweichen. „Beim Auspeitschen war ich doch gestern schon“, versucht der
Rentner mit den Parteigängern Rottmanns zu verhandeln. „Kann ich nicht
lieber zum Gemüseschnitzen für Anfänger gehen?“ Ein asketischer Mann,
vormals Sozialkundelehrer in Niedersachsen, dessen Knotenstock ihn als
Chefanimateur an Bord ausweist, schüttelt den Kopf. „Muster in Radieschen
zu schneiden ist eitles Blendwerk, Bruder Passagier, das haben wir hinter
uns gelassen.“
Simmering zuckt resigniert mit den Schultern. „Genau wie Daunenbetten, aus
Handtüchern gefaltete Schwäne und fünf Mahlzeiten am Tag.“ Der Animateur
piekt ihm in den lappig gewordenen Wanst: „Es waren wohl doch eher sieben
oder acht“.
„Die Teilnahme an den Bußübungen ist verpflichtend“, perlt es daraufhin a…
den Boxen. „Siebenschwänzige Katzen können beim Chefsteward ausgeliehen
oder im Kreativworkshop auf dem Muschel-Deck aus Schiffstauen und
Glasscherben gebastelt werden.“
Kreativ geworden sind auch die Kegelfreunde vom Medusa-Deck, die vor Wochen
in Thailand von Bord gehen sollten. In heimlicher Bastelarbeit haben sie
ein Boot aus allen Plastikstrohhalmen geflochten, die an Bord aufzutreiben
waren. Um Mitternacht soll es zu Wasser gelassen werden. „In ein paar Tagen
sind wir an Land. Was soll da schon schiefgehen?“, fragt einer der
Floßbauer vom Medusa-Deck.
22 Feb 2020
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Kreuzfahrt
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Kommunikation
Ulm
Joseph Beuys
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